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1. Politische Programmatik und gesellschaftliche Megatrends auf dem Weg in die Informationsgesellschaft

Der Aufbruch in die Informationsgesellschaft scheint unwiderruflich begonnen zu haben. Politische Handlungsstrategien lassen erkennbar werden, wie dieser Weg von den Regierungen auf der nationalen, europäischen und auch weltweiten Ebene unterstützt und forciert wird.

Die Gesellschaft scheint sich derzeit erheblich zu verändern. Immer wieder werden sogenannte Megatrends definiert, die versuchen, den vielfältigen Wandel in plakative und überzeugende Begriffe zu kleiden. Zum Verständnis, unter welchen Bedingungen der Umbau zur Informationsgesellschaft stattfindet, müssen daher die Konsequenzen drei der wichtigsten Megatrends - Informatisierung, Internationalisierung und Individualisierung - diskutiert und ihre ersten, sichtbaren Konsequenzen aufgezeigt werden.

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1.1 Der Intercity in die Informationsgesellschaft: die politischen Weichenstellungen

Der Start in das Informationszeitalter hat international und national zahlreiche Aktivitäten ausgelöst: Europäische Union, G-7-Treffen, Bundestag und Landesregierungen beraten und verabschieden schon die ersten operativen Programme und stellen damit die politischen Weichen für die Informationsgesellschaft. Das Transformationstempo soll mit politischen Initialzündungen beschleunigt werden, der Intercity in die Informationsgesellschaft zügiger vorangekommen. Dieses Vorhaben kennzeichnet die Absichtserklärungen und programmatischen Handlungskonzepte der Politik. Verschiedene Etappen markieren stellvertretend die Umsetzungsschritte dieses politisch gesteuerten Umbauvorhabens.

Die Informationsgesellschaft wird zweifellos nicht nur eine europäische, sondern eine globale Gesellschaftsform werden. Im Frühjahr 1995 verständigten

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sich deshalb die Staatschefs der sieben größten Wirtschaftsnationen auf gemeinsame Prinzipien und Pilotprojekte zur Förderung der Informationsgesellschaft, und im Februar 1996 sind von der G-7 Fachministerkonferenz folgerichtig die Voraussetzungen für Pilotprojekte auf verschiedenen informationstechnischen Anwendungs- und Entwicklungsfeldern geschaffen worden.

Im europäischen Wirtschafts- und Sozialraum versucht besonders die Kommission der Europäischen Union eine strategische Rolle als Promoterin der Informationsgesellschaft zu übernehmen. Das Weißbuch der EU-Kommission weist die Informationstechnologie bereits Anfang der neunziger Jahre als eine tragende Säule der europäischen Industriepolitik aus, an die hohe wirtschaftspolitische Ansprüche und gesellschaftspolitische Erwartungen gestellt werden:

„Die Politik der Gemeinschaft zur Schaffung eines gemeinsamen Informationsraums verstärkt den Wettbewerb und erhöht die Konkurrenzfähigkeit Europas. Sie schafft neue Arbeitsplätze und sollte einhergehen mit speziellen Maßnahmen, durch die der Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft erleichtert wird und jeder Bürger einen seiner Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz erhält." (Weißbuch der EU-Kommission „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung: Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert, Luxemburg 1993.)

Die Informationsgesellschaft avanciert in dem Verständnis der Europäischen Kommission für die hochindustrialisierten Ländern durchaus zu einem Kernstück ihrer Entwicklung im 21. Jahrhundert. Die Informationsgesellschaft wird in einem äußerst optimistischen Lichte bewertet - fast schon als eine Art Wunderwaffe gegen die heutigen Probleme hochindustrialisierter Gesellschaften wie der Arbeitslosigkeit.

Erste operative Vorschläge zu den dazu notwendigen politischen Weichenstellungen wurden mit dem sogenannten Bangemann-Bericht „Europa und die globale Informationsgesellschaft" unterbreitet, der dem Europäischen Rat im

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Juni 1994 vorgelegt wurde. Der Aktionsplan der Kommission für „Europas Weg in die Informationsgesellschaft" aus demselben Jahr enthält, gestützt auf die Arbeitsergebnisse der Bangemann-Gruppe, die ersten konkreten Anwendungsbereiche. Zu den förderungswürdigen experimentellen Anwendungen zählen: Telearbeit, Fernlernen, ein europäisches Forschungsnetzwerk für Hochschulen und Forschungszentren, Telematikdienste für kleinere und mittlere Unternehmen, elektronikbasiertes Straßenverkehrsmanagement, elektronikgestützte Flugsicherung, transeuropäische Netze für Gesundheitswesen und öffentliche Verwaltungen, Informationsschnellstraßen für Städte. Die Intention, den Strukturwandel von Arbeit im Sinne der vielversprechenden Chancen der Informationsgesellschaft zu beschleunigen, zeigt sich auch beispielhaft an dem von der DG XII unterstützten europäischen Event zum Thema Telearbeit im November 1996 mit Wochenveranstaltungen in Wien, London und Bonn. Mit diesem europäischen Event wurde der Promotionseffekt verfolgt, die Vorteile, die diese neuartige Arbeitsform Unternehmen und Beschäftigten bietet, europaweit vorzustellen.

Auch die deutsche Bundesregierung stellte Mitte Februar 1996 - nach Ansicht politischer Kontrahenten im europäischen Vergleich etwas verspätet - mit ihrem Bericht „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" ihre Vorstellungen zur Gestaltung des deutschen Weges in die Informationsgesellschaft der Öffentlichkeit vor. In diesen Bericht sind auch die Vorstellungen und Interessen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen sowie die Vorarbeiten der Europäischen Union und der G-7-Staaten eingeflossen. Der Bericht der Bundesregierung schlägt dementsprechend die Förderung und die Initiierung von Projekten auf folgenden Anwendungsfeldern vor: Telearbeit, Telekooperation, Telematik für mittelständische Unternehmen, Anwendungen in der Produktion, vernetzte Kommunikation für Bildung und Wissenschaft, Telematikanwendungen im Verkehr, ein integriertes Bundesumweltinformationssystem sowie die verschiedensten Anwendungen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im privaten Bereich.

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Die aktuelle Fortschreibung der Initiativen auf der europäischen Ebene, aber auch die Programmatik der Bundesregierung finden indes nicht mehr stets bei allen gesellschaftliche Akteuren uneingeschränkte Zustimmung. Gegenüber dem noch unter dem Präsidenten Jacques Delors verfaßten Weißbuch der EU-Kommission zeichnet sich z.B. nach der Auffassung von gewerkschaftlichen Beobachtern gegenwärtig eine Prioritätensetzung in den politischen Handlungsstrategien ab, die letztendlich darauf hinauszulaufen scheint, vor allem die ökonomischen Chancen für die Wirtschaftsstandorte Deutschland und Europa zu pointieren und weniger die sozialen (und auch ökologischen) gesellschaftlichen Nutzeffekte zu diskutieren. Nach der Problemsicht der DAG kommt es aber ebenso darauf an, auf dem Weg in die Informationsgesellschaft auch gesellschaftliche Interessen aufzugreifen, die zur Verwirklichung der Ziele der Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik beitragen.

Von hoher Bedeutung ist es,

  • eine informationelle Grundversorgung der Bürger zu gewährleisten und eine Diskriminierung beim Zugang zu neuen Systemen und Diensten auszuschließen,

  • eine ausreichende Informationsvielfalt sicherzustellen,

  • dem besonderen Schutz kultureller und demokratischer Werte Rechnung zu tragen,

  • den Schutz personenbezogener Daten und der technischen Sicherheit der Information zu garantieren sowie den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht zu politischen Zwecken auszuschließen.

Jede einseitige Verselbständigung politisch-strategischer Förderungsmuster sollte also in das gesamte gesellschaftspolitische Zielspektrum, das mit der Informationsgesellschaft umgesetzt werden soll, zurückgeholt werden.

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Gleichsam aktiv sind aber auch die Bundesländer. Sie entwickeln ihre landeseigenen Programme. Ein Beispiel für landespolitische Strategien sind die Initiativen der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Die Initiative „media NRW" stellt ein größeres Vorhaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr dar, das die vielfältigsten Erscheinungsformen der Informationsgesellschaft wie Telearbeit, Teleteaching, Telemedizin und electronic city umfaßt.

Telearbeit zählt im Rahmen dieser Initiative zu den neuen innovativen Arbeitsformen, die die Arbeitswelt von morgen grundlegend verändern könnten. Einige Begleit- und Gestaltungsprojekte aus der nordrhein-westfälischen Initiative führt neben anderen Institutionen die TA Telearbeit GmbH, die von den Projektteilnehmern GDE und ExperTeam Telecom gegründet wurde, auf der Grundlage dieser Programmatik durch. Die TA Telearbeit GmbH beschäftigte sich mit einem der größten deutschen Projekte zur Erprobung von Telearbeit, dem Feldversuch „Das virtuelle Büro - Telearbeit in NRW." Die Projektidee und die Hauptziele richten sich auf die

  • breite Einführung von Telearbeit durch Beteiligung der Wirtschaft,
  • Beteiligung auch von kleinen und mittleren Firmen,
  • Entwicklung branchenspezifischer Szenarien,
  • Erprobung von Organisation und Technik,
  • Wirtschaftsförderung durch Telearbeit,
  • Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen,
  • Public-Relations-Strategien, z.B. durch „star-cases" für die gelungene Umsetzung alternativer Arbeitsformen, insbesondere auch für kleinere und mittlere Unternehmen.

Das übergeordnete Ziel des Projektes besteht darin, empirische Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Einsatzformen von Telearbeit (wie Satellitenbüros, Telecenter) nicht nur unter organisatorischen, wirtschaftlichen und technischen, sondern auch unter z.B. arbeitsmedizinischen und psychosozialen

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Kriterien zu sammeln. Der nordrhein-westfälische Feldversuch ist also auch ein Ansatz, ökonomische Vorteile neuer Arbeitsformen mit Sozialverträglichkeitskriterien anzureichern. Zum Anwendungsumfeld von einzelnen Branchenteilprojekten gehören u.a. die produzierende Industrie und Dienstleistungsunternehmen, aber auch Architekten- und Ingenieurbüros sowie öffentliche Verwaltungen. Insgesamt ist die Einrichtung von 1.000 Telearbeitsplätzen geplant.

Der Blick auf die breite Palette der operativen Anwendungen und die Förderung des „Fallbeispiels Telearbeit" zeigt zusammengefaßt, wie heute der Versuch unternommen wird, die Potentiale neuer Informationstechnologien Industrie- und wirtschaftspolitisch zu nutzen. Davon versprechen sich die politischen Akteure mehr indirekte arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische (Entlastungs-) Effekte. Inwieweit dies gerechtfertigt ist oder welche zusätzlichen inhaltlichen Weichen auch politisch gestellt werden müssen, zeigen erst empirische Untersuchungen zum Stand und Szenarien zur Zukunft der Informationsgesellschaft. Dabei ist zunächst genau zu beobachten, welche neuen Arbeitsformen sich in der Informationsgesellschaft überhaupt und vor allem unter welchen Voraussetzungen entwickeln können und wie ihr Beitrag zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen - wie dem zentralen Problem der Massenarbeitslosigkeit - aussehen könnte. Eine Bewertung des gegenwärtigen Zustandes der Gleise, die unter heutigen Bedingungen in die Informationsgesellschaft führen, macht besonders deutlich, daß dieses Ziel wahrscheinlich nur dann erreicht werden kann, wenn auch neue Beschäftigungsutopien entwickelt und einige alte Vorstellungen über Bord geworfen werden.

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1.2 Transformationsprobleme von Arbeit beim Übergang in die Informationsgesellschaft: ein Plädoyer für neue Beschäftigungsutopien

Arbeitsmarktexperten wie Werner Dostal vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit vermögen schillernde politische Visionen auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen. Um dies zu tun, müssen diejenigen Megatrends unter die Lupe genommen werden, die den gesellschaftlichen Wandel begründen und erklären können. Wie er in diesem Sinne deutlich machte, stecken zunächst zwei Entwicklungen das Terrain ab, auf dem sich die Informationsgesellschaft bewegt. Informatisierung und Internationalisierung sind die zentralen Megatrends, hinter denen sich spezifische Thesen und Grundannahmen über die Entwicklungsrichtung der Informationsgesellschaft verbergen. Sie gehen einher mit einem dritten Megatrend der Individualisierung, der nicht nur die Lebenssituation der Beschäftigten, sondern auch ihre Interessenartikulationsmöglichkeiten verändert. Diese drei Megatrends ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Diskussion über Risiken und Chancen der Informationsgesellschaft und sie beschreiben ein spezifisches Szenario der Informationsgesellschaft im
21. Jahrhundert. Dieses prägt teilweise schon heute die gesellschaftliche Realität, zumindest sind aber einige seiner Grundzüge erkennbar.

Megatrends beim Aufbruch in die Informationsgesellschaft

Mit der fortschreitenden Informatisierung nimmt auch die Komplexität der Gesellschaft insgesamt zu. Für den Megatrend Informatisierung gibt es inzwischen ausreichende Anzeichen. Der steigende Informatisierungsbedarf spiegelt sich etwa darin wieder, daß schätzungsweise etwa die Hälfte der Erwerbstätigen schon heute in den sogenannten Informationsberufen tätig sind. Die Informationsgesellschaft erscheint zumindest vor diesem Hintergrund schon verwirklicht, und vielleicht sogar mehr als die (vieldiskutierte) Dienstleistungsgesellschaft. Diesen Trend gibt eine Erweiterung des alten 3-Sektoren-

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Modells (Produktion, Dienstleistungen, Landwirtschaft), das die Wirkungen der Informatisierung im Grunde nur unzureichend verdeutlicht, um ein 4-Sektoren-Modell wieder, das die Erwerbstätigen getrennt aufführt, die in ihrer Arbeitstätigkeit überwiegend Informationen verarbeiten. Diese erweiterte Modellbetrachtung wird auch von der OECD unterstützt, denn der Informationssektor ist eine relativ einfache Kenngröße zum Vergleich von nationalen Volkswirtschaften bis hinunter zur regionalen Ebene (Bundesländer, kleinere Regionen). Danach ergibt sich folgendes Bild:

Der häufig verwendete Indikator „Nutzung von Technik am Arbeitsplatz" zur Kennzeichnung von Informationsgesellschaften sagt nur begrenzt etwas darüber aus, ob die Tätigkeit überwiegend informationsbezogen ist. Dies ermöglicht erst die analytische Abtrennung der informationsbezogenen Elemente in den Arbeitsvollzügen wie sie mit dem obigen Entwicklungsmodell durchgeführt wurde. Das 4-Sektoren-Modell Produktion, Dienstleistungen, Landwirtschaft und Information geht davon aus, daß sich bei neuen Formen der Arbeitsteilung die informationsbezogenen Elemente von Arbeit - wie schon früher bei der Trennung von Hand- und Kopfarbeit - abtrennen lassen werden. Durch neue Techniken wird „Denkarbeit" mechanisiert und in künstliche Intelligenz transformiert. Unter diesen Voraussetzungen führt die Interpretation des erweiterten 4-Sektoren-Modell zu folgendem Ergebnis.

Die Informationsverarbeitung (über Computer) hat die Verschiebung des Arbeitsvolumens in die vorbereitenden und begleitenden Informationsprozesse verstärkt und gleichzeitig rationalisiert. Seit dem Zeitraum (d.h. den siebziger Jahren), als sich die Informationstechnik bekanntlich als Rationalisierungstechnik entwickelt hat, führt der Rationalisierungsschub der neuen Techniken nicht zu einer Reduzierung der Beschäftigung im Informationssektor, denn mit der wachsenden Komplexitätssteigerung geht eine überproportionale Steigerung des Informationsaufwandes einher. Das Beschäftigungsvolumen nimmt in diesem vierten Sektor deshalb trotz der allgemeinen, beschäftigungssenkenden Rationalisierungstrends zu. In diesen Tätigkeitsbereichen besteht zudem Grund zu der Annahme, daß die Arbeit, die dort geleistet wird, auch zu-

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Abbildung / Strukturwandel der Arbeit 1882-2010 Bild vergrößern

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nehmend komplexer und das Arbeitskräftepotential durch die abstrakte Informationsverarbeitung formal höherqualifiziert wird. Das 4-Sektoren-Modell bekräftigt auf diese Weise den Megatrend der Informatisierung. Unterstellt, daß die Annahmen des Modells tragfähig sind, so könnte also sogar schon heutzutage durchaus von einer Informationsgesellschaft gesprochen werden.

Mit der Informatisierung der Arbeitswelt schreitet gleichzeitig die Internationalisierung bzw. Globalisierung der Gesellschaft voran. Warenströme fließen schon längst weltweit. Die Informationstechniken untermauern durch die Globalisierung der Informationsströme diesen Megatrend. Im Verbund zwischen Informations- und Warentransport ist die gesamte Welt versorgbar. Die Märkte sind weltweit größer geworden und werden von einer höheren Zahl von Anbietern und Nachfrager genutzt. Die Informatisierung hat diese Globalisierung nicht nur verstärkt, sondern erst praktikabel gemacht. Damit ergeben sich zugleich internationale Konkurrenzsituationen nicht nur für Waren und Dienstleistungen, sondern auch für Arbeitskräfte, Infrastrukturen, Sozialsysteme und Produktionsstrukturen. Telekommunikation und grenzüberschreitende Telearbeit öffnen nationale Arbeitsmärkte für eine weltweite Zusammenarbeit, aber auch für eine Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften. Arbeitskräften in Deutschland stehen globale Arbeitsangebote zur Verfügung, Arbeitskräften im Ausland wird der deutsche Arbeitsmarkt zugänglicher.

Den gewissermaßen Kontrapunkt zur Globalisierung des Arbeitskräfteangebots bildet die gleichzeitige Individualisierung der Erwerbstätigen als der dritte Megatrend der Informationsgesellschaft. Die Informatisierung reduziert das Volumen an notwendigen kollektiven Arbeitszusammenhängen, bei denen Beschäftigte in Gruppen zeitlich und örtlich (d.h. im Betrieb) relativ gleichförmige Aufgaben gemeinsam erfüllen. Die Aufgaben bzw. Tätigkeiten werden mehr und mehr individualisiert, Arbeit wird unregelmäßiger und mit ihnen auch die Arbeitsverhältnisse und Beschäftigungsformen, die nunmehr individuell ausgehandelt und aufgabenspezifisch gestaltet werden müssen. Daraus entstehen atypische Arbeitsverhältnisse und neue Erwerbsbiographien. Die

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drei Megatrends sind zusammengenommen ein erster Zugang und ein Problemaufriß zur Informationsgesellschaft.

Erosion traditioneller Formen von Erwerbsarbeit

Die Problemlagen beim Übergang in die Informationsgesellschaft speisen sich vor allem aus zwei Quellen. Zum einen wird der Weg in die Informationsgesellschaft vor dem Hintergrund anhaltend hoher Arbeitslosigkeit beschritten. Zum anderen bestimmen Erfahrungen und Strukturen der Vergangenheit heute die Formen, Inhalte und Bewertungen der (abhängigen) Erwerbsarbeit. Damit sind die immanenten Bruchstellen zwischen heutigen Erwerbsstrukturen und denjenigen der Informationsgesellschaft skizziert, die vielleicht zu einer anderen Arbeitsgesellschaft führen wird.

Arbeitslosigkeit wird auch ein „Makel" der Informationsgesellschaft sein, wenn nicht versucht wird, das zur Verfügung stehende gesellschaftliche Arbeitsvolumen alternativ zu nutzen bzw. unter der Erwerbsbevölkerung anders zu verteilen. Dem scheinen jedoch gesellschaftliche Wertvorstellungen und berufliche Sozialisationsmuster der Menschen im erwerbsfähigen Alter gegenüberzustehen. Sie sind Produkte aus Vollbeschäftigungszeiten. Die Entwicklung der Arbeitslosenquoten liefert dazu empirische Belege:

Heute wird nicht selten argumentiert, daß die Arbeitslosigkeit ähnlich hoch wie in den dreißiger Jahren läge. Dies stimmt indes nur bedingt. Obschon die absoluten Zahlen vergleichbar sind, trifft dies nicht auf die Arbeitslosenquote zu. In den neunziger Jahren ist die Erwerbsquote angestiegen und die Bevölkerungszahl hat zugenommen, so daß sich die Arbeitslosenquote in etwa auf dem Niveau der Nachkriegszeit bewegt. Sie beträgt damals wie heute zwischen 9-10%. Dazwischen liegt eine Periode der Vollbeschäftigung mit einer Arbeitslosenquote um 1-2%, die aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Episode in der Geschichte der Arbeitsmarktentwicklung bleiben wird.

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Diese Vollbeschäftigungsphase prägt jedoch die heutigen Einstellungen zur Erwerbsarbeit und die Sichtweisen zum Geschehen auf dem Arbeitsmarkt. Werthaltungen aus der Vollbeschäftigungszeit zeigen ein erhebliches Beharrungsvermögen. So wird die hohe Arbeitslosigkeit immer noch als eine Art Unfall und vorübergehende Erscheinung interpretiert, die Rückkehr in die Vollbeschäftigung erscheint zumindest annäherungsweise als möglich. Davon zeugen nicht nur politische Sonntagsreden. Die Erwerbsbereitschaft der Bevölkerung liegt insgesamt hoch, gesellschaftliche Integration und Wertschätzung des einzelnen wird primär über eine abhängige Beschäftigung realisiert. Das heißt im Ergebnis: Arbeit wird nach dem alten Vollbeschäftigungsmodell definiert. Dies beinhaltet (zugespitzt) unter dem Blickwinkel der heutigen Organisation von Arbeit gleich mehreres:

  • Innerhalb einer bestimmten Altersphase sollten alle Bürger, abgesehen von z.B. Kindererziehungszeiten, erwerbstätig sein. Ein zeitweiliger Ausstieg aus der Erwerbsarbeit ist nicht vorgesehen, normale Erwerbsbiographien beruhen auf diesem Kontinuitätsprinzip.

  • Statuszuordnungen und eine Qualifikationspyramide (mit entsprechenden Privilegien) führen dazu, daß eine unterwertige Beschäftigung als persönliches Versagen bewertet wird. Die vom Arbeitsmarkt eigentlich geforderte Kompromißbereitschaft bewirkt eine häufig nicht wieder revidierbare berufliche und soziale Abstufung, Flexibilität kann sich in diesem Sinne also durchaus rächen. Erwerbsarbeit begründet somit ein gesellschaftliches Selektionskriterium und damit ein Segmentationsprinzip.

  • Alternative Lebensrollen werden nur in Ausnahmefällen toleriert. In den meisten Fällen besteht dagegen die Gefahr, bei einem Ausstieg aus der Erwerbsarbeit die gesellschaftliche Einbindung zu riskieren. Erwerbsarbeit beruht auf dem Prinzip der sozialen Einbindung und die Arbeitsstätte ist zumeist auch ein Ort sozialer Integration und Kommunikation. Die Vollbeschäftigungszeit hat, neben anderen lebensweltlichen Faktoren, darüber hin-

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Arbeitslosenquoten in Deutschland, ab 1945 - WestdeutschlandBild vergrößern

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aus zum Verlust an Kommunikationsmöglichkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit beigetragen (durch den Bedeutungsverlust von Wohnumfeld, Familie etc.).

  • Der Zwang zur Erwerbsarbeit wird durch ein nur durch sie zugängliches System der sozialen Sicherung gestützt mit der Konsequenz, daß ein längerfristiger Ausstieg aus der Erwerbsarbeit (auch wenn Nicht-Erwerbsarbeit wie Haushalt, Pflege von Familienangehörigen geleistet wird) gleichbedeutend mit einem weitgehenden Verzicht auf soziale Sicherung ist.

  • Infolge steckt das sogenannte „Normalarbeitsverhältnis" in den Köpfen der erwerbsfähigen Bevölkerung. Zu diesem gehört auch das Idealbild einer abhängigen, unbefristeten Arbeit außerhalb der Wohnstätte, auf der Grundlage einer Berufsausbildung und mit einer Normalarbeitszeit, die tagsüber und an den Werktagen abgeleistet wird.

Der eigentliche „Bedarf an Erwerbsarbeit" ist dagegen bei den einzelnen Menschen je nach Lebenslage durchaus unterschiedlich und die tatsächliche Menge von Arbeit in einer Gesellschaft ist demgegenüber nahezu unbegrenzt. Rechnet man abhängige und selbständige Arbeit zusammen, so gelangt das statistische Bundesamt in der Gegenüberstellung von „gesellschaftlicher" Arbeit insgesamt und reiner Erwerbsarbeit beispielsweise zu dem Ergebnis, daß die klassische Erwerbsarbeit weit weniger dominant ist, als ihr gesellschaftlicher Stellenwert häufig suggeriert. Dieser Erhebung zufolge werden in Deutschland (alte Bundesländer) 77 Milliarden unbezahlte Stunden (vor allem hauswirtschaftliche Tätigkeiten, aber auch Pflege und Betreuung von Angehörigen, handwerkliche und ehrenamtliche Tätigkeiten etc.) geleistet, gegenüber 47 Milliarden Stunden bezahlter Erwerbsarbeit. Immerhin 8 Milliarden Stunden absorbiert darüber hinaus schon der tägliche Arbeitsweg.

Empirische Obergrenzen beruhen also auf der Definition und Organisation von Arbeit, wenn sie es eben nicht zuläßt, alternative Beschäftigungsmöglichkeiten entsprechend wahrzunehmen - gesellschaftlich anerkannt und sozial

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abgesichert. Dagegen tun Gesellschaften unstrittig gut daran, das zur Verfügung stehende Arbeitsvolumen auch zu nutzen. Arbeitszeitverkürzungen sind nur eine Möglichkeit dazu. Die Informationsgesellschaft zeigt dagegen, z.B. mit neuen Arbeitsformen, die mit den neuen Informations- und Kommunikationstechniken realisierbar wären, auch andere Möglichkeiten auf, das Arbeitsvolumen über die traditionelle Erwerbsarbeit hinaus auszunutzen.

Welche zusätzlichen Verschiebungen zwischen Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit denkbar sind, wie überkommene Arbeitsstrukturen zerbrechen und welche neuen Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Informationstechnik entstehen können, belegen allein die folgenden Beispiele in ausreichender Weise.

Verschiebungen von einem in den anderen Bereich, d.h. zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit haben im Zuge der Informatisierung zum Teil schon stattgefunden. Im Bankenbereich, im Versicherungswesen, aber auch im öffentlichen Dienst werden Dienstleistungen, die bisher personengebunden angeboten wurden, nunmehr über eine entsprechende Informationstechnik substituiert: beim Telebanking genauso wie z.B. in den Berufsinformationszentren der Bundesanstalt für Arbeit (die in Zukunft vielleicht nur noch virtuell im Internet und nicht mehr als Gebäude existieren). In diesen Fällen steckt die Informatisierung bereits in einem Zwischenstadium zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und unterstützt im Prinzip eine Deprofessionalisierung informationsbezogener Dienstleistungen.

Darüber hinaus zerbrechen bereits einige der alten Erwerbsstrukturen und werden durch andere Arbeitsstrukturen ersetzt. Nachweise dafür sind die Auflösung von betrieblichen Strukturen, die räumliche und zeitliche Entkoppelung von Arbeit durch ihre Virtualisierung, Unterlieferantenwesen, offene Arbeitsformen wie Teilzeitarbeit, Befristungen, Arbeitnehmerüberlassungen, Erwerbsarbeit unterhalb der Sozialversicherungspflicht, aber auch die sogenannte neue Selbständigkeit. Altvertraute Beschäftigungsmuster sind in Auflösung begriffen. Dafür entstehen neue.

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Eine davon ist die Telearbeit. Sie wird später noch ausführlich diskutiert werden. Erste (umstrittene) Erscheinungsformen sind beispielsweise auch die unter dem Begriff free-lancer bekannt gewordenen neuen Formen von teilselbständiger Arbeit. Diese Arbeitsform ist vor allem im Bereich der Graphikerstellung am weitesten verbreitet. Die Anzahl der Auftraggeber ist eng eingegrenzt, deshalb liegt bei der Charakterisierung dieses Typs von Freiberuflern auch der Begriff der Scheinselbständigkeit nahe. In diesem Tätigkeitsfeld wechseln Termindruck und Zeiten der Nichtbeschäftigung einander ab und die Auftragsaquisition (z.B. über elektronische Börsen) ist ein noch ungewohntes Unterfangen. Die Anforderung besteht bei solchen Arbeitsformen darin, aus unregelmäßigen Einkommen kontinuierlichen „Lohn" zu machen.

Weitere qualitative Elemente von Erwerbsarbeit könnten durch die Informationstechnik ihre Bedeutung verlieren. Untersuchungen von EMNID zeigen beispielsweise, daß bei den Arbeitnehmern Merkmale wie Arbeitsplatzsicherheit, nette Kollegen und Bezahlung eine erhebliche Rolle in der Frage spielen, was ihnen im Berufsleben wichtig ist. Diese Faktoren des Arbeitslebens werden in der Informationsgesellschaft instabilisiert: Die Virtualisierung beschränkt das Produktionsspektrum von Betrieben auf bestimmte Kernaufgaben, auch die Arbeitsplatzsicherheit der (verbleibenden) Kernbelegschaften sinkt und der Stellenwert arbeitsplatznaher Sozialbeziehungen im Betrieb geht durch Bildschirm- und Telearbeit zunehmend verloren. Dagegen erfolgt die Bezahlung eher erfolgs- bzw. ergebnisabhängig. Der oben genannte free-lancer ist nur ein Ausdruck für diesen Trend.

Insgesamt betrachtet zeigt sich, daß gegenwärtig und auf dem Weg in die Informationsgesellschaft also auch neue Beschäftigungsutopien diesseits tradierter Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsformen erforderlich sind. Die Informationstechnik kann ein Instrument zur Veränderung der Erwerbsarbeit sein werden. Dies könnte eine der Perspektiven der Informationsgesellschaft sein. Ein denkbares Szenario könnte auf der Öffnung der Arbeitsstrukturen hin zu einer Gesellschaft der eher selbständig Tätigen beruhen. Neue Formen

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von Selbständigkeit, bei denen jeder für sich selbst bzw. für seinen Marktwert verantwortlich ist und die damit einhergehende Individualisierung bergen in der Informationsgesellschaft allerdings auch sozial- und arbeitspolitische Gefahren. Sie sind dazu geeignet, Formen gesellschaftlicher Solidarität zu durchbrechen. Darin liegt eines ihrer Risiken. Hier wäre auch genau zu prüfen, wie Leistungen, die in der abhängigen Erwerbsarbeit durch den Arbeitgeber erbracht werden (Überbrückung auftragsschwacher Zeiten, Qualifizierung, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Nahtstellen zur sozialen Sicherung) von anderen gesellschaftlichen Akteuren bzw. Institutionen angeboten werden können.

Wenn auch quasialternative Existenzen gesellschaftlich „salonfähiger" werden sollen, gelingt das nur, wenn sie sozialpolitisch unterstützt werden, damit die mit ihnen verbundenen persönlichen Risiken nicht ins uferlose treiben. Aufgrund der Vollbeschäftigungsphase genießt die abhängige Erwerbsarbeit den höchsten gesetzlichen Schutzgrad. Demgegenüber könnte in kleinen Schritten versucht werden, diskontinuierliche Erwerbsarbeit und sogenannte atypische Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnisse durch die Aufweichung der engen Vernetzung von Sozialsystem und abhängiger Erwerbsarbeit sozialpolitisch zu flankieren. Dazu zählt u.a., das Sozialsystem für Selbständige weiter zu öffnen und Ausstiege auf Zeit zu ermöglichen.

Visionen sind also gefragt, andere Erwerbsformen scheinen aus der Sicht von Arbeitsmarktexperten mit und ohne Informationsgesellschaft längst überfällig zu sein. Ob allerdings die Instrumente der Informationsgesellschaft, d.h. die luK-Techniken selbst, das Terrain für neue Arbeits- und Beschäftigungsformen weiter ebnen werden, zu Entlastungen auf dem Arbeitsmarkt führen und vor allem wann das sein wird, diese Fragen können nur durch empirische Bestandserhebungen und Prognosen zu ihren Beschäftigungswirkungen beantwortet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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