HOME MAIL SEARCH HELP NEW



Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 4/1998

Dieter Senghaas (Hg.):
Frieden machen
Frankfurt am Main 1997
Suhrkamp, 584 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Der gewaltsame Austrag von Konflikten in und zwischen Staaten ist nach wie vor trauriger Bestandteil der internationalen Politik. Frieden machen erscheint daher als vordringlichste politische Aufgabe, wenngleich in der Aufmerksamkeitsverteilung der innenpolitischen Agenda derzeit leider wenig davon zu spüren ist. In weiten Teilen der Welt gehorchen die "Friedenspläne" der Staatenlenker immer noch der herkömmlichen realpolitischen Maxime si vis pacem, para bellum ("Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor"). Friedenssicherung schrumpft in dieser Perspektive auf Diplomatie, militärisch abgesichertes Machtmanagement und klassisches Völkerrecht zusammen. Die Bekämpfung der Ursachen von Gewalt und Krieg bleibt in diesem auf Sicherheit, Waffenruhe und Nichteinmischung ausgerichteten Denken weitgehend ausgeklammert. Die para pacem-Maxime verfolgt hingegen einen erweiterten Friedensbegriff: Ihr geht es um den Aufbau einer internationalen Ordnung, die Gewaltanwendung zwischen und innerhalb von Staaten dauerhaft und verläßlich ausschließt. Unter diesem Erkenntnisinteresse versammelt der international angesehene Bremer Friedens- und Konfliktforscher Dieter Senghaas in einem neueren Aufsatzband zahlreiche bekannte Wissenschaftler, die aus unterschiedlichem Blickwinkel Überlegungen anstellen, wie heute Strukturen eines stabilen Friedens herausgebildet werden können.

Beiträge von Czempiel, Lienemann, Maull, Weidenfeld/Janning und Cooper loten in Kapitel I des Buches friedenspolitische Perspektiven für den engeren deutschen und europäischen Umkreis aus. Der Aufsatz von Ernst-Otto Czempiel ragt dabei in bezug auf die Plausibilität seiner theoretischen Herleitung wie praktischen Schlußfolgerungen eindeutig heraus. Czempiel beklagt, daß der Westen aus dem Ende des Ost-West-Konflikts keine konzeptuellen Konsequenzen gezogen hat. Vom Aufbau einer neuen europäischen Friedensordnung sei schon lange nicht mehr die Rede. Statt dessen beherrsche der Begriff Sicherheitsarchitektur die Debatte. Der Westen hat aus Sicht von Czempiel vergessen, daß die Demokratisierung der Herrschaftssysteme und ihr Zusammenschluß in regionalen bzw. globalen Organisationen die beiden wichtigsten Friedensursachen sind. Die Osterweiterung der NATO und die gleichzeitige Vernachlässigung der OSZE hält er folgerichtig für einen schweren ordnungspolitischen Fehler, der den Aufbau der Demokratie in Rußland gefährden könne.

Kapitel II (Beiträge von Eppler, Bertram, Troebst, Calic) thematisiert die Kernprobleme akuter, zumeist ethnonationalistisch verursachter (Bürger-)Kriege, auch am Beispiel des zerfallenen Jugoslawien. Oft steht diesen neuartigen, komplexen Konfliktlagen nicht nur das offizielle Regierungshandeln, sondern auch das Engagement pazifistisch motivierter gesellschaftlicher Bewegungen ziemlich hilflos gegenüber. Der Bellizismus-Streit in der deutschen Linken zum Golfkrieg und zu Bosnien hat eindrücklich das ganze Dilemma von Frieden machen veranschaulicht: Können nämlich Situationen eintreten, in denen es Friedenspolitik verlangt, zur Eindämmung und Bändigung von Gewalt selbst Gewalt anzuwenden? Erhard Eppler bringt die Nowendigkeit einer Doppelstrategie auf den Punkt: "Wer Gewalt da treffen will, wo sie entsteht, kann, wo sie aufflammt, ihre Opfer nicht damit vertrösten, daß man erst einmal den Ursachen nachgehen müsse." (S. 131).

In Kapitel III gehen die Autoren (Müller-Fahrenholz, Curle, Ropers, Kelman, Huber) der Frage nach, wie gesellschaftliche Gruppen, Einzelpersonen, aber auch die Wissenschaft konstruktive Beiträge zur Verhinderung, Deeskalation und Beendigung gewalttätiger Konflikte zu leisten vermögen. Gerade in den heute vorherrschenden ethnopolitischen Auseinandersetzungen, in denen mächtige innerstaatliche Gruppen gleichsam als Schicksalsgemeinschaft für ihre Ziele bis zum bitteren Ende auch mit gewaltsamen Mitteln kämpfen wollen, spielen Akteure eine große Rolle, die sich präventiv, vermittelnd, vertrauensbildend und erzieherisch in derartige Konflikte einmischen können und dabei auf beiden Seiten Anerkennung genießen.

Die Beiträge in Kapitel IV (Kamphaus, Tetzlaff, Mall, Tugendhat) beschäftigen sich mit den strukturellen Voraussetzungen eines stabilen Friedens. In einer zunehmend pluralistischen und interdependenten Welt wächst die Schwierigkeit, Koexistenz auf der Basis eines gemeinsamen, kulturübergreifenden Verständnisses von Werten und Rechten auszugestalten oder gar die Menschheit zu einer Weltvölkergemeinschaft zu vereinen. Rainer Tetzlaff weist darauf hin, daß die friedensgefährdenden Folgen des vor allem in der Dritten Welt um sich greifenden Staatszerfalls nur durch eine erfolgreiche massenwirksame soziale Entwicklung vermieden werden können. Intervention zugunsten eines natur- und sozialverträglichen Zusammenlebens schafft den Nährboden für die Verwirklichung der Menschenrechte und für die Entstehung eines berechenbaren handlungsfähigen Rechtsstaates, die ihrerseits beide der beste Garant für den Frieden sind.

Die Zunahme der ökonomischen, ökologischen und sicherheitspolitischen Verflechtungen beschränkt die Handlungsspielräume der ehemals souveränen Nationalstaaten. Die auf allen Ebenen voranschreitende Globalisierung verlangt von ihnen neuartige Arrangements der Zusammenarbeit und eine Verrechtlichung ihrer Beziehungen. Die Aufsätze in Kapitel V (Messner/Nuscheler, Müller, Bächler, Brock) untersuchen für einzelne Politikbereiche (Vereinte Nationen, Militär, Umwelt, Wirtschaft) Entstehungsbedingungen, Funktionsweise und friedenspolitische Leistung bestehender internationaler Ordnungsrahmen. Kapitel VI knüpft an diese Thematik unmittelbar an. Die Autoren (Bornschier, Heintze, Zürn, Delbrück, Ballestrem) setzen sich mit der Frage auseinander, ob die sich herausbildenden Regelwerke lediglich die Anarchie des Weltstaatensystems abfedern oder bereits die Keimzelle einer internationalen Friedensordnung bilden.

Den interessantesten Beitrag liefert hierzu Michael Zürn, der internationale Regime auf ihre friedensfördernde Wirkung abklopft. Internationale Regime bestehen aus Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozeduren, die die freiwillige Kooperation von Akteuren in unterschiedlichen Problemfeldern (Sicherheit, Umwelt, Wirtschaft, Menschenrechte) steuern und durch eine sich verfestigende Erwartungsverläßlichkeit stabilisieren und vertiefen. Es sind vor allem die indirekten und langfristigen Auswirkungen von Regimen, die dem Frieden dienen. Zürn sieht hier drei Dimensionen: Internationale Regime bewahren auftretende Krisen davor, in den Einsatz von Gewalt zu eskalieren; sie verhindern zudem, daß grenzüberschreitende Transaktionen sozial unerwünschte Folgen zeitigen, die den Nährboden für Gewaltbereitschaft abgeben; und schließlich kann das Zusammenspiel vieler internationaler Regime das egoistische Denken der Akteure überwinden helfen und gemeinschaftliche Handlungsorientierungen entstehen lassen, die der wachsenden Interdependenz auf der Welt Rechnung tragen.

Kapitel VII umfaßt zwei Aufsätze: Volker Matthies entfaltet den Stand der Forschung zu den Bedingungen erfolgreicher Kriegsbeendigung und Dieter Senghaas beschreibt in einer überzeugenden friedensprogrammatischen Abhandlung die Konstitutionsbedingungen gelungener politischer Vergemeinschaftung. Nach Senghaas wird Frieden durch das Zusammenwirken folgender Komponenten bewirkt: staatliches Gewaltmonopol, rechtsstaatliche Kontrolle, demokratische Beteiligung, soziale Gerechtigkeit, politische Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung und Affektkontrolle von Individuen und Interessengruppen. In ihrer Vernetzung bilden diese Friedensbedingungen das zivilisatorische Hexagon.

Auch wenn das Buch einen breiten sachlichen Bogen spannt und die Autoren sich ihrem Gegenstand aus unterschiedlichen Richtungen nähern, so läßt sich aus den Analysen doch ein Konsens herausschälen, mit welchen Mitteln langfristig Frieden gemacht werden kann: Demokratisierung im Innern der Gesellschaften und Förderung von Interdependenz, Kooperation und Regimebildung auf internationaler Ebene. Die Frage, mit welchen Strategien sich diese Maßnahmen verwirklichen lassen und wer ihre politischen Träger sein sollen, hätte vielleicht etwas mehr Beachtung verdient. Auch der Aspekt, ob sich die Inhalte des zivilisatorischen Hexagons auf nicht-westliche Gesellschaften ohne weiteres übertragen lassen und wie in Ländern der ehemaligen Zweiten und der Dritten Welt friedensförderliche Modernisierungsprozesse von außen beschleunigt werden können, kommt etwas zu kurz. Dennoch liegt die Stärke des Buches darin, daß seine Beiträge, obschon zum Teil recht schwere Kost, nicht in hochtrabenden friedenstheoretischen Reflexionen steckenbleiben, sondern mit realitätsnahen, praxisorientierten Vorschlägen für eine Politik aktiver Friedensgestaltung aufwarten. Die Autoren sind keineswegs blind für Gefährdungen und Rückschläge. Aber es geht ihnen um eine positive Botschaft. Die aufgezeigten Gegenmaßnahmen sollen allerdings nicht nur Symptome kurieren, sondern den Teufelskreis der Gewalt an der Wurzel packen. Weil ein solcher Ansatz in den Stabsstellen der Regierenden immer noch als weltfremde Idealpolitik verschrieen ist, sind dem Buch gerade dort viele aufgeschlossene, lernfähige Leserinnen und Leser zu wünschen, damit richtige wissenschaftliche Erkenntnis möglichst rasch in fortschrittliches politisches Handeln münden kann. Denn Frieden machen ist und bleibt eine Aufgabe der Politik.

Martin Mendler
Landtag von Baden-Württemberg
Stuttgart


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition bb&ola | November 1998