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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 4/1998

Ulrike Götting:
Transformation der Wohlfahrtsstaaten in Mittel- und Osteuropa. Eine Zwischenbilanz.
Opladen, 1998
Leske + Budrich, 312 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Die überarbeitete Dissertation analysiert emprisch-komparativ die Reform der Wohlfahrtssysteme innerhalb des Transformationsprozesses in den Ländern Bulgarien, Polen, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn in der Zeit von 1989 bis 1995. Die untersuchten Wohlfahrtssysteme sind Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, Alterssicherung, Gesundheitswesen, Sozialhilfe und Instrumente der Einkommenssicherung. Disziplinübergreifend wird die Schnittstelle zwischen der komparativen Wohlfahrtsforschung und der Transformationsforschung gesucht. Ziel ist es, Erfolgsbedingungen und Restrikionen der sozialpolitischen Transformation aufzuzeigen. Im Gegensatz zu vielen theoretischen Konzepten über Transformationsprozesse beschreibt die Studie den tatsächlichen Ablauf und somit den Politikprozeß an sich.

Theoriekonzept: Wohlfahrtstaatliche Transformation. Die Autorin definiert wohlfahrtstaatliche Transformation als eine Reformkategorie, in der ein sozialpolitischer Systemwechsel auf Verfassungsebene vollzogen wird. Als andere Kategorien werden "institutionelle Kontinuität" und "institutioneller Wandel" unterschieden. Die Verabschiedung zahlreicher sozialpolitischer Änderungen bedeutet in dieser Einordnung "Kontinuiät", eine Umstellung einer staatlichen Altersversorgung auf eine Grundsicherung mit privater Vorsorge stuft Ulrike Götting als "Wandel" ein.

Die Analyse legt besonderes Gewicht auf die Besonderheiten des sozialpolitischen Politikfelds, die in der ökonomischen Transformationstheorie in der Regel vernachlässigt werden. Jeder sozialpolitische Teilsektor ist ein seperates System von Normen, Akteurskonstellationen und Verfahrenspraktiken, das Veränderungen besonders erschwert. In Theorie und Praxis der Transformation haben institutionelle Reformen im Bereich der Sozialpolitik keine Priorität. Sozialpolitik wird in der Funktion als Absicherung anderer Reformschnitten gesehen. Während sich Bereiche wie Parteien oder Medien im Zentrum von Reformen befinden, stehen intermediäre staatliche Institutionen kaum auf der Agenda von Reformplänen.

Den Grund sieht die Autorin darin, daß sich aus einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung nur ungenau Reformziele für die Ausgestaltung der Sozialpolitik, zum Beispiel der Rentenversicherung, ableiten lassen. In der Ökonomie herrscht kein Konsens über den Ordnungsrahmen eines marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaates. So unstrittig wie eine Marktwirtschaft einen freien Preismechanismus, Privateigentum und dezentrale Planung braucht, so streitbar sind die ordnungspolitischen Präferenzen in der Ausgestaltung von Sozialsystemen.

Eine weitere Besonderheit der sozialpolitischen Transformation stellt für die Autorin die Unplanbarkeit des Reformprozesses dar. In der herkömmlichen ökonomischen Transformationstheorie wird aus einer Designer-Perspektive ein Master-Plan aufgestellt, der festschreibt, wie rasch und gekonnt, bisherige Normen und Institutionen umgebaut werden sollen. Der Erfolg der Transformation hängt demnach vom Sachverstand und Geschick der Regierungen ab. Die Erfahrung in den analysierten Ländern im Bereich Sozialpolitik ist jedoch eine andere. Nicht die Reformstrategie ist die zentrale Variable für den Verlauf der Transformation. Es sind die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen, die vom Vorgänger-Regime geerbt wurden. Nicht ein Master-Plan, sondern die Interessenlage und Interaktion der neuen Akteure in der Regierung und Zivilgesellschaft bestimmen den länderspezifischen Ereignispfad.

Aus den Besonderheiten der wohlfahrtstaatlichen Transformation wird ein Analyseraster für das Ziel der Studie entwickelt. Demnach hängen die Möglichkeiten und Restriktionen von Reformen der sozialpolitischen Institutionen von sieben Faktoren ab. (1) Die ökonomischen Rahmenbedingungen legen die Finanzierungsspielräume fest. Fiskalischer Druck kann reformfördernd sein, indem der Druck zur Schocktherapie führt. Fehlende Ressourcen können aber auch die Reformen behindern, wenn Reformverlierer nicht entschädigt werden können. (2) Der Einfluß von externen Beratern oder internationalen Organisationen kann gering sein, weil externe Vorschläge nicht gegen das Einverständnis der Entscheidungsträger umgesetzt werden. Externer Druck kann allerdings als Argumentationshilfe gegen interne Widerstände dienen. (3) Eine starke Regierung kann insitutionelle Reformen schneller vorantreiben als Koalitionsregierungen, instabile Parteiensysteme, einflußreiche Zivilgesellschaften und föderative Systemen.

(4) Die administrativen Kapazitäten sind verantwortlich, die sozialen Reformprogramme in die Praxis umzusetzen. Das Management von Reformprogrammen ist wesentlich für die Vorbereitung, Akzeptanz und den Erfolg. (5) Intermediäre Akteure der Mesoebene fungieren als Sprachrohr sozialer Interessen sind nur reformfördernd, wenn sie die Interessen ihrer Mitglieder tatsächlich repräsentieren und kontruktiv am Politikprozeß teilnehmen. Im schlechtesten Fall sind sie zu schwach, um neue Verantwortung zu übernehmen, aber stark genug, Reformen zu blockieren.

(6) Als institutionelle Rückwirkungen definiert die Autorin Hemmnisse in der Reform von Institutionen, die aus den erworbenen Ansprüchen, Fertigkeiten, Routinen, Beziehungsnetzen und Zukunftserwartungen des früheren Sytems herrühren. Diese "sunk costs" führen zu "lock-in" Wirkungen, die den Designer-Aktivismus abbremsen. (7) Das Design der Reformprogramms ist dennoch wichtig, da es die Durchsetzungskosten senken kann. Die Reform muß zu einem Zeitpunkt kommen, wenn eine Reformbereitschaft besteht oder geschaffen werden kann, zum Beispiel eine neue Regierung. Ein Reformbündel, das positive wie negative materielle Wirkungen kombiniert, kann eine akzeptable "Paketlösung" darstellen. Der Widerstand kann durch drei Taktiken, Verdunklung, Spaltung und Kompensation minimiert werden.

Ausgangslage: der staatspaternalistische Wohlfahrtsstaat. Als Begründung für die Auswahl der untersuchten Länder wird die ähnliche politische und wirtschaftliche Lage zu Beginn der Transformation genannt. Die Ähnlichkeit der Sozialsysteme beruhte auf dem gemeinsamen ordnungspolitischen Modell des paternalistischen Wohlfahrtsstaates. Sozial- und Wirtschaftspolitik waren keine klar getrennten Politikfelder mit eigenen Institutionen. Die Betriebe übernahmen weite Teile der Sozialpolitik. Die Sozialleistungen bestanden nicht aus subjektiven Rechten, die individuell durchsetzbar waren, sondern sie waren Schutzzusagen des Staates und wurden bürokratisch zugeteilt. Als Gegenleistung wurde politisches Wohlverhalten und die Erfüllung von Bürgerpflichten erwartet. Dem Recht auf Arbeit stand eine Pflicht zur Arbeit gegenüber.

Die sozialistischen Sozialsysteme waren umfangreich. In der Studie werden Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzsicherheit, Preissubventionen, betriebliche Sozialleistungen, staatliche Altersvorsorge, Gesundheitsdienst, kurzfristige Lohnersatzleistungen, Familienförderungen, Bildungswesen, Wohnungsbau und informelle Ökonomie beschrieben. Die umfassende soziale Sicherung war Teil der Legitimation und Herrschaftssicherung und erklärt warum die großen ökonomischen Ineffizienzen hingenommen wurden.

Reformen. Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik mußte nicht reformiert, sondern neu aufgebaut werden. Dies ergab sich zwangsläufig aus der Transformation der Wirtschaft. Staatliche Garantien auf Vollbeschäftigung entfielen und die Betriebe mußten von der sozialpolitischen Funktion befreit werden. Neue arbeitsmarktpolitische Institutionen wurden aufgebaut. Die vier wesentlichen Züge der neuen Arbeitsmarktpolitik bestanden aus der Vermeidung von Personalabbau, Entlastung der Angebotsseite, Absicherung des Risikos und Hilfen zur Wiedereingliederung.

Die Vermeidung des Personalabbaus wurde vorranging durch Kündigungsschutz versucht. Rechtliche Regulierungen von Massenentlassungen führten zu einer Verzögerung des Personalabbaus. Entlassungen sollten das letzte, nicht das erste Mittel sein. Daneben wurde eine begrenzte Bestandsicherung von Arbeitsplätzen durch durch Fortsetzung der Subventionierung von Staatsbetrieben erreicht, die den Privatisierungsprozeß zumindest verlangsamten. Das Instrument von Lohnleitlinien innerhalb konzertierter Aktionen erlaubten einen Reallohnrückgang.

Die Reduzierung des Arbeitsangebots wurde durch Frühverrentung erreicht. Familienfördernde Leistungen sollten außerdem die Erwerbsbeteiligung von Frauen zurückschrauben. Zur Absicherung des Risikos von Arbeitslosigkeit wurden Arbeitslosenversicherungen gegründet. Die aktive Arbeitsmarktpolitik war eher unbedeutend. Die eingesetzten Instrumente waren Lohnkostenzuschüsse, Existenzgründungsbeihilfen und öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der Verwaltungsaufbau gestaltete sich schwieriger als bei den Versicherungsystemen.

In der Alterssicherung versuchten die Transformationsländer, die Rentenfinanzierung aus dem Haushalt herauszulösen und durch ein dreigliedriges System aus Grundrente, beitragsfinanzierter Zusatzrente und privater Vorsorge zu ersetzen. Die Institutionen blieben weitgehend unverändert. Ein Ausnahme bildete nur die Tschechische Republik. Die Finanzierungsprobleme und die typischen Reformhindernisse der Institutionen verhinderten einen Systemwechsel.

Ähnliches gilt für die Gesundheitsreformpolitik. Die Neuordnung der schlechten gesundheitlichen Versorgung war zunächst ein zentrales Reformprojekt. Zwar wurde der staatliche Gesundheitsdienst durch ein Sozialversicherungsystem ersetzt und von der Rentenkasse getrennt, eine verbindliche Selbstregulierung des Gesundheitswesens unterblieb jedoch. Der Staat spielt in allen Ländern noch immer die wesentliche Rolle und Reformen beschränkten sich auf eine Entlastung des Staatshaushalts durch Beitragszahlungen.

Trotz der Abschaffung des paternalistischen Wohlfahrtsstaates waren Einkommenssicherung und soziale Dienste weiterhin von Bedeutung. Die Sozialhilfe wurde ansatzweise verstärkt, die Familienunterstützung fortgesetzt und Mietpreisbindungen und einige betriebliche Sozialleistungen kurzfristig weitergeführt. Dies verhinderte jedoch nicht, daß die Armutsbevölkerung in allen Ländern ab 1989 zugenommen hat. Die Ursache liegt nach den Zahlen der Analyse im Rückgang des durchschnittlichen Einkommens und in der Zunahme der Einkommensungleichheit.

Im Ländervergleich schneidet die Tschechische Republik am besten ab. Die Autorin bemißt dies an der niedrigsten Arbeitslosigkeit und der geringsten Armut, verbunden mit dem vergleichsweisen stärksten Systemwechsel in den Sozialsystemen. Die Ursachen liegen gemäß des Analyserasters der Autorin in den günstigen ökonomischen Ausgangsbedingungen und in der stabilen und stringenten Reformpolitik. Es gab in Prag keine Minderheitsregierungen und klare Reformkonzepte. Am schlechtesten schnitt Bulgarien ab, alle anderen Länder liegen dazwischen. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote von 1990 bis 1995 zeigt folgenden Unterschied: Tschechische Republik 2,8 %, Ungarn 8,0 %, Slowakei 9,5%, Polen 13,2 % und Bulgarien 11,4%.

Das zusammenfassende Ergebnis der Arbeit ist, daß trotz des wirtschaftlichen und politischen Systemwandels in Mittel- und Osteuropa die Sozialsysteme keinen radikalen Wechsel, sondern nur graduelle Reformen erlebt haben. Nach der Definition der Autorin ist die wohlfahrtsstaatliche Transformation mit Ausnahme in der Arbeitsmarktpolitik ausgeblieben. Die Analyse scheint zu belegen, daß intermediäre Institutionen und Subsysteme kaum tiefgreifend zu verändern sind. Demgegenüber zeigen die Länderunterschiede, daß ein politischer Handlungspielraum durchaus besteht.

Eine wichtige Frage ist der Kausalzusammenhang zwischen Reformstärke und besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Bevölkerung. Anders gefragt, müssen die Sozialsysteme transformiert werden, um soziale Standards zu erreichen oder würde auch eine graduelle Reform genügen? Dies beantwortet die Autorin nicht, weil es ihr um die Analyse des Politikprozesses innerhalb einer Transformation geht. Sie stellt jedoch fest, daß die reformfreudigeren Länder im internen Vergleich bei Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Wachstum und Armut besser abschneiden.

Erste Erfolgsbedingung für Reformen ist die politische Handlungsfähigkeit der Regierung. Die Analyse des Politikprozesses ergab, daß weniger die formale Stabilität entscheidend ist. Es kommt darauf an, inwieweit die Regierung annimmt, ein Mandat für Reformen zu haben und sich somit zutraut, der Bevölkerung Veränderungen zuzumuten. Zweiter wesentlicher Faktor ist das Reformdesign, wobei es vor allem auf den richtigen Zeitpunkt für die Umsetzung einer Reformagenda ankommt. Das politische System muß in einem Umbruch sein. Das "window of opportunity" ist eine Situation der Reformbereitschaft.

Die aktuelle ökonomische Situation beeinflußt das Reformtempo in unterschiedlicher Weise. Während Tschechien die relativ günstige wirtschaftiche Lage zur sozialen Absicherung der Reformen nutzen konnte, war in Ungarn eine Finanzkrise der Anlaß zur Abkehr vom Reformgradualismus. Die dritte Variable, die Reformer beachten müssen, sind die administrativen Kapazitäten. Probleme im politischen Management der Reformen waren durchgängig eine Restriktion. Die genannten besonderen Probleme, Institutionen zu reformieren, haben erheblichen Einfluß dafür, warum es nur zu graduellen Veränderungen kam und der Reform-Design-Ansatz scheiterte.

Trotz des umfangreichen Materials an Fakten, ertrinkt der Leser nicht im Zahlenmeer. Die Stärke des Buches ist eine klare und interessante Fragestellung nach Determinanten des Politikprozesses bei tiefgreifenden Reformen. Das entwickelte Analyseraster gibt nicht nur für Transformationen oder wohlfahrtsstaatliche Reformen Aufschluß darüber, wie Reformen ausgelöst werden und wie die Prozesse verlaufen. Die Gegenüberstellung von theoretischer Designer-Perspektive und praktischer Realität ermöglicht ein besseres Verständnis des Ablaufs von Reformpolitiken generell.

Norbert Eder


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