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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 4/2000

Doris Lucke

 

Wirklichkeitskonstruktion als Ware:

"Der Wertewandel" in der westlichen Welt

 

 

Wie kaum eine andere Gesellschaftsdiagnose des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts hat der "Wertewandel" international Karriere gemacht und die Diskus­sionen in­nerhalb und außerhalb der Sozialwissenschaften in Deutschland, aber auch in zahlreichen westlichen Industrieländern und in den USA angeregt. Beson­dere Bedeutung ge­winnen diese Diskssio­nen im Kontext der Globalisierung und der europäischen Einigung und Erweiterung, die nach der deutschen Wiedervereinigung einen der bedeutsamsten makrosoziologischen Transformationsprozesse und eine der größten inner und zwischengesellschaftlichen Herausforderungen darstellt. Bis heute sind nicht nur die Werthaltungen im westlichen und östlichen Teil Deutschlands geteilte in dem Sinne, dass sie die Sprache beim Wort genommen nicht von allen BürgerInnen geteilt werden, also gerade keine gemeinsamen sind. Auch das auf sozialstruktureller Ebene konstatierbare Modernisierungsgefälle in Europa ist nicht deckungsgleich mit den heterogenen, in sich keineswegs konsistenten Wertkulturen der einzelnen Länder auf soziokultureller Ebene. Wenn aus der Währungsgemeinschaft eine Wertegemeinschaft werden soll, innerhalb der die national unterschiedlichen Werte­land­schaf­ten Euro­pas, die momentan noch in eine skan­dinavi­sche, romani­sche und germa­nische Wer­tefamilie zerfal­len, in Zukunft unter einem ge­mein­samen Werte­him­mel blühen, bedarf es nicht nur einer euro­päi­schen Wäh­ru­ngs, son­dern auch einer so­zialwis­sen­schaft­lich fun­dierten Wer­tepo­li­tik. Damit be­steht so­wohl prak­tischpoli­ti­scher Ge­stal­tu­ngs­be­darf als auch ein hiermit korre­spondie­render, vor allem inter­na­tional und inter­kulturell ver­gleichen­der For­schu­ngs­be­darf.

 

Vor diesem Hinter­grund geht der nachfol­gen­de Beitrag[1] aus sozio­logi­scher Sicht der Frage nach den Er­folgsbe­dingungen der in vielerlei Hin­sichten erstaunlichen und  so steht zu erwarten nachhaltigen Be­griffskar­rie­re des "Wertewandels" nach. Gleich­zeitig wird an seinem Bei­spiel in einer wissen­s­chafts­kriti­schen Per­spek­tive auch die Dia­gnosefä­higkeit der So­zial­wis­senschaften und ihr prak­tischpolitischer Anwen­dungs­bezug überprüft.

 

Der inflationäre Ge­brauch des mittlerweile fast schon geflü­gel­ten Wort­es "Wertewandel" verlangt zunächst nach einigen allge­meinen Anmerkungen zur soziologischen Gesellschaftsdiagnose.

 

 

Verschlagwortung ohne Erklärung: soziologische Gesellschaftsdiagno­sen

 

Gesellschaftsdiagnosen werden in der Soziologie synonym zu Ge­sellschaftsmodel­len, Gesellschaftstheo­rien, Gesellschafts­konzep­tio­nen, Gesellschaftsanalysen oder Gesellschaftstypo­lo­gien ge­braucht (Papcke 1991; Kneer/Nas­se­hi/Schr­oer 1997; Immer­fall 1998). Viele dieser Dia­gnosen sind, wie in der Medi­zin, wo der Dia­gno­sebe­griff ursprünglich herkommt und dort der Iden­tifi­ka­tion von Kr­ank­hei­ten und sonsti­gen Anoma­lien die­nt, Kri­sen­dia­gno­sen, die sich auf ein­schneiden­de ge­sell­schaftli­che Ver­ände­rungen beziehen und epo­cha­le Um­brü­che markieren. Dem hier ge­machten Defini­tionsvorschlag[2] zufolge sind Ge­sell­schafts­diagno­sen zeit­ge­ist­kom­pati­ble Echt­zeit­dia­gno­sen von Zeit­ge­nos­sen mit so­zial­wis­sen­schaftlichen Ab­sch­lüs­sen, die mit den Dia­gno­sen von Zeit­ge­nos­sin­nen und Zeit­ge­nos­sen ohne Diplom mehr oder weni­ger über­ein­stimmen und die Sch­ütz­schen Typifika­tionen (Sch­ütz 1974, 1932) erster Ord­nung (das sind die für das Ge­lingen jeder Inter­aktion unver­zicht­baren VorUr­teile der All­tags­men­schen) in die typi­sieren­den Erwartun­gen zwei­ter Ord­nung (das sind die Ty­pen­bil­dun­gen der So­zio­logie) über­set­zen. Sch­lag­li­cht­arti­g über­höht und hier­in den Weber­schen I­deal­ty­pen (Weber 1980: 1ff., 1921) glei­chend brin­gen sie dif­fuse Wahr­neh­mun­gen auf den Be­griff und Unbe­grif­fenes auf den Punkt. Dabei bedienen sie sich der Kunst­grif­fe eines sozial­wis­sen­schaft­lich inspi­rier­ten Poi­nti­lismus auch kunst­ge­schicht­lich Vor­stufe zur abstrak­ten Malerei und einige malen, die Moden des "mainstre­am" ignorierend, das Bild der Gesell­schaft gegen den Stri­ch. 

 

Bei den Zeitdia­gno­sen der Soziologie handelt es sich um se­lek­tiv gene­rali­sierte Gegen­wa­rts­be­schrei­bun­gen von "Spe­zia­li­sten für das All­gemeine" (Axel Hon­neth), die in aller Regel durch tief­reichende Irrita­tionen des sozia­len Le­bens ausge­löst werden. In Ster­nstun­den sozialwissen­schaft­licher Erleuchtung brin­gen diese Irritationen sel­bst Angehörige einer Profession in Bewe­gung, die sich ansonsten eher durch expost als durch adhocAnalysen auszeichnet, und setzen deren Vertrete­rInnen instand, ihren ob zahlrei­cher Über­ra­schungen sp­rac­hlosen Mit­gesell­schaf­terIn­nen die wis­sen­sch­aft­lich ver­bürg­ten Stic­h­wor­te zu liefern. Mit ihren Diagnosen leisten SoziologInnen Bei­trä­ge zur Ver­sch­lag­wor­tung einer Ge­sell­s­chaft, deren Mitglie­der sich ihrer eige­nen Richtig­keits und Wichtig­keitsvor­stellun­gen nicht mehr si­cher sein können. Des­wegen müssen sie sich über das nicht mehr, gera­de noch oder schon wieder (Von)Sel­bst­ver­ständ­liche stets aufs Neue selbst­ver­gewis­sern.

 

Indem sie in diese (Un)Ge­wiß­heits­lücken treffen, erfüllen so­zio­lo­gi­sche Zeit­dia­gno­sen The­ma­ti­sie­rungs und Orien­tie­ru­ngs­funktionen. Als fo­kussier­te Mo­ment­auf­nah­men erbringen sie in Einzelfällen Dra­mati­sie­rungs­lei­stungen, etwa wenn es mit ihrer Hilfe gelingt, die öffent­liche Mei­nung nicht nur für ein Thema zu interessie­ren, sondern darüber hinaus die Mei­nungen zu diesem Thema so zu or­che­st­rie­ren, dass sie die Partitur für ein Kon­zert abgeben, das anschließend über mehrere Saisons vor ausverkauf­tem Haus gespielt wird. Gele­gentlich erfüllen diese Diagno­sen auch Beschwichtigungs­ und Ver­schl­eie­rung­s­funk­tio­nen. Dies ist der Fall, wenn sie sich an­bahnen­de Ent­wick­lun­gen mit hochsensi­blen Instrumenten in statu nas­cen­di erkennen und Miss­stän­de glei­chsam in fla­gran­ti auf­dec­ken, dabei aber den Man­tel der wohl­feilen Schnelldiagnose auf die Wunden der Gesell­sch­aft legen, die sie mit wis­sen­schaft­lich ver­bräm­ten, als Theorien ausge­gebe­nen Tauto­logien so gründ­lich zu­decken, dass weitere Nachfragen über­flüs­sig er­scheinen. 

 

Bei den Diagnosen der Soziolo­gie handelt es sich erstens um Diagno­sen ohne Dia­gno­stik (so auch Meulemann 1998: 271), also um unvoll­ständige und methodisch unzureichend begründete Dia­gno­sen. Soziologische Zeitdiagnosen sind be­schreibende (deskripti­ve), gelegentlich auch bewer­tende (evaluative) Zurechnun­gen von Sach­verhalten und Einzeler­sc­hei­nun­gen auf ein Gesell­schafts­bild. Maßgeblich ist, dass diese Erscheinungen das können Einstellun­gen und Ver­hal­tens­wei­sen, aber auch so­ziale Pro­ble­me sein für die Bestim­mung eines Gesellschaftszustands und die Befindlich­keit ihrer Mitglieder von denjenigen, die diese Dia­gnosen stel­len, für wich­tig gehal­te­n werden und ihnen als fun­dierte Vorlage für ein Zeitgemälde geeig­net ersche­i­nen, das die­se Zustände und Befindichkeiten realitäts­gerecht ab­bildet und zu­tref­fend cha­rak­teri­sie­rt. Diese Zurech­nung ge­schi­eht je­doch, anders als in Medizin oder Psy­chologie, ohne im Fach all­gemein aner­kannte Ver­fah­ren der Dia­gno­se­stel­lung, die dann auch Grundlage einer, in der Regel in die Kom­pe­tenz dessel­ben Fachs fallende Hand­lungs­lehre bilden könn­ten, was im Falle der Sozio­logie die wissen­schaft­lich ange­lei­tete Ge­sell­schafts­thera­pie wäre. Tat­säch­lich ist die Dia­gno­stik von Ge­gen­warts­gesell­schaf­ten weder Be­stand­teil der so­zio­logi­schen Me­tho­den­leh­re noch gehört sie zum festen Wissens­kanon des Fachs. Auch die Thera­pie als das logische Ge­gen­stück der Dia­gnose fällt nicht genuin in den Gegen­stands und Kom­pe­tenz­be­reich der So­zio­lo­gie.

 

Gesell­schaftsdia­gnosen sind, obwohl häufig synonym verwandt, keine Gesellschaftstheo­rien. Bei soziologischen Zeit­diagnosen handelt es sich in aller Regel nicht um wider­spruchs­freie Sätze mit einem entspre­chend dem Hem­pelOppen­heimSchema deduktivnomo­logi­schen Kern, also mit einem allgemein gültigen Ge­setz. Gesellschaftsdiagnosen bestehen auch nicht aus empi­risch wider­legbaren Aussagen, sondern es handelt sich um zumeist flächen­deckende Deu­tun­gen mit Hilfe allge­mein gehal­tener Be­grif­fe und unzu­rei­chender Da­tenbasis, bei denen ge­gen­wart­sbezogene Sim­pli­fi­zie­run­gen die Grundlage in die Zu­kunft ge­rich­te­ter Spe­ku­la­tionen bil­den und Aussage und Voraus­sage unzu­lässi­gerweise gleichge­setzt werden. Ohne Einbet­tung in eine Theo­rie des so­zia­len Wan­dels und entsprechende ge­sell­scha­fts­theo­re­ti­sche Grundie­rung sind die her­kömm­li­chen Ge­sell­schafts­diagno­sen nicht mehr als ein am Spie­gel der öf­fent­li­chen Mei­nung kle­ben gebliebenes Eti­kett, das die in Wirklichkeit schu­ldig ge­blie­bene Erklä­rung ver­deckt.[3]

 

Da sie im wissenschaftstheoretisch stren­gen Sinne nichts kau­sal er­klären, kön­nen Diagno­sen auch nichts pro­gnosti­zieren. Vielmehr sind sie Teil jener Wirk­lich­keitskon­struk­tionen, an deren Er­schaf­fung und Aufrechterhaltung sie mitwir­ken. Indem sie dies tun, machen sie den herme­neuti­schen Zir­kel zwi­schen der Diagno­se und den diagno­sti­zier­ten Sym­ptomen un­sicht­bar: "Kauf­hof, das Erleb­nis­haus", "Entdecke die Möglich­keiten" natürlich bei IKEA und "Work hard, have fun, get the fee­ling" (Nike) alimen­tieren sich aus dem zuvor von den Zeit­dia­gno­stikern selbst ange­legten Aufmerksamkeits­vor­rat und be­stä­tigen nach­träg­lich das in seinem Wahrnehmungsfokus entstan­dene Bild von der "Er­leb­nis" (Schulze 1992), "Multiop­tions" (Gross 1994) oder Sp­aß­ge­sell­s­chaft. Wie nach der Eti­ket­tierungs­theo­rie[4] der von anderen "Dieb" Ge­nannte tat­säch­lich stieh­lt, so werden so­ziolo­gi­sche Zeitdia­gno­sen als WahrSagen  im all­tags­sprachli­chen Sin­ne  wahr.

 

In der Ein­leitung zu dem 1998 erschie­nenen Sonder­heft 38 der Kölner Zeit­schrift für Soziolo­gie und So­zial­psy­chologie mit dem Titel "Die Diagno­sefä­hig­keit der Sozio­lo­gie" wird zwischen Prota­go­ni­sten, kon­struk­tiven Skep­tikern und Puri­sten unterschieden. Wäh­rend er­stere von der Dia­gnose als einer Haupt­auf­gabe der Soziologie über­zeugt sind und in ihr eine, wenn nicht die spezifisch sozio­logische Bring­schuld an die Ge­sell­schaft sehen und die zwei­te Grup­pe bei prinzi­piel­ler Be­rech­ti­gung der Dia­gnose­stel­lung theo­re­ti­sche und syste­mati­sie­rende An­strengun­gen und ent­spre­chende Nachbes­serun­gen für nötig und mög­lich! hält, stellen letz­tere beides in Abrede und kapi­tu­lieren mit Luh­mann (Luhmann 1997) vor der Komplexi­tät und Kontin­genz der sich mit ver­stärkter Sensi­bli­tät für System­störun­gen selbst beobach­tenden und be­schrei­benden Ge­sell­schaft. Die Herausgeber geben sich in ihrem Editorial salomonisch und gelangen zu einem mode­riert "s­kep­ti­schen Urteil über die Möglich­keiten der So­ziolo­gie, auf­grund ihres Erkennt­nisstan­des und ihrer bewähr­ten Theo­rien fun­dierte Diagno­sen und Progno­sen geben zu können" (Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998: 27). Mit der suggesti­ven Gleichset­zung von Diagnose und Prognose werden indes zwei Sel­bst­miß­ver­ständ­nisse der Soziologie re­produ­ziert:

 

·      Das ex­pla­natori­sche Sel­bst­miß­ver­ständ­nis der So­ziolo­gie als einer er­klärenden Ge­setzes­wissenschaft, wie es seit der mit Thomas Kuhns "St­ruk­tur wissen­schaftli­cher Revo­lu­tio­nen" (Kuhn 1970, 1962) voll­zoge­nen Entzau­be­rung der Natur­wissen­scha­ften und Ant­hony Gid­dens gegen Durkheim entwickelten "New Ru­les" einer in­ter­pre­tativen Sozio­logie (Gid­dens 1984, 1976) aus­ge­räumt ge­glaubt war.

 

·      Das von Au­guste Comte ("Voir pour savoir, savoir pour pré­vo­ir") wesentlich mitbegründete Miss­verständ­nis von der Sozio­lo­gie als einer pro­gno­sti­schen Wis­sen­schaft.

 

Darüber hinaus offenbart sich in dieser (Fehl)Einschätzung ein prin­zi­pielles Diagno­sedilem­ma der Disziplin: Stellt die Sozio­logie Diagno­sen, un­ter­liegt sie in­terner Kri­tik an ihrer Lei­stungsfähig­keit. Stellt sie keine Diagnosen, setzt sie ihre Exi­sten­zbe­rech­tigung aufs Spiel.

 

Dergestalt zwischen der Skylla berechtigter Erwartungen und der Charibdis tiefer gehängter "Erwartungserwartungen" (Luh­mann 1997) schlin­gernd lie­gen Gesellschaftsdiagnosen als Teil eines gesellschaftsdiagnostischen MegaTrends ihrerseits im Tr­end. In der Tat schießen die soziologischen Gegenwartsbestimmungen seit den 70er Jahren mit anhaltender Hoch­konjunk­tur und sich teil­weise widerspre­chender Diagnose (stell­vertretend Heitmeyer 1997) wie Pilze aus dem Boden. Im Wet­tren­nen um das inter­es­san­tere In­ter­pre­ta­ment ist bei weiter steigen­der Tendenz mitt­lerweile ein Massen­pro­duk­tions­stand er­reicht, auf dem sich die zu­recht ver­wirrte Frage aufwirft: "In wel­cher Ge­s­ellschaft leben wir eigent­lic­h?" (Pongs 1999)   so der pro­gramma­tisch pas­send in einem Di­lemmaVerlag er­schie­nene Titel eines zwei­bän­digen Übersichtswerkes, in dem zwi­schen ge­spal­te­ner, fle­xi­bler, multi­kultu­rel­ler, Risi­ko und Sing­leGe­sell­sch­aft nur noch die Dia­gnose: Dia­gno­se­ge­sell­scha­ft fehlt.

 

Die darin versammelten Autorennamen lesen sich  von Lord Ralf Dah­ren­dorf (soweit können es Soziologen bringen!) über Ul­rich Beck bis Claus Offe  wie ein "Who is Who" der zeitge­nössi­schen "malestre­am"Soziologie. Die Viel­falt der dort von der Gegen­wart ge­zeichne­ten Gesell­schaf­ts­bilder ist Aus­druck einer auch noch in ihren Selbst­aus­legungen mul­tiop­tionalen Epoche. Entsprechend der Wissens­sozio­logie und der von ihr angenommenen "Seins­ge­bunden­heit des Denkens" (Karl Mann­heim) kann ihr Fa­cet­ten­reich­tum als Spie­gel­bild einer unter dem unter­schätz­ten Ein­fluß der Sozio­logie[5] kom­ple­xi­tät­s­sen­si­bel, kontin­genz­be­wußt und kon­struk­tions­gewahr ge­wor­de­nen Ge­sell­scha­ft gelten, deren Mit­glieder noch nie so viel über deren aktu­el­len Zu­stand wußten und damit auch noch nie so­viel nicht wuß­ten und die des­wegen immer mehr vor allem auch über die eigene Zu­kunft wis­sen, aber offenbar so genau dann auch wieder nicht wis­sen wol­len. Anders ist das be­gie­rige Auf­greifen der pointier­ten Pau­schaldia­gnose bei gleichzeitiger Igno­ranz diffe­ren­zieren­der Deu­tungs­ansätze und noch komplizier­terer Er­klä­rungsversuche durch eine so gesehen nur halb­wegs inter­essierte Öffent­lich­keit nicht zu be­grei­fen. Das mit Suggestivwirkung dia­gno­s­tisch Iden­tifi­zier­te ist in Wirk­lich­keit aber nur An­gedeutetes und mit einem Begriff Belegtes, wie es der quasikau­salen (Um)Deu­tung rät­sel­hafter E­rscheinungen und deren (Hoch)Stilisierung zu Sym­ptomen als Möglichkeitsbedingung für deren Zu­rech­nung auf wie immer geartete Ursa­chen kul­turhi­sto­risch schon immer eigen war.[6]

 

 

Der Wertewandel: universeller Legitimations und Argumentationstopos

 

Begin­nend mit der von Ronald In­glehart, einem amerikanischen Poli­tologen, in den 70er Jahren ent­wic­kelten Werte­wandel­theorie und seinem Buch: "The Silent Revo­lu­tion" (Ingle­hart 1977) liest sich die Erfolgs­story dieses Longsel­lers weni­ger als Kar­riere eines wis­sen­schaf­tlichen Kon­stru­kts denn als Pro­mo­tion eines Pro­dukts. Der Entdecker des Wertewan­dels trat als Theo­riebil­der an und war wie Kolum­bus, der gen Indien aufbrach und in Ame­rika lande­te als The­men­unter­nehmer und Erfinder welt­weit er­folg­reich.­ Wie im folgenden näher ausge­führt werden soll, han­delt es sich bei der Werte­wandeltheo­rie um die Ge­schichte eines nach allen Regeln der Kunst ver­mark­te­ten Irr­tums. Sein Er­folg machte einen in den Theorien des sozia­len Wan­dels und in der international ver­glei­chen­den Sozial­struktur­ana­lyse bis dato eher unbe­achteten Rest­posten zum Renner und aus der "quan­tité né­glige­able" einen Kal­kulations­fak­tor, mit dem heut­zuta­ge nicht mehr nur in der So­ziologie, son­dern auch in der Politik gerech­net wird.

 

Einmal in die Welt gesetzt erwies sich das Sch­lag­wort vom "Wer­tewandel" als ImportExportSchlager nicht nur zwi­schen den Indu­strieländern dies und jenseits des Atlan­tiks, sondern auch als gut gehende Handelsware im Tauschgeschäft zwischen den Dis­zipli­nen, die mit dem richtigen "timing" ausgestattet eine Welle von Nach­fol­ge­unter­su­chun­gen produ­zier­te, deren Flut erst j­etzt, nach fast 30 Jah­ren, abflaut. Allein zum Werte­wan­del in Deutsc­hland waren es  in Markt­füh­rer­schaft des Soziologen Helmut Kla­ges und der von ihm in­itiierten Speyerer Werte­for­schung[7]  nach einer vom Infor­ma­tions­zen­trum So­zial­wissen­schaf­ten (IZ) vorge­nom­menen Aus­zäh­lung der SOLISDaten­bank zwi­schen 1970 und 1997 ca. 1.700 Ein­zel­un­ter­suchungen, die sich beschreibend, empirisch oder theoretisch mit dem Werte­wandel beschäftigten.[8] Par­allel dazu ent­stand mit dem Euro­pean Value Sur­vey (EVS) und den World Value Stu­dies (WVS) eine euro­päische und eine Welt­wer­te­for­schu­ng, eine Art Soziomete­reo­lo­gie. Zu­sammen mit dem Euroba­rometer beleuchtet sie, durch das Inter­na­tio­nal Social Sur­vey Pro­gram (ISSP) und das Sozio­ökonomi­sche Panel (SOEP) ergänzt, in regel­mäßigen Abständen die Wert­ge­füge und Groß­wet­ter­lagen von Gegen­wartsge­sell­scha­ften.[9]

 

Ende der 70er Jahre hat allen voran Helmut Kla­ges In­gleharts Thesen auf­ge­grif­fen. Er konstatierte etwas dif­fe­ren­zierter, aber immer noch rela­tiv pau­scha­l ein Sinken von Pfli­cht und Ak­zep­tanz­wer­ten (hierzu zählen u.a. die Werte Diszi­plin, Gehor­sam, Leistung und Ordnung) bei gleichzeitiger Zunah­me von Sel­bst­entfal­tungswerten  (das sind z.B. Emanzipa­tions, Partizipa­tion­s und Autonomiewerte, aber auch Spontanei­tät und Kreativi­tät). Seine The­sen wurden zu­nächst von Kassan­draru­fen aus Al­lens­bach  "Werden wir alle Pro­le­ta­rier?" (NoelleNeumann 1978)  beglei­tet, spä­ter auch mit pu­blizi­sti­scher Unterstüt­zung, etwa durch Ul­rich Wi­ckerts Buch: "Die Ehr­lichen sind die Dum­men" (Wickert 1994), innerhalb und au­ßerhalb der Soziolo­gie in einer in der Be­völkerung weit­ver­brei­te­ten Unter­gangs­stim­mung vor allem als Wertverfall dis­ku­tiert. ­­­­­

 

1989 folgte Ingle­harts "Kul­tu­reller Um­bruch" mit dem Unter­titel "Wertwan­del in der west­lichen Welt­" (In­glehart 1989). 1998 erschien von den ursprüng­lich sechs auf mittler­weile 43 Län­der erwei­tert sein Buch "Mo­derni­sierung und Post­moderni­sierung" (Inglehart 1998). Parallel dazu formier­te sich mit dem Grun­dte­nor "Fak­tum oder Fik­tion?" (Lut­he/Meule­mann 1988) eine im Ver­gleich dazu eher un­erhört gebliebene Kri­tik, die zehn Jahre spä­ter und im Ton schärfer mit "Un­scharfe The­ma­tik, unbe­stimmte Metho­dik, pro­blema­tische Folge­run­gen" (Meu­le­mann 1998) titelte. Der dort und anderswo artikulier­ten Einwände un­geach­tet avan­cierte die Wertewan­deltheorie kriti­kim­mun und empirie­re­si­s­tent zum uni­ver­sell ein­setz­baren Legi­tima­tions und Argumen­ta­tion­stopos überall da, wo die Zure­chen­bar­keit ge­wandel­ter Ein­stel­lun­gen und Ver­hal­tens­weisen auf st­ruk­tu­relle Unter­schiede allein nicht mehr gege­ben war und die her­kömm­li­chen Para­me­ter und Fak­toren­ana­lysen an ihre Grenzen stie­ßen. Inzwi­schen ist der "Wertewandel"  als eigenständiges Stichwort in Hand­wör­terbüchern und einschlägigen Nachschlagewerken vertre­ten und begleitet als Lern und Prüfungsstoff  jedes or­dent­liche Soziolo­giestu­dium. Der mittlerweile in mehreren Auf­lagen er­schie­nene Sammelband "W­ert­wandel und gesell­schaftli­cher Wan­del" (Kla­ges / Kmieciak 1979, 1984) gehört zum Standardinven­tar so­zio­logischer Seminar­bi­blio­theken.

 

 

Materialisten und Postmaterialisten in Theorie und Praxis

 

Irreführend ist schon die Begriffswahl: Was der "Werte­wandel" begriff­lich belegt, ist bei Lichte betrachtet kein Wan­del von Wer­ten, sondern eine ge­wan­del­te Einstel­lung zu be­stimmten Wer­ten. Letztlich beschreibt der Begriff nichts ande­res als ver­änder­te Wert­hal­tun­gen, deren Ziel­ob­jekte sich ihrer­seits in Bewe­gung befin­den. Als (sich selbst wandelnde) Un­ter­suchung des Wan­dels in der Wahrnehmung des SichVerändernden setzt sie kon­stan­te Vor­stellun­gen von Werten und von Wan­del voraus, um etwas derart Vorausset­zung­s­reiches wie den Wer­tewan­del überhaupt er­fassen zu können. All dies macht die gesamte Wer­te­wan­del­for­sch­ung so schw­ierig.

 

Auch der theoretische Gehalt und der logische Aufbau im enge­ren Sinne nehmen sich bei genauerer Betrachtung eher beschei­den aus. Die soge­nannte The­orie besteht aus nicht mehr als zwei ekle­kti­zi­stisch her­aus­ge­griffe­nen und lose mit­ein­ander ver­bunde­nen Thesen, von denen die eine mehr anthropolo­gisch und psycholo­gisch, die andere von der Kernaussage her sozialisa­tions­theore­tisch begründet ist. Beide Thesen sind nicht ganz neu und zie­len, wie in der Un­ter­hal­tungs­lite­ra­tur, auf AhaEf­fekte und DéjàvuEr­leb­nisse bei den LeserInnen: Das ist zum einen die an Mas­lows Be­dürf­nis­hier­archie (Maslow 1977, 1954) angelehn­te Man­gel­hy­po­the­se, die bereits in den 50er Jahren für die Psy­cho­logie ent­wickelt wurde, und zum ande­ren die mit der allge­meinen Le­bens­er­fah­rung und altbewährten Erziehungsidealen über­einstim­mende So­zia­lisa­tions­hypo­these.

 

Die erste Hypothese be­sagt, dass ­von physi­schen über so­zia­le zu äs­the­tischin­tellektuel­len Be­dürfnis­sen aufstei­gend[10] Men­schen die­je­ni­gen Werte be­sonders hoch schätzen, bei denen die zu­grun­delie­genden Be­dürf­nisse zu einem bestimmten Zeitpunkt nur sehr unzu­reichend be­frie­digt sind. Der zweiten Hypo­these zufolge bestim­men die formativen Jahre in Kindheit und frühem Jugend­alter die Wert­hal­tungen für den Rest des Lebens und lassen spä­te­re Änderungen nur noch in geringerem Umfang zu, wobei vor allem eine radikale Umkeh­r einmal erworbener Werte unwahr­schein­lich ist.[11] Aus beiden Thesen zusam­mengenommen ent­wickel­te In­gle­hart zwei Typen von Wert­trä­gern:

·      Mate­riali­sten, die vor allem Si­cher­heit, Wohlstand und Geld­wert­sta­bi­lität wol­len, und

·      Post­mate­ria­li­sten, denen Mitbe­stimmung am Ar­beits­platz, Rede­frei­heit und schöne Städte mehr wert sind.

Von letz­te­ren, den Post­mate­ria­listen, nimmt er an­, dass sie er­stens zah­lenmäßig zuneh­men und sich zwei­tens in Zu­kunft ver­stärkt an Ak­tio­nen unkon­ventio­neller politi­scher Parti­zipa­tion beteiligen wer­den.­[12]

 

Schon die Gegen­über­stellung von Mate­riali­sten und Post­materiali­sten und das zu ihrer Abgrenzung benutzte "Post"­Präfix eine mehr der Verlegenheit als der Unterscheidungskraft ent­springende Sprac­hmode ist nicht son­der­lich origi­nell. Binär codiert kommt sie jedoch der zwei­stel­ligen Logik aben­dlän­di­scher Denk­ge­wohn­hei­ten ent­gegen­ und hat sich vermut­lich allein schon deshalb durch­setzen können. Darüber hinaus er­füllt die Wertewan­deltheo­rie mit dieser Zweistelligkeit die formale Anfor­de­rung des "Draw A Di­stinction", wie sie als Un­ter­schei­dungs­leistung das impli­ziert das Wort "Dia­gnose am Anfang jeder Theorie­bil­dung stehen soll­te.

 

Der Typenbil­dung nach Materialisten und Postmaterialisten liegen auch in dieser Beziehung nicht besonders an­spru­chsvoll per "item­s" erhobene Einstel­lungen zu vor­gege­be­nen "issues" zugrunde. Zum Ingle­hartIndex[13] ver­dich­tet und anschlie­ßend „verclu­stert“ erin­nern die auf diese Weise gebildeten Typen in der Holz­schnittar­tig­keit ab­strak­ter Wertabfragen und ihrer bis zu einem gewis­sen Grade will­kür­li­chen Skalierung mehr an die Grenz­zie­hun­gen in der USame­rika­ni­schen Sied­lungs­ge­sell­sch­aft als an eine sorgfältig ver­messene Werte­landschaft. Da zusätz­lich insbesondere im inter­kulturel­len und in­ter­nationalen Ver­gleich die Vali­dität der erfragten Aussagen zu­gun­sten einer besseren Ver­gleich­barkeit der gegebenen Antwor­ten weg­ope­ra­tio­na­lisiert wurde und man die Indikato­ren aus ähnlichen Grün­den entkon­tex­tua­li­sierte, also aus ihrem kul­tu­rel­len und situa­ti­ven Rahmen riß und ihrer so­zioökonomi­schen Rand­be­dingun­gen entledigte, müs­sen die auf diese Weise gewon­ne­nen Er­geb­nisse zwa­ngs­läufig in die Irre füh­ren: Meinten die Bür­gerInnen der alten und neuen Bun­des­länder mit der prototypisch für die Vorgehens­weise der gesamten empi­rischen Wer­teforschung stehenden Frage nach ihrer Präfe­renz für Freiheit oder Gleich­heit was nach neuerlichen Umwertun­gen und ReEvaluierungen zu ver­muten ste­ht mit "Fre­iheit" Reise­frei­heit und mit "Gle­ich­heit" ledig­lich die gleiche Wäh­rung?[14]

 

Ge­sund­heit, Frie­den, Liebe, Glück: "Wha­tever that me­ans". Die­sel­be Unsicherheit besteht in komparati­ven Unter­suchun­gen angesichts der Übersetzungsnotwendigkeit eruierter Wert­begrif­fe, wenn diese in unterschiedlichen Spra­chen, Kul­turen und Re­gionen un­ter­schi­edli­che Konnotationen be­sitzen oder ehemals positiv be­setzte Begriffe, wie "Solida­ri­tät", durch politische Ent­wick­lun­gen in Mißkredit geraten sind und in Einzelfällen zur Um­ben­nung von Parteien geführt haben.[15] Aber auch innerhalb eines Landes sind Wertum­wertun­gen festzustel­len, wenn etwa "Gleichheit" nicht mehr in erster Linie mit dem Unter­schied zwi­schen arm und reich, sondern  als Fol­ge der Frauen­bewe­gung  hauptsächlich mit der Un­glei­ch­heit der Ge­schlechter in Bezie­hung gesetzt wird oder "Si­cher­heit" nach dem Ende des Kal­ten Krieges mehrheitlich nicht mehr unbe­dingt äußere Sicherheit bedeutet, sondern als Folge der Antiatombewe­gung stärker mit Reaktor­reaktorsicherheit assozi­iert wird. E­benso er­schließen sich die Wert und Un­wert­urtei­le des "Nic­hts fris­ch" wie es "the day after" über Nacht auf deutschen Obst und Gemü­semarkt zu lesen war erst vor dem Hin­ter­grund der Er­eignis­se von Tsc­her­nobyl. Erhebungserschwerend kommt hinzu, dass ein und die­selbe Ver­hal­tens­wei­se, z.B. das Wie­derver­wenden von Ge­schenk­papier oder das Zurückbringen von Pfan­dfla­schen, in den am Leitbild der „amerikanischen“ Weg­werfgesell­schaft orien­tierten 70er Jahren als Geiz und in den ökologisch sensibili­sierten 90er Jahren als Aus­druck zele­brier­ten Umwelt­be­wußt­seins interpre­tiert werden kann, das wie­der­um auch im europäi­schen und amerikanischen Vergleich höchst unter­schiedlich ver­teilt ist.[16]

 

Nach dieser grundsätzlichen Sensibilisierung für kulturell, national und regional unterschiedli­che Wertladungen genügen einige wenige empirische Gegen­evi­den­zen, um die Pro­tago­ni­sten des Wer­tewan­dels methodisch mit den Waf­fen zu sc­hla­gen, die ihren eigenen Untersuchun­gen zugrunde­lie­gen­. Die von ihnen als Wert­träger der Zukunft ausge­mach­ten, politisch akti­ven und dabei bevorzugt un­kon­ventionellen Aktionsformen zu­geneigten Post­ma­te­ria­li­sten sind nach den All­gemei­nen Be­völke­rungs­umfra­gen der Sozialwissenschaften in Deut­sch­land, wie in den USA, nach wie vor in der Minderheit (Ostdeutschland: 12,6 Prozent, Westdeutschland: 24,6 Prozent der Be­völke­rung). Dabei sind die postmate­riell orientierten Idea­li­sten in der nachwachsenden Gene­ration der 18 bis 30Jährigen nach der differenzierteren Werte­typolo­gie von Klages sogar weiter im Ab­nehmen be­grif­fen (Greif­fenhagen 1998: 445, M 34). Die verschiedenen Formen un­kon­ven­tio­nel­ler poli­ti­scher Pa­rti­zipa­tion, also Unter­schriften­samm­lun­gen, Strom­boy­kotts oder Ka­ser­nenblockaden, bis zum zivi­len Unge­hor­sam, spie­lten im letz­teren Fall mit Deut­sch­land am unte­ren Ende der Skala[17] in den poli­ti­schen Kul­turen West­europas auch noch zu Beginn der 90er Jahre eine eher unbe­deu­tende Rolle, und ausge­rech­net die Poli­zei ge­noss in Deut­schland mit 69,5 Prozent von allen In­sti­tutio­nen das größte Vertrau­en.[18]

 

Recht und Ord­nung als nach Ingle­hart eben­falls mate­rialisti­sche Wer­te ran­gieren im Durch­schnitt der deut­schen Bevölkerung (nach für die erste Hälfte der 1990er Jahre vor­liegenden Zahlen) mit stabi­len Pro­zentwerten um die 70 Prozent weiterhin auf Platz eins. In der Gruppe der 14 bis 19Jäh­rigen stehen sie hinter Unab­hängig­keit (70 Prozent) und Hilfs­be­reit­schaft (54 Prozent) mit 48 Prozent auf Platz drei (Greif­fen­hagen 1998: 444, M 33). Der Wohl­stand, mate­riel­le Wert­orien­tie­rung par ex­cellen­ce, kommt in den Wert­schät­zungen der Jün­geren, die nach der Theo­rie die Jün­ger des Postma­te­ria­lis­mus und nicht Anhänger des Materia­lis­mus sein soll­ten, mit 44 Prozent auf Platz vier und liegt damit sogar noch vor seiner Pla­zie­rung bei den Mate­riali­sten, wo er mit 31 Prozent nur auf Rang sechs kommt. Auch von dem mit der Prole­tari­sierungsthese von Elisabeth NoelleNeumann her­auf­be­schworenen Ende der konven­tionel­len Lei­stungs­ethik (No­elleNeumann 1978) ist wenig empirisch nachweis­bar, wenn mit wachsender Zustimmung 1990 fast drei Viertel aller Westeuro­päer der Meinung sind, Leistung müsse sich lohnen (Immerfall 1997: 144) und der Lei­stungs­be­griff, wenn auch in einer etwas anderen Wert­akzentuie­rung, gera­de auch bei den Jugendli­chen in Deutschland entgegen hart­näckig verbreiteten Vorurteilen hoch im Kurs steht (Deutsche Shell 2000). Ähn­liches gilt für den ver­meint­lichen Verfall der Fami­lie, wie er seit Jahren von verschiedenen Seiten mit zweckpessimi­stischem In­sti­tutionen­schutz­blick verfolgt und gegen jede Empirie behauptet wird. Reprä­sen­tativen Bevölkerungsumfra­gen zufolge führt die Familie  euro­pa­weit­[19]­ und nur von den besonders familienorien­tierten USA über­troffen nach der Gesund­heit auf Platz zwei die „Top Ten“ der wich­tig­sten Le­bens­be­reiche an. Das in die­sem Zu­sammen­hang gleich mit­pro­phe­zeite Ende ver­wandt­schaft­li­cher Bin­dungen sche­int in wei­ter Ferne, wenn dem ISSP 1986 zu­folge von den 3,7 Per­so­nen, die in der deut­schen Bevölke­rung im statisti­schen Du­rch­schnitt zu den engen Freu­nden zäh­len, im­mer­hin die Hälf­te Ver­wand­te sind (Immerfall 1997: 158). Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach (IfD)  haben bei den So­zialisa­ti­ons­zie­len in Deutschland die „Sekundärtugenden“ Ehr­lich­keit, Höf­lich­keit und or­dent­liches Arbei­ten auch noch in den 90er Jahren die Plätze eins bis drei inne, während die postmate­rialistischen Werte Tole­ranz, Frieden und Natur nur mitt­lere oder, wie das politi­sche Interesse oder der Gefal­len an Kunst, gar nur un­ter­ste Rang­plätze ein­nehmen (Klages 1998: 705).

 

Wertewandel impliziert nicht nur, dass alte Werte ver­fallen, sondern auch, dass neue Werte entste­hen, so wie jenseits pauschaler Erosionsdiskurse Normen nicht nur ero­dieren, sondern auch kondensieren.[20] Dass die Gleichbe­rech­ti­gung zwi­schen den Ge­schlech­tern und der Um­welt­schutz nach der deut­schen Wiedervereinigung Ver­fas­sungsrang erlangt haben, ist eines der be­sten Bei­spiele. Auch hat es nie so viele Ethikkommissionen wie heute gege­ben auch die So­ziologie hat seit ein paar Jahren eine solche.

 

Da sich der Er­folg der „Theorie“ vom Werte­wan­del weder ihrer analytischen Schärfe und ge­schl­osse­nen Systema­tik noch der über­legenen Er­klä­rungskraft ihrer The­sen verdan­ken kann, müs­sen andere Er­folgs­bedin­gungen vor­gele­gen haben.

 

 

Deutungsangebote für die Fangemeinde

 

Tatsächlich folgt die Karriere des Wertewandels mehr den Ge­setzen des Marketing und des "scien­ti­fic adverti­sing" als den Prinzipien der Wissen­sch­aft­slehre Popperscher Provenienz. Nach dem in der Werbewirt­schaft seit Jahren erfolgreich ange­wandten "Givethempic­tu­res"Prin­zip funktio­nier­te nicht nur die als Theoriebau­stein in der Werte­wan­del­theo­rie verwendete Be­dürfnis­pyrami­de. Auch ande­re bildhafte und entsprechend einfache Konzeptualisie­rungen, wie Bol­tes Sc­hic­h­tungszwie­bel zur Abbildung der sozia­len Un­gleichheit im Westdeutschland der 50er und 60erJahre, die Vierfeldertafeln Robert Mer­tons zur klassifikatorischen Dar­stellung abweichenden Verhal­tens oder das AGILSchema von Tal­cott Parsons zur B­eschreibung der vier grundlegenden Sy­stem­funk­tionen "Adaption", "Goal Attainment", "Inte­gration" und "Latent Pattern Maintenance", waren auf die­se, mehr die Sin­nes­erfahrung der doxischen (Alltags)Wahrnehmung als den analytisch geschulten (Sach)Verstand der WissenschaftlerIn­nen an­spre­chende Weise erfolg­reich.

 

Nun machen die Vagheit des wohlklingenden Begriffs oder der Wiedererkennungswert der vertrauten Verein­fa­chung allein noch kein For­sch­ung­s­programm oder ein wissen­schaft­li­ches Thema von solch allge­meinem Aufmerk­samkeits­wert aus. Neben der Bild­haf­tigkeit ein­präg­samer Formu­lierun­gen und der All­tagsplau­sibli­tät war es im Falle des Wertewandels vor allem die Koinzi­denz unter­schied­li­cher Not­stände, die seine Karriere be­gün­stigt haben: Eine die Man­gel­hypo­these bestäti­gende Theo­rie­sehn­sucht einer theorie­armen (Sozial)Wissenschaft stieß auf den Thera­pie­be­darf einer wertarmen Poli­tik. Beide zusammen trafen auf eine krisen­hafte Orien­tie­ru­ngs­lo­sig­keit einer Gesellschaft, deren Mitglie­der ein umso aus­ge­prägte­res Be­dürf­nis nach ex­per­ten­haft auto­risier­ter Stan­dort­be­stim­mung hatten. In dieser Situation wurde die Soziologie zur willkommenen Liefe­rantin von Deutungsange­bo­ten für die Bevölkerung. Dadurch, dass sie deren Bedürfnisse be­diente und ihre Nach­frage zu befriedigen trachtete, geriet sie in die Ab­hängigkeit einer Öf­fentlichkeit, die nicht aufge­klärt, sondern in ihren VorAhnun­gen und VorUrteilen be­stätigt werden will.

 

Dies wie­derum hat zunächst einmal Konsequenzen für die Soziolo­gie selb­st. Sie kann, wie eingangs ausgeführt, mit ex­terner Nachfrage nach pra­xisrelevantem Wissen nicht umge­hen, ohne in­tern mit es­sen­tiellen metho­dolo­gi­schen und erkennt­nis­theoreti­schen Fragen konfrontiert zu wer­den. Zum Spiel­ball systemfremder Einflußnahme geworden geht sie dazu über, die in­ner­wissen­schaftlichen Krite­rien Objek­ti­vi­tät, Vali­dität, Re­lia­bili­tät und Repräsenta­tivität durch die abneh­mer­orientierten Qua­li­tätsmerk­male Glau­bwür­digkeit und Ver­trau­en zu er­setzen. Die be­gehr­liche Rezeption und nur des­halb so er­folg­reiche Produktion sozio­logi­scher Gesell­schafts­diagno­sen wirft aber auch ein be­zeich­nendes Licht auf unse­re Wis­sen­schafts­kultur. In ihr wird nicht mehr das nach wissen­schaft­sin­ter­nen Maßstäben über­legene Wissen rezi­piert; über­legen ist, was gesell­schaftlich nachge­fragt wird. Nicht Qualität setzt sich durch, etwas hat Qualität, weil es sich durchgesetzt hat. Wis­sen­schaf­tliches Wissen wird zur Ware, deren Wert vom Käufer und nicht vom Ur­teil des Ver­käu­fers ab­hängt in bezug auf die Menschenwürde schon bei Tho­mas Hob­bes im Levi­athan (1651) nachzu­lesen. Nicht zufällig haben die Kredibilität, also die Glau­bwür­dig­keit, und der Kredit denselben Wort­stamm. Maß­stab ist eine mitt­lerwei­le gesell­schaftsweit gene­ra­lisier­te Kun­den­zu­frie­den­heit, bei der nicht mehr, wie einer der Gründerväter der Sozio­logie, Auguste Com­te, sich das gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts vor­ge­stellt haben mag, die Sozio­logen Könige sind, son­dern der Kunde König ist. Rele­vanz bestimmt sich über Akzep­tanz  und nicht umge­kehrt.[21] Seitdem gilt auch für die Quali­tät wis­sen­schaf­tlicher Ergebnisse das Kri­terium einer "cus­to­mers' satis­fac­tion".

 

Wie der Staats­bürger durch den "Ein­ka­ufs­bürger" (Sznai­der 1999: 395) abge­löst und der zertifizierte Sozio­loge dem Goul­dner­schen "bro­ther so­ciologist" immer ähnlicher wird, so wandelt sich der Wissen­scha­ftler vom (Privat)Ge­lehr­ten zum extrovertierten Wis­sens­ver­käu­fer und akade­mi­sch ausgewiesenen PRManager. Der ver­pönte Popu­lär­wissen­schaft­ler wird zum populä­ren Wis­sen­schaft­ler, den die stimmungsabhängige Anti­pa­thie der Fange­meinde im Zwei­fel här­ter trifft als die kalku­lierbare Kol­legen­kritik der Wissen­schafts­ge­mein­schaft. Damit ist Wissen­schaft nicht mehr, was Wissen­schaftler ma­chen. Heute ist Wissen­schaft das, was Wissenschaft­lern  und gelegentlich auch Wis­senschaft­lerinnen  als Wissen­schaft abge­nommen wird. Nicht nur in Glau­bens­din­gen wurden aus Gläubi­gen Gläubi­ger.

 

Literatur

 

 

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    [1]Der Artikel basiert auf einem Vortrag der Verfasserin an der Universität Bonn anläß­lich des "dies academicus" im Wintersemester 1999/2000.

    [2]Die vorgeschlagene Defini­tion geht auf eine Un­ter­sc­hei­dung des amerikani­schen So­ziologen Alvin Gould­ner von So­zio­lo­gen und All­tags­men­schen zu­rück und verknüp­ft diese mit Grund­ein­sich­ten der Begrün­der einer Phänome­no­logi­schen und Ver­stehen­den So­ziolo­gie, Alfred Schütz und Max Weber.

    [3]Eine "echte" Kausalerklärung besteht aus einem Explanans und einem Explanandum, wobei sich das Explanans, also der er­klärende Teil der Erklärung, aus den veränderbaren Rand oder auch AntecedensBedingungen und einem feststehenden allgemeinen Gesetz zusammensetzt, während das Explanandum, also der zu er­klären­de Teil der Erklärung, aus einem erklärungsbedürftigen Sachverhalt oder Einzelereig­nis besteht.

    [4]Dem Etikettierungsansatz ("labeling appro­ach") zufolge sind soziale Abweichungen Resultate gesellschaftlicher Zuschrei­bungs­prozesse. Sie entstehen erst sekundär, in Reak­tion auf die Reak­tionen des sozialen Um­feldes, und sind nicht primär Eigen­schaf­ten oder Merk­male des betreffenden Ver­haltens selbst.

    [5]Die nicht immer unmittelbare oder offen­kundige Praxisrele­vanz der Soziologie belegen die Befunde aus dem von der Deut­schen Forschungs­gemeinschaft (DFG) finanzier­ten Schwerpunkt­pro­gramm: "Verwendung sozialwis­senschaftlicher Ergebnisse". Als Überblick über eine Auswahl unter­suchter Praxisfelder siehe Beck/Bonß (19­89).

    [6]Zum Zwecke eines besseren Weltverständnisses machte man sich dabei als Teil einer ordnungschaffenden Kulturleistung die Dop­peldeu­tig­keit der latei­nischen "cau­sa" als der ver­hal­tens­theore­tisch kon­zep­tuali­sier­baren, kausalen Ursa­che und der hand­l­ungs­theo­retisch zu begrei­fen­den, subjekti­ven Sch­uld zunut­ze.

    [7]Stell­vertretend für eine Fülle von in ihrem Rahmen ent­stande­ne Untersuchungen und die hier­durch begründete For­s­chungstradition Klages/Hippler/Herbert (199­2).

    [8]Für eine genaue zahlenmäßige Übersicht über die seitdem durchge­führten Wertewandelstudien Meulemann (1998: 258, Tab. 1).

    [9]Für Japan und die osteuropäischen Länder Janssen/Möhwald/Ölschläger (1996).

    [10]Die Bedürfnispyramide unterscheidet (physische) Versorgungs und Sicherheitsbedürfnisse, (soziale) Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Achtung sowie ästheti­sche und intellektuelle Bedürfnisse.

    [11]Wir alle kennen vermut­lich älte­re Men­schen, die den Krieg, mög­licherweise sogar beide Welt­krie­ge, miterlebt haben und auch als inzwi­schen finan­ziell gutgestellte Pen­sionä­rInnen kein Stück Brot wegwer­fen kön­nen.

    [12]Demgegenüber bildet Klages fünf Werttypen und unterschei­det ordnungsliebende Konventionalisten, perspektivelose Resi­gnierte, aktive Realisten, hedonistische Materialisten und non­konforme Idealisten (Greiffenhagen 1998: 442, M 31).

    [13]Die den Index konstituierenden "items" beziehen sich auf stabile Preise und starke Ver­teidigungskräfte am materialisti­schen Ende der InglehartSkala und Mitbestim­mungsrechte, politische Beteiligung und äs­thetische Präferenzen an ihrem post­mate­rialistischen Ende.

    [14]Die betreffende Frage, auf die in Westdeutschland immer schon häufiger mit "Freiheit" und in Ostdeutschland nach einer mit dem Fall der Berliner Mauer vorüberge­hend umge­kehrten Wert­präferenz in den 90er Jahren wieder häufiger mit "Gleich­heit" ge­ant­wortet wurde, lau­tete: "Sind Sie eher für die Frei­heit des ein­zelnen oder eher für soziale Gleic­hheit?" (Grei­ffen­hagen 1998: 450, M 39).

    [15]So assoziierten 1995 OstbürgerInnen mit dem Begriff "Mark­twirtschaft" nach Warenangebot (99 %) vor allem Arbeits­losigkeit (94 %) und mit "Planwirtschaft" in erster Linie sozia­le Sicher­heit (73 %). WestbürgerInnen dagegen brachten die "Mar­ktwirt­schaft" nach dem Warengebot, das auch bei ihnen mit 91 % an der Spitze stand, insbesondere mit Leistung (88 %) und Erfolg (78 %) in Verbindung und assoziierten mit "Planwirtschaft", nämlich zu 43 %, am häufigsten Ausbeutung (Greiffenhagen 1998: 452, M 41).

    [16]In den USA bezeichneten sich 1990 33 %, in West­deutsch­land 35 % und in Schwe­den 49 % der Bevöl­kerung als umwelt­bewußt. 74 % der USBürgerInnen waren bereit, zugunsten des Um­weltsc­hutzes auf einen Teil ihres Ein­kommens zu verzich­ten. In Schweden waren dies 82 %, in West­deut­schland aber nur 52 % (Ester / Halman / de Moor 1994: 168).

    [17]Angeführt wurde diese "civildisobedience"Skala von Däne­mark mit 18 %, Italien mit 10 % und Großbri­tan­nien mit 9 % der Be­völkerung, die sich schon einmal an Aktionen zivilen Ungehorsams beteiligt hatten. In Deutschland waren dies nur 3 % der Befrag­ten (Ester / Halman / de Moor 1994: 87).

    [18]Abgefragt wurden in der Reihenfolge der Vertrauensnen­nungen in Deutschland die Institutionen: Polizei, Rechtssy­stem, Bildungssy­stem, Parlament, Str­eit­kräf­te, Kirche, Verwal­tung, Ge­werkschaft, Pres­se. Dabei hatten die deutschen Streit­kräfte einen erheb­li­chen Vertrauen­verlust (von 51 % zu Beginn der 80er Jahre auf 39 % im Jahr 1990) und das Bildungssystem während des­selben Zeitraums einen bemerkenswerten Ver­trauens­gewinn (von 43 % auf 53 %) zu ver­zeichnen. Das geringste Vertrauen wurde in Deutschland der betreffenden Studie zufolge mit 34 % der Presse ent­gegengebracht. Mit 36 % schnitten die Gewerk­schaften nur ge­ringfügig besser ab (Greiffenhagen 1998: 424/5, M 14).

    [19]Nach den World Value Studies 1990 rangierte die Familie im europäischen Durchschnitt mit 83 % der Nennungen ("was einem im Leben wichtig ist") auf Platz 1. Mit großem Abstand ge­folgt wurde sie von der Arbeit (56 %), Freunden und Bekannten (45 %) sowie der Frei­zeit mit 39 % (Im­merfall 1997: ­143).

    [20]Zum differenzierteren Erkenntnisstand siehe Frommel/Gess­ner (1996).

    [21]Zu dem dahinterstehenden, derzeit gesamtgesellschaftlich beobacht­baren Phänomen einer Umkehr von systemseitiger Legitima­tion und subjektseitiger Akzep­tanz in Weiterfüh­rung bisher ein­seitiger soziologi­scher Legitima­tionsdebat­ten unter dem Asp­ekt der ge­sellschaftlichen Akzeptanz siehe Lucke (1995).

 


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