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Politik und Gesellschaft
Online International Politics and Society 4/2000 |
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Doris Lucke Wirklichkeitskonstruktion als Ware: "Der Wertewandel" in der westlichen
Welt Wie kaum eine andere Gesellschaftsdiagnose des letzten
Viertels des vergangenen Jahrhunderts hat der "Wertewandel"
international Karriere gemacht und die Diskussionen innerhalb und
außerhalb der Sozialwissenschaften in Deutschland, aber auch in zahlreichen
westlichen Industrieländern und in den USA angeregt. Besondere Bedeutung
gewinnen diese Diskssionen im Kontext der Globalisierung und der
europäischen Einigung und Erweiterung, die nach der deutschen Wiedervereinigung
einen der bedeutsamsten makrosoziologischen Transformationsprozesse
und eine der größten inner und zwischengesellschaftlichen Herausforderungen
darstellt. Bis heute sind nicht nur die Werthaltungen im westlichen
und östlichen Teil Deutschlands geteilte in dem Sinne, dass sie die
Sprache beim Wort genommen nicht von allen BürgerInnen geteilt werden,
also gerade keine gemeinsamen sind. Auch das auf sozialstruktureller
Ebene konstatierbare Modernisierungsgefälle in Europa ist nicht deckungsgleich
mit den heterogenen, in sich keineswegs konsistenten Wertkulturen
der einzelnen Länder auf soziokultureller Ebene. Wenn aus der Währungsgemeinschaft
eine Wertegemeinschaft werden soll, innerhalb der die national unterschiedlichen
Wertelandschaften Europas, die momentan noch in eine skandinavische,
romanische und germanische Wertefamilie zerfallen, in Zukunft
unter einem gemeinsamen Wertehimmel blühen, bedarf es nicht nur
einer europäischen Währungs, sondern auch einer sozialwissenschaftlich
fundierten Wertepolitik. Damit besteht sowohl praktischpolitischer
Gestaltungsbedarf als auch ein hiermit korrespondierender,
vor allem international und interkulturell vergleichender Forschungsbedarf. Vor diesem Hintergrund geht der nachfolgende Beitrag[1]
aus soziologischer Sicht der Frage nach den Erfolgsbedingungen
der in vielerlei Hinsichten erstaunlichen und
so steht zu erwarten nachhaltigen Begriffskarriere des
"Wertewandels" nach. Gleichzeitig wird an seinem Beispiel
in einer wissenschaftskritischen Perspektive auch die Diagnosefähigkeit
der Sozialwissenschaften und ihr praktischpolitischer Anwendungsbezug
überprüft. Der inflationäre Gebrauch des mittlerweile fast schon
geflügelten Wortes "Wertewandel" verlangt zunächst nach
einigen allgemeinen Anmerkungen zur soziologischen Gesellschaftsdiagnose. Verschlagwortung ohne Erklärung: soziologische
Gesellschaftsdiagnosen Gesellschaftsdiagnosen werden in der Soziologie synonym
zu Gesellschaftsmodellen, Gesellschaftstheorien, Gesellschaftskonzeptionen,
Gesellschaftsanalysen oder Gesellschaftstypologien gebraucht (Papcke
1991; Kneer/Nassehi/Schroer 1997; Immerfall 1998). Viele dieser
Diagnosen sind, wie in der Medizin, wo der Diagnosebegriff ursprünglich
herkommt und dort der Identifikation von Krankheiten und sonstigen
Anomalien dient, Krisendiagnosen, die sich auf einschneidende
gesellschaftliche Veränderungen beziehen und epochale Umbrüche
markieren. Dem hier gemachten Definitionsvorschlag[2]
zufolge sind Gesellschaftsdiagnosen zeitgeistkompatible Echtzeitdiagnosen
von Zeitgenossen mit sozialwissenschaftlichen Abschlüssen,
die mit den Diagnosen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
ohne Diplom mehr oder weniger übereinstimmen und die Schützschen
Typifikationen (Schütz 1974, 1932) erster Ordnung (das sind die
für das Gelingen jeder Interaktion unverzichtbaren VorUrteile
der Alltagsmenschen) in die typisierenden Erwartungen zweiter
Ordnung (das sind die Typenbildungen der Soziologie) übersetzen.
Schlaglichtartig überhöht und hierin den Weberschen Idealtypen
(Weber 1980: 1ff., 1921) gleichend bringen sie diffuse Wahrnehmungen
auf den Begriff und Unbegriffenes auf den Punkt. Dabei bedienen
sie sich der Kunstgriffe eines sozialwissenschaftlich inspirierten
Pointilismus auch kunstgeschichtlich Vorstufe zur abstrakten
Malerei und einige malen, die Moden des "mainstream"
ignorierend, das Bild der Gesellschaft gegen den Strich.
Bei den Zeitdiagnosen der Soziologie handelt es sich
um selektiv generalisierte Gegenwartsbeschreibungen von
"Spezialisten für das Allgemeine" (Axel Honneth), die
in aller Regel durch tiefreichende Irritationen des sozialen Lebens
ausgelöst werden. In Sternstunden sozialwissenschaftlicher Erleuchtung
bringen diese Irritationen selbst Angehörige einer Profession in
Bewegung, die sich ansonsten eher durch expost als durch adhocAnalysen
auszeichnet, und setzen deren VertreterInnen instand, ihren ob zahlreicher
Überraschungen sprachlosen MitgesellschafterInnen die wissenschaftlich
verbürgten Stichworte zu liefern. Mit ihren Diagnosen leisten
SoziologInnen Beiträge zur Verschlagwortung einer Gesellschaft,
deren Mitglieder sich ihrer eigenen Richtigkeits und Wichtigkeitsvorstellungen
nicht mehr sicher sein können. Deswegen müssen sie sich über das
nicht mehr, gerade noch oder schon wieder (Von)Selbstverständliche
stets aufs Neue selbstvergewissern. Indem sie in diese (Un)Gewißheitslücken treffen, erfüllen
soziologische Zeitdiagnosen Thematisierungs und Orientierungsfunktionen.
Als fokussierte Momentaufnahmen erbringen sie in Einzelfällen
Dramatisierungsleistungen, etwa wenn es mit ihrer Hilfe gelingt,
die öffentliche Meinung nicht nur für ein Thema zu interessieren,
sondern darüber hinaus die Meinungen zu diesem Thema so zu orchestrieren,
dass sie die Partitur für ein Konzert abgeben, das anschließend über
mehrere Saisons vor ausverkauftem Haus gespielt wird. Gelegentlich
erfüllen diese Diagnosen auch Beschwichtigungs und Verschleierungsfunktionen.
Dies ist der Fall, wenn sie sich anbahnende Entwicklungen mit
hochsensiblen Instrumenten in statu nascendi erkennen und Missstände
gleichsam in flagranti aufdecken, dabei aber den Mantel der
wohlfeilen Schnelldiagnose auf die Wunden der Gesellschaft legen,
die sie mit wissenschaftlich verbrämten, als Theorien ausgegebenen
Tautologien so gründlich zudecken, dass weitere Nachfragen überflüssig
erscheinen. Bei den Diagnosen der Soziologie handelt es sich erstens
um Diagnosen ohne Diagnostik
(so auch Meulemann 1998: 271), also um unvollständige und methodisch
unzureichend begründete Diagnosen. Soziologische Zeitdiagnosen sind
beschreibende (deskriptive), gelegentlich auch bewertende (evaluative)
Zurechnungen von Sachverhalten und Einzelerscheinungen auf ein
Gesellschaftsbild. Maßgeblich ist, dass diese Erscheinungen das
können Einstellungen und Verhaltensweisen, aber auch soziale
Probleme sein für die Bestimmung eines Gesellschaftszustands
und die Befindlichkeit ihrer Mitglieder von denjenigen, die diese
Diagnosen stellen, für wichtig gehalten werden und ihnen als
fundierte Vorlage für ein Zeitgemälde geeignet erscheinen, das
diese Zustände und Befindichkeiten realitätsgerecht abbildet und
zutreffend charakterisiert. Diese Zurechnung geschieht jedoch,
anders als in Medizin oder Psychologie, ohne im Fach allgemein anerkannte
Verfahren der Diagnosestellung, die dann auch Grundlage einer,
in der Regel in die Kompetenz desselben Fachs fallende Handlungslehre
bilden könnten, was im Falle der Soziologie die wissenschaftlich
angeleitete Gesellschaftstherapie wäre. Tatsächlich ist die
Diagnostik von Gegenwartsgesellschaften weder Bestandteil
der soziologischen Methodenlehre noch gehört sie zum festen
Wissenskanon des Fachs. Auch die Therapie als das logische Gegenstück
der Diagnose fällt nicht genuin in den Gegenstands und Kompetenzbereich
der Soziologie. Gesellschaftsdiagnosen sind, obwohl häufig synonym verwandt,
keine Gesellschaftstheorien. Bei soziologischen Zeitdiagnosen handelt
es sich in aller Regel nicht
um widerspruchsfreie Sätze mit einem entsprechend dem HempelOppenheimSchema
deduktivnomologischen Kern, also mit einem allgemein gültigen Gesetz.
Gesellschaftsdiagnosen bestehen auch nicht aus empirisch widerlegbaren
Aussagen, sondern es handelt sich um zumeist flächendeckende Deutungen
mit Hilfe allgemein gehaltener Begriffe und unzureichender Datenbasis,
bei denen gegenwartsbezogene Simplifizierungen die Grundlage
in die Zukunft gerichteter Spekulationen bilden und Aussage
und Voraussage unzulässigerweise gleichgesetzt werden. Ohne Einbettung
in eine Theorie des sozialen Wandels und entsprechende gesellschaftstheoretische
Grundierung sind die herkömmlichen Gesellschaftsdiagnosen
nicht mehr als ein am Spiegel der öffentlichen Meinung kleben
gebliebenes Etikett, das die in Wirklichkeit schuldig gebliebene
Erklärung verdeckt.[3]
Da sie im wissenschaftstheoretisch strengen Sinne nichts
kausal erklären, können Diagnosen auch nichts prognostizieren.
Vielmehr sind sie Teil jener Wirklichkeitskonstruktionen, an deren
Erschaffung und Aufrechterhaltung sie mitwirken. Indem sie dies
tun, machen sie den hermeneutischen Zirkel zwischen der Diagnose
und den diagnostizierten Symptomen unsichtbar: "Kaufhof,
das Erlebnishaus", "Entdecke die Möglichkeiten"
natürlich bei IKEA und "Work hard, have fun, get the feeling"
(Nike) alimentieren sich aus dem zuvor von den Zeitdiagnostikern
selbst angelegten Aufmerksamkeitsvorrat und bestätigen nachträglich
das in seinem Wahrnehmungsfokus entstandene Bild von der "Erlebnis"
(Schulze 1992), "Multioptions" (Gross 1994) oder Spaßgesellschaft.
Wie nach der Etikettierungstheorie[4]
der von anderen "Dieb" Genannte tatsächlich stiehlt,
so werden soziologische Zeitdiagnosen als WahrSagen
im alltagssprachlichen Sinne
wahr. In der Einleitung zu dem 1998 erschienenen Sonderheft
38 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
mit dem Titel "Die Diagnosefähigkeit der Soziologie"
wird zwischen Protagonisten, konstruktiven Skeptikern und Puristen
unterschieden. Während erstere von der Diagnose als einer Hauptaufgabe
der Soziologie überzeugt sind und in ihr eine, wenn nicht die
spezifisch soziologische Bringschuld an die Gesellschaft sehen
und die zweite Gruppe bei prinzipieller Berechtigung der Diagnosestellung
theoretische und systematisierende Anstrengungen und entsprechende
Nachbesserungen für nötig und möglich! hält, stellen letztere
beides in Abrede und kapitulieren mit Luhmann (Luhmann 1997) vor
der Komplexität und Kontingenz der sich mit verstärkter Sensiblität
für Systemstörungen selbst beobachtenden und beschreibenden Gesellschaft.
Die Herausgeber geben sich in ihrem Editorial salomonisch und gelangen
zu einem moderiert "skeptischen Urteil über die Möglichkeiten
der Soziologie, aufgrund ihres Erkenntnisstandes und ihrer bewährten
Theorien fundierte Diagnosen und Prognosen geben zu können"
(Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998: 27). Mit der suggestiven Gleichsetzung
von Diagnose und Prognose werden indes zwei Selbstmißverständnisse
der Soziologie reproduziert: ·
Das explanatorische Selbstmißverständnis
der Soziologie als einer erklärenden Gesetzeswissenschaft, wie
es seit der mit Thomas Kuhns "Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen" (Kuhn 1970, 1962) vollzogenen Entzauberung
der Naturwissenschaften und Anthony Giddens gegen Durkheim entwickelten
"New Rules" einer interpretativen Soziologie (Giddens
1984, 1976) ausgeräumt geglaubt war. ·
Das von Auguste Comte ("Voir pour savoir, savoir pour prévoir")
wesentlich mitbegründete Missverständnis von der Soziologie als
einer prognostischen Wissenschaft. Darüber hinaus offenbart sich in dieser (Fehl)Einschätzung
ein prinzipielles Diagnosedilemma der Disziplin: Stellt die Soziologie
Diagnosen, unterliegt sie interner Kritik an ihrer Leistungsfähigkeit.
Stellt sie keine Diagnosen, setzt sie ihre Existenzberechtigung
aufs Spiel. Dergestalt zwischen der Skylla berechtigter Erwartungen
und der Charibdis tiefer gehängter "Erwartungserwartungen"
(Luhmann 1997) schlingernd liegen Gesellschaftsdiagnosen als Teil
eines gesellschaftsdiagnostischen MegaTrends ihrerseits im Trend.
In der Tat schießen die soziologischen Gegenwartsbestimmungen seit
den 70er Jahren mit anhaltender Hochkonjunktur und sich teilweise
widersprechender Diagnose (stellvertretend Heitmeyer 1997) wie Pilze
aus dem Boden. Im Wettrennen um das interessantere Interpretament
ist bei weiter steigender Tendenz mittlerweile ein Massenproduktionsstand
erreicht, auf dem sich die zurecht verwirrte Frage aufwirft: "In
welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?" (Pongs 1999)
so der programmatisch
passend in einem DilemmaVerlag erschienene Titel eines zweibändigen
Übersichtswerkes, in dem zwischen gespaltener, flexibler, multikultureller,
Risiko und SingleGesellschaft nur noch die Diagnose: Diagnosegesellschaft
fehlt. Die darin versammelten Autorennamen lesen sich von Lord Ralf Dahrendorf (soweit können es
Soziologen bringen!) über Ulrich Beck bis Claus Offe wie ein "Who is Who" der zeitgenössischen "malestream"Soziologie.
Die Vielfalt der dort von der Gegenwart gezeichneten Gesellschaftsbilder
ist Ausdruck einer auch noch in ihren Selbstauslegungen multioptionalen
Epoche. Entsprechend der Wissenssoziologie und der von ihr angenommenen
"Seinsgebundenheit des Denkens" (Karl Mannheim) kann
ihr Facettenreichtum als Spiegelbild einer unter dem unterschätzten
Einfluß der Soziologie[5]
komplexitätssensibel, kontingenzbewußt und konstruktionsgewahr
gewordenen Gesellschaft gelten, deren Mitglieder noch nie so
viel über deren aktuellen Zustand wußten und damit auch noch nie
soviel nicht wußten und die deswegen immer mehr vor allem auch über die
eigene Zukunft wissen, aber offenbar so
genau dann auch wieder nicht wissen wollen. Anders ist das begierige
Aufgreifen der pointierten Pauschaldiagnose bei gleichzeitiger
Ignoranz differenzierender Deutungsansätze und noch komplizierterer
Erklärungsversuche durch eine so gesehen nur halbwegs interessierte
Öffentlichkeit nicht zu begreifen. Das mit Suggestivwirkung diagnostisch
Identifizierte ist in Wirklichkeit aber nur Angedeutetes und
mit einem Begriff Belegtes, wie es der quasikausalen (Um)Deutung
rätselhafter Erscheinungen und deren (Hoch)Stilisierung zu Symptomen
als Möglichkeitsbedingung für deren Zurechnung auf wie immer geartete
Ursachen kulturhistorisch schon immer eigen war.[6] Der Wertewandel: universeller Legitimations
und Argumentationstopos Beginnend mit der von Ronald Inglehart, einem amerikanischen
Politologen, in den 70er Jahren entwickelten Wertewandeltheorie
und seinem Buch: "The Silent Revolution" (Inglehart 1977)
liest sich die Erfolgsstory dieses Longsellers weniger als Karriere
eines wissenschaftlichen Konstrukts denn als Promotion eines
Produkts. Der Entdecker des Wertewandels trat als Theoriebilder
an und war wie Kolumbus, der gen Indien aufbrach und in Amerika
landete als Themenunternehmer und Erfinder weltweit erfolgreich.
Wie im folgenden näher ausgeführt werden soll, handelt es sich bei
der Wertewandeltheorie um die Geschichte eines nach allen Regeln
der Kunst vermarkteten Irrtums. Sein Erfolg machte einen in den
Theorien des sozialen Wandels und in der international vergleichenden
Sozialstrukturanalyse bis dato eher unbeachteten Restposten zum
Renner und aus der "quantité négligeable" einen Kalkulationsfaktor,
mit dem heutzutage nicht mehr nur in der Soziologie, sondern auch
in der Politik gerechnet wird. Einmal in die Welt gesetzt erwies sich das Schlagwort
vom "Wertewandel" als ImportExportSchlager nicht nur
zwischen den Industrieländern dies und jenseits des Atlantiks,
sondern auch als gut gehende Handelsware im Tauschgeschäft zwischen
den Disziplinen, die mit dem richtigen "timing" ausgestattet
eine Welle von Nachfolgeuntersuchungen produzierte, deren
Flut erst jetzt, nach fast 30 Jahren, abflaut. Allein zum Wertewandel
in Deutschland waren es in
Marktführerschaft des Soziologen Helmut Klages und der von ihm
initiierten Speyerer Werteforschung[7] nach einer vom Informationszentrum Sozialwissenschaften
(IZ) vorgenommenen Auszählung der SOLISDatenbank zwischen 1970
und 1997 ca. 1.700 Einzeluntersuchungen, die sich beschreibend,
empirisch oder theoretisch mit dem Wertewandel beschäftigten.[8]
Parallel dazu entstand mit dem European Value Survey (EVS) und
den World Value Studies (WVS) eine europäische und eine Weltwerteforschung,
eine Art Soziometereologie. Zusammen mit dem Eurobarometer beleuchtet
sie, durch das International Social Survey Program (ISSP) und
das Sozioökonomische Panel (SOEP) ergänzt, in regelmäßigen Abständen
die Wertgefüge und Großwetterlagen von Gegenwartsgesellschaften.[9]
Ende der 70er Jahre hat allen voran Helmut Klages Ingleharts
Thesen aufgegriffen. Er konstatierte etwas differenzierter,
aber immer noch relativ pauschal ein Sinken von Pflicht und Akzeptanzwerten
(hierzu zählen u.a. die Werte Disziplin, Gehorsam, Leistung und
Ordnung) bei gleichzeitiger Zunahme von Selbstentfaltungswerten (das sind z.B. Emanzipations, Partizipations
und Autonomiewerte, aber auch Spontaneität und Kreativität). Seine
Thesen wurden zunächst von Kassandrarufen aus Allensbach "Werden wir alle Proletarier?"
(NoelleNeumann 1978) begleitet,
später auch mit publizistischer Unterstützung, etwa durch Ulrich
Wickerts Buch: "Die Ehrlichen sind die Dummen" (Wickert
1994), innerhalb und außerhalb der Soziologie in einer in der Bevölkerung
weitverbreiteten Untergangsstimmung vor allem als Wertverfall
diskutiert. 1989 folgte Ingleharts "Kultureller Umbruch"
mit dem Untertitel "Wertwandel in der westlichen Welt"
(Inglehart 1989). 1998 erschien von den ursprünglich sechs auf
mittlerweile 43 Länder erweitert sein Buch "Modernisierung
und Postmodernisierung" (Inglehart 1998). Parallel dazu formierte
sich mit dem Grundtenor "Faktum oder Fiktion?" (Luthe/Meulemann
1988) eine im Vergleich dazu eher unerhört gebliebene Kritik, die
zehn Jahre später und im Ton schärfer mit "Unscharfe Thematik,
unbestimmte Methodik, problematische Folgerungen" (Meulemann
1998) titelte. Der dort und anderswo artikulierten Einwände ungeachtet
avancierte die Wertewandeltheorie kritikimmun und empirieresistent
zum universell einsetzbaren Legitimations und Argumentationstopos
überall da, wo die Zurechenbarkeit gewandelter Einstellungen
und Verhaltensweisen auf strukturelle Unterschiede allein nicht
mehr gegeben war und die herkömmlichen Parameter und Faktorenanalysen
an ihre Grenzen stießen. Inzwischen ist der "Wertewandel"
als eigenständiges Stichwort in Handwörterbüchern und einschlägigen
Nachschlagewerken vertreten und begleitet als Lern und Prüfungsstoff jedes ordentliche Soziologiestudium. Der
mittlerweile in mehreren Auflagen erschienene Sammelband "Wertwandel
und gesellschaftlicher Wandel" (Klages / Kmieciak 1979, 1984)
gehört zum Standardinventar soziologischer Seminarbibliotheken. Materialisten und Postmaterialisten in
Theorie und Praxis Irreführend ist schon die Begriffswahl: Was der "Wertewandel"
begrifflich belegt, ist bei Lichte betrachtet kein Wandel von Werten,
sondern eine gewandelte Einstellung zu bestimmten Werten. Letztlich beschreibt
der Begriff nichts anderes als veränderte Werthaltungen, deren
Zielobjekte sich ihrerseits in Bewegung befinden. Als (sich selbst
wandelnde) Untersuchung des Wandels in der Wahrnehmung des SichVerändernden
setzt sie konstante Vorstellungen von Werten und von Wandel voraus,
um etwas derart Voraussetzungsreiches wie den Wertewandel überhaupt
erfassen zu können. All dies macht die gesamte Wertewandelforschung
so schwierig. Auch der theoretische Gehalt und der logische Aufbau im
engeren Sinne nehmen sich bei genauerer Betrachtung eher bescheiden
aus. Die sogenannte Theorie besteht aus nicht mehr als zwei eklektizistisch
herausgegriffenen und lose miteinander verbundenen Thesen,
von denen die eine mehr anthropologisch und psychologisch, die andere
von der Kernaussage her sozialisationstheoretisch begründet ist.
Beide Thesen sind nicht ganz neu und zielen, wie in der Unterhaltungsliteratur,
auf AhaEffekte und DéjàvuErlebnisse bei den LeserInnen: Das
ist zum einen die an Maslows Bedürfnishierarchie (Maslow 1977,
1954) angelehnte Mangelhypothese, die bereits in den 50er Jahren
für die Psychologie entwickelt wurde, und zum anderen die mit
der allgemeinen Lebenserfahrung und altbewährten Erziehungsidealen
übereinstimmende Sozialisationshypothese. Die erste Hypothese besagt, dass von physischen über
soziale zu ästhetischintellektuellen Bedürfnissen aufsteigend[10]
Menschen diejenigen Werte besonders hoch schätzen, bei denen
die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt
nur sehr unzureichend befriedigt sind. Der zweiten Hypothese zufolge
bestimmen die formativen Jahre in Kindheit und frühem Jugendalter
die Werthaltungen für den Rest des Lebens und lassen spätere Änderungen
nur noch in geringerem Umfang zu, wobei vor allem eine radikale Umkehr
einmal erworbener Werte unwahrscheinlich ist.[11]
Aus beiden Thesen zusammengenommen entwickelte Inglehart zwei
Typen von Wertträgern: ·
Materialisten, die vor allem Sicherheit,
Wohlstand und Geldwertstabilität wollen, und ·
Postmaterialisten, denen Mitbestimmung
am Arbeitsplatz, Redefreiheit und schöne Städte mehr wert sind.
Von letzteren, den Postmaterialisten, nimmt er an,
dass sie erstens zahlenmäßig zunehmen und sich zweitens in Zukunft
verstärkt an Aktionen unkonventioneller politischer Partizipation
beteiligen werden.[12] Schon die Gegenüberstellung von Materialisten und Postmaterialisten
und das zu ihrer Abgrenzung benutzte "Post"Präfix eine
mehr der Verlegenheit als der Unterscheidungskraft entspringende
Sprachmode ist nicht sonderlich originell. Binär codiert kommt
sie jedoch der zweistelligen Logik abendländischer Denkgewohnheiten
entgegen und hat sich vermutlich allein schon deshalb durchsetzen
können. Darüber hinaus erfüllt die Wertewandeltheorie mit dieser
Zweistelligkeit die formale Anforderung des "Draw A Distinction",
wie sie als Unterscheidungsleistung das impliziert das Wort
"Diagnose am Anfang jeder Theoriebildung stehen sollte.
Der Typenbildung nach Materialisten und Postmaterialisten
liegen auch in dieser Beziehung nicht besonders anspruchsvoll
per "items" erhobene Einstellungen zu vorgegebenen
"issues" zugrunde. Zum InglehartIndex[13]
verdichtet und anschließend „verclustert“ erinnern die auf diese
Weise gebildeten Typen in der Holzschnittartigkeit abstrakter
Wertabfragen und ihrer bis zu einem gewissen Grade willkürlichen
Skalierung mehr an die Grenzziehungen in der USamerikanischen
Siedlungsgesellschaft als an eine sorgfältig vermessene Wertelandschaft.
Da zusätzlich insbesondere im interkulturellen und internationalen
Vergleich die Validität der erfragten Aussagen zugunsten einer
besseren Vergleichbarkeit der gegebenen Antworten wegoperationalisiert
wurde und man die Indikatoren aus ähnlichen Gründen entkontextualisierte,
also aus ihrem kulturellen und situativen Rahmen riß und ihrer
sozioökonomischen Randbedingungen entledigte, müssen die auf
diese Weise gewonnenen Ergebnisse zwangsläufig in die Irre führen:
Meinten die BürgerInnen der alten und neuen Bundesländer mit der
prototypisch für die Vorgehensweise der gesamten empirischen Werteforschung
stehenden Frage nach ihrer Präferenz für Freiheit oder Gleichheit
was nach neuerlichen Umwertungen und ReEvaluierungen zu vermuten
steht mit "Freiheit" Reisefreiheit und mit "Gleichheit"
lediglich die gleiche Währung?[14]
Gesundheit, Frieden, Liebe, Glück: "Whatever that
means". Dieselbe Unsicherheit besteht in komparativen Untersuchungen
angesichts der Übersetzungsnotwendigkeit eruierter Wertbegriffe,
wenn diese in unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Regionen
unterschiedliche Konnotationen besitzen oder ehemals positiv
besetzte Begriffe, wie "Solidarität", durch politische
Entwicklungen in Mißkredit geraten sind und in Einzelfällen zur
Umbennung von Parteien geführt haben.[15]
Aber auch innerhalb eines Landes sind Wertumwertungen festzustellen,
wenn etwa "Gleichheit" nicht mehr in erster Linie mit dem
Unterschied zwischen arm und reich, sondern
als Folge der Frauenbewegung
hauptsächlich mit der Ungleichheit der Geschlechter in
Beziehung gesetzt wird oder "Sicherheit" nach dem Ende
des Kalten Krieges mehrheitlich nicht mehr unbedingt äußere Sicherheit
bedeutet, sondern als Folge der Antiatombewegung stärker mit Reaktorreaktorsicherheit
assoziiert wird. Ebenso erschließen sich die Wert und Unwerturteile
des "Nichts frisch" wie es "the day after"
über Nacht auf deutschen Obst und Gemüsemarkt zu lesen war erst
vor dem Hintergrund der Ereignisse von Tschernobyl. Erhebungserschwerend
kommt hinzu, dass ein und dieselbe Verhaltensweise, z.B. das
Wiederverwenden von Geschenkpapier oder das Zurückbringen von
Pfandflaschen, in den am Leitbild der „amerikanischen“ Wegwerfgesellschaft
orientierten 70er Jahren als Geiz und in den ökologisch sensibilisierten
90er Jahren als Ausdruck zelebrierten Umweltbewußtseins interpretiert
werden kann, das wiederum auch im europäischen und amerikanischen
Vergleich höchst unterschiedlich verteilt ist.[16] Nach dieser grundsätzlichen Sensibilisierung für kulturell,
national und regional unterschiedliche Wertladungen genügen einige
wenige empirische Gegenevidenzen, um die Protagonisten des Wertewandels
methodisch mit den Waffen zu schlagen, die ihren eigenen Untersuchungen
zugrundeliegen. Die von ihnen als Wertträger der Zukunft ausgemachten,
politisch aktiven und dabei bevorzugt unkonventionellen Aktionsformen
zugeneigten Postmaterialisten sind nach den Allgemeinen Bevölkerungsumfragen
der Sozialwissenschaften in Deutschland, wie in den USA, nach wie
vor in der Minderheit (Ostdeutschland: 12,6 Prozent, Westdeutschland:
24,6 Prozent der Bevölkerung). Dabei sind die postmateriell orientierten
Idealisten in der nachwachsenden Generation der 18 bis 30Jährigen
nach der differenzierteren Wertetypologie von Klages sogar weiter
im Abnehmen begriffen (Greiffenhagen 1998: 445, M 34). Die verschiedenen
Formen unkonventioneller politischer Partizipation, also
Unterschriftensammlungen, Stromboykotts oder Kasernenblockaden,
bis zum zivilen Ungehorsam, spielten im letzteren Fall mit
Deutschland am unteren Ende der Skala[17]
in den politischen Kulturen Westeuropas auch noch zu Beginn
der 90er Jahre eine eher unbedeutende Rolle, und ausgerechnet
die Polizei genoss in Deutschland mit 69,5 Prozent von allen Institutionen
das größte Vertrauen.[18]
Recht und Ordnung als nach Inglehart ebenfalls materialistische
Werte rangieren im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (nach
für die erste Hälfte der 1990er Jahre vorliegenden Zahlen) mit stabilen
Prozentwerten um die 70 Prozent weiterhin auf Platz eins. In der
Gruppe der 14 bis 19Jährigen stehen sie hinter Unabhängigkeit (70
Prozent) und Hilfsbereitschaft (54 Prozent) mit 48 Prozent auf
Platz drei (Greiffenhagen 1998: 444, M 33). Der Wohlstand, materielle
Wertorientierung par excellence, kommt in den Wertschätzungen
der Jüngeren, die nach der Theorie die Jünger des Postmaterialismus
und nicht Anhänger des Materialismus sein sollten, mit 44 Prozent
auf Platz vier und liegt damit sogar noch vor seiner Plazierung
bei den Materialisten, wo er mit 31 Prozent nur auf Rang sechs kommt.
Auch von dem mit der Proletarisierungsthese von Elisabeth NoelleNeumann
heraufbeschworenen Ende der konventionellen Leistungsethik
(NoelleNeumann 1978) ist wenig empirisch nachweisbar, wenn mit
wachsender Zustimmung 1990 fast drei Viertel aller Westeuropäer der
Meinung sind, Leistung müsse sich lohnen (Immerfall 1997: 144) und
der Leistungsbegriff, wenn auch in einer etwas anderen Wertakzentuierung,
gerade auch bei den Jugendlichen in Deutschland entgegen hartnäckig
verbreiteten Vorurteilen hoch im Kurs steht (Deutsche Shell 2000).
Ähnliches gilt für den vermeintlichen Verfall der Familie, wie
er seit Jahren von verschiedenen Seiten mit zweckpessimistischem
Institutionenschutzblick verfolgt und gegen jede Empirie behauptet
wird. Repräsentativen Bevölkerungsumfragen zufolge führt die Familie
europaweit[19]
und nur von den besonders familienorientierten USA übertroffen nach
der Gesundheit auf Platz zwei die „Top Ten“ der wichtigsten Lebensbereiche
an. Das in diesem Zusammenhang gleich mitprophezeite Ende verwandtschaftlicher
Bindungen scheint in weiter Ferne, wenn dem ISSP 1986 zufolge
von den 3,7 Personen, die in der deutschen Bevölkerung im statistischen
Durchschnitt zu den engen Freunden zählen, immerhin die Hälfte
Verwandte sind (Immerfall 1997: 158). Nach einer Umfrage des Instituts
für Demoskopie in Allensbach (IfD)
haben bei den Sozialisationszielen in Deutschland die
„Sekundärtugenden“ Ehrlichkeit, Höflichkeit und ordentliches
Arbeiten auch noch in den 90er Jahren die Plätze eins bis drei inne,
während die postmaterialistischen Werte Toleranz, Frieden und Natur
nur mittlere oder, wie das politische Interesse oder der Gefallen
an Kunst, gar nur unterste Rangplätze einnehmen (Klages 1998:
705). Wertewandel impliziert nicht nur, dass alte Werte verfallen,
sondern auch, dass neue Werte entstehen, so wie jenseits pauschaler
Erosionsdiskurse Normen nicht nur erodieren, sondern auch kondensieren.[20]
Dass die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und der
Umweltschutz nach der deutschen Wiedervereinigung Verfassungsrang
erlangt haben, ist eines der besten Beispiele. Auch hat es nie so
viele Ethikkommissionen wie heute gegeben auch die Soziologie
hat seit ein paar Jahren eine solche. Da sich der Erfolg der „Theorie“ vom Wertewandel weder
ihrer analytischen Schärfe und geschlossenen Systematik noch der
überlegenen Erklärungskraft ihrer Thesen verdanken kann, müssen
andere Erfolgsbedingungen vorgelegen haben. Deutungsangebote für die Fangemeinde
Tatsächlich folgt die Karriere des Wertewandels mehr den
Gesetzen des Marketing und des "scientific advertising"
als den Prinzipien der Wissenschaftslehre Popperscher Provenienz.
Nach dem in der Werbewirtschaft seit Jahren erfolgreich angewandten
"Givethempictures"Prinzip funktionierte nicht nur
die als Theoriebaustein in der Wertewandeltheorie verwendete
Bedürfnispyramide. Auch andere bildhafte und entsprechend einfache
Konzeptualisierungen, wie Boltes Schichtungszwiebel zur Abbildung
der sozialen Ungleichheit im Westdeutschland der 50er und 60erJahre,
die Vierfeldertafeln Robert Mertons zur klassifikatorischen Darstellung
abweichenden Verhaltens oder das AGILSchema von Talcott Parsons
zur Beschreibung der vier grundlegenden Systemfunktionen "Adaption",
"Goal Attainment", "Integration" und "Latent
Pattern Maintenance", waren auf diese, mehr die Sinneserfahrung
der doxischen (Alltags)Wahrnehmung als den analytisch geschulten (Sach)Verstand
der WissenschaftlerInnen ansprechende Weise erfolgreich. Nun machen die Vagheit des wohlklingenden Begriffs oder
der Wiedererkennungswert der vertrauten Vereinfachung allein noch
kein Forschungsprogramm oder ein wissenschaftliches Thema von
solch allgemeinem Aufmerksamkeitswert aus. Neben der Bildhaftigkeit
einprägsamer Formulierungen und der Alltagsplausiblität war
es im Falle des Wertewandels vor allem die Koinzidenz unterschiedlicher
Notstände, die seine Karriere begünstigt haben: Eine die Mangelhypothese
bestätigende Theoriesehnsucht einer theoriearmen (Sozial)Wissenschaft
stieß auf den Therapiebedarf einer wertarmen Politik. Beide zusammen
trafen auf eine krisenhafte Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft,
deren Mitglieder ein umso ausgeprägteres Bedürfnis nach expertenhaft
autorisierter Standortbestimmung hatten. In dieser Situation
wurde die Soziologie zur willkommenen Lieferantin von Deutungsangeboten
für die Bevölkerung. Dadurch, dass sie deren Bedürfnisse bediente
und ihre Nachfrage zu befriedigen trachtete, geriet sie in die Abhängigkeit
einer Öffentlichkeit, die nicht aufgeklärt, sondern in ihren VorAhnungen
und VorUrteilen bestätigt
werden will. Dies wiederum hat zunächst einmal Konsequenzen für die
Soziologie selbst. Sie kann, wie eingangs ausgeführt, mit externer
Nachfrage nach praxisrelevantem Wissen nicht umgehen, ohne intern
mit essentiellen methodologischen und erkenntnistheoretischen
Fragen konfrontiert zu werden. Zum Spielball systemfremder Einflußnahme
geworden geht sie dazu über, die innerwissenschaftlichen Kriterien
Objektivität, Validität, Reliabilität und Repräsentativität
durch die abnehmerorientierten Qualitätsmerkmale Glaubwürdigkeit
und Vertrauen zu ersetzen. Die begehrliche Rezeption und nur
deshalb so erfolgreiche Produktion soziologischer Gesellschaftsdiagnosen
wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf unsere Wissenschaftskultur.
In ihr wird nicht mehr das nach wissenschaftsinternen Maßstäben
überlegene Wissen rezipiert; überlegen ist, was gesellschaftlich
nachgefragt wird. Nicht Qualität setzt sich durch, etwas hat Qualität,
weil es sich durchgesetzt hat. Wissenschaftliches Wissen wird zur
Ware, deren Wert vom Käufer und nicht vom Urteil des Verkäufers
abhängt in bezug auf die Menschenwürde schon bei Thomas Hobbes
im Leviathan (1651) nachzulesen. Nicht zufällig haben die Kredibilität,
also die Glaubwürdigkeit, und der Kredit denselben Wortstamm.
Maßstab ist eine mittlerweile gesellschaftsweit generalisierte
Kundenzufriedenheit, bei der nicht mehr, wie einer der Gründerväter
der Soziologie, Auguste Comte, sich das gegen Ende des 19. Jahrhunderts
vorgestellt haben mag, die Soziologen Könige sind, sondern der
Kunde König ist. Relevanz bestimmt sich über Akzeptanz
und nicht umgekehrt.[21]
Seitdem gilt auch für die Qualität wissenschaftlicher Ergebnisse
das Kriterium einer "customers' satisfaction". Wie der Staatsbürger durch den "Einkaufsbürger"
(Sznaider 1999: 395) abgelöst und der zertifizierte Soziologe dem
Gouldnerschen "brother sociologist" immer ähnlicher
wird, so wandelt sich der Wissenschaftler vom (Privat)Gelehrten
zum extrovertierten Wissensverkäufer und akademisch ausgewiesenen
PRManager. Der verpönte Populärwissenschaftler wird zum populären
Wissenschaftler, den die stimmungsabhängige Antipathie der Fangemeinde
im Zweifel härter trifft als die kalkulierbare Kollegenkritik
der Wissenschaftsgemeinschaft. Damit ist Wissenschaft nicht mehr,
was Wissenschaftler machen. Heute ist Wissenschaft das, was Wissenschaftlern und gelegentlich auch Wissenschaftlerinnen
als Wissenschaft abgenommen wird. Nicht nur in Glaubensdingen
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Hoffmann und Campe. [1]Der Artikel basiert
auf einem Vortrag der Verfasserin an der Universität Bonn anläßlich
des "dies academicus" im Wintersemester 1999/2000. [2]Die vorgeschlagene
Definition geht auf eine Unterscheidung des amerikanischen
Soziologen Alvin Gouldner von Soziologen und Alltagsmenschen
zurück und verknüpft diese mit Grundeinsichten der Begründer
einer Phänomenologischen und Verstehenden Soziologie, Alfred
Schütz und Max Weber. [3]Eine "echte"
Kausalerklärung besteht aus einem Explanans und einem Explanandum,
wobei sich das Explanans, also der erklärende Teil der Erklärung,
aus den veränderbaren Rand oder auch AntecedensBedingungen und
einem feststehenden allgemeinen Gesetz zusammensetzt, während das
Explanandum, also der zu erklärende Teil der Erklärung, aus einem
erklärungsbedürftigen Sachverhalt oder Einzelereignis besteht.
[4]Dem Etikettierungsansatz
("labeling approach") zufolge sind soziale Abweichungen
Resultate gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse. Sie entstehen
erst sekundär, in Reaktion auf die Reaktionen des sozialen Umfeldes,
und sind nicht primär Eigenschaften oder Merkmale des betreffenden
Verhaltens selbst. [5]Die nicht immer unmittelbare
oder offenkundige Praxisrelevanz der Soziologie belegen die Befunde
aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten
Schwerpunktprogramm: "Verwendung sozialwissenschaftlicher
Ergebnisse". Als Überblick über eine Auswahl untersuchter
Praxisfelder siehe Beck/Bonß (1989). [6]Zum Zwecke eines besseren
Weltverständnisses machte man sich dabei als Teil einer ordnungschaffenden
Kulturleistung die Doppeldeutigkeit der lateinischen "causa"
als der verhaltenstheoretisch konzeptualisierbaren, kausalen
Ursache und der handlungstheoretisch zu begreifenden, subjektiven
Schuld zunutze. [7]Stellvertretend für
eine Fülle von in ihrem Rahmen entstandene Untersuchungen und
die hierdurch begründete Forschungstradition Klages/Hippler/Herbert
(1992). [8]Für eine genaue zahlenmäßige
Übersicht über die seitdem durchgeführten Wertewandelstudien Meulemann
(1998: 258, Tab. 1). [10]Die Bedürfnispyramide
unterscheidet (physische) Versorgungs und Sicherheitsbedürfnisse,
(soziale) Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Achtung sowie ästhetische
und intellektuelle Bedürfnisse. [11]Wir alle kennen vermutlich
ältere Menschen, die den Krieg, möglicherweise sogar beide Weltkriege,
miterlebt haben und auch als inzwischen finanziell gutgestellte
PensionärInnen kein Stück Brot wegwerfen können. [12]Demgegenüber bildet
Klages fünf Werttypen und unterscheidet ordnungsliebende Konventionalisten,
perspektivelose Resignierte, aktive Realisten, hedonistische Materialisten
und nonkonforme Idealisten (Greiffenhagen 1998: 442, M 31). [13]Die den Index konstituierenden
"items" beziehen sich auf stabile Preise und starke Verteidigungskräfte
am materialistischen Ende der InglehartSkala und Mitbestimmungsrechte,
politische Beteiligung und ästhetische Präferenzen an ihrem postmaterialistischen
Ende. [14]Die betreffende Frage,
auf die in Westdeutschland immer schon häufiger mit "Freiheit"
und in Ostdeutschland nach einer mit dem Fall der Berliner Mauer
vorübergehend umgekehrten Wertpräferenz in den 90er Jahren
wieder häufiger mit "Gleichheit" geantwortet wurde,
lautete: "Sind Sie eher für die Freiheit des einzelnen oder
eher für soziale Gleichheit?" (Greiffenhagen 1998: 450,
M 39). [15]So assoziierten 1995
OstbürgerInnen mit dem Begriff "Marktwirtschaft" nach
Warenangebot (99 %) vor allem Arbeitslosigkeit (94 %) und mit "Planwirtschaft"
in erster Linie soziale Sicherheit (73 %). WestbürgerInnen dagegen
brachten die "Marktwirtschaft" nach dem Warengebot,
das auch bei ihnen mit 91 % an der Spitze stand, insbesondere mit
Leistung (88 %) und Erfolg (78 %) in Verbindung und assoziierten
mit "Planwirtschaft", nämlich zu 43 %, am häufigsten Ausbeutung
(Greiffenhagen 1998: 452, M 41). [16]In den USA bezeichneten
sich 1990 33 %, in Westdeutschland 35 % und in Schweden 49 %
der Bevölkerung als umweltbewußt. 74 % der USBürgerInnen waren
bereit, zugunsten des Umweltschutzes auf einen Teil ihres Einkommens
zu verzichten. In Schweden waren dies 82 %, in Westdeutschland
aber nur 52 % (Ester / Halman / de Moor 1994: 168). [17]Angeführt wurde diese
"civildisobedience"Skala von Dänemark mit 18 %, Italien
mit 10 % und Großbritannien mit 9 % der Bevölkerung, die sich
schon einmal an Aktionen zivilen Ungehorsams beteiligt hatten. In
Deutschland waren dies nur 3 % der Befragten (Ester / Halman /
de Moor 1994: 87). [18]Abgefragt wurden
in der Reihenfolge der Vertrauensnennungen in Deutschland die
Institutionen: Polizei, Rechtssystem, Bildungssystem, Parlament,
Streitkräfte, Kirche, Verwaltung, Gewerkschaft, Presse. Dabei
hatten die deutschen Streitkräfte einen erheblichen Vertrauenverlust
(von 51 % zu Beginn der 80er Jahre auf 39 % im Jahr 1990) und das
Bildungssystem während desselben Zeitraums einen bemerkenswerten
Vertrauensgewinn (von 43 % auf 53 %) zu verzeichnen. Das geringste
Vertrauen wurde in Deutschland der betreffenden Studie zufolge mit
34 % der Presse entgegengebracht. Mit 36 % schnitten die Gewerkschaften
nur geringfügig besser ab (Greiffenhagen 1998: 424/5, M 14). [19]Nach den World Value
Studies 1990 rangierte die Familie im europäischen Durchschnitt
mit 83 % der Nennungen ("was einem im Leben
wichtig
ist") auf Platz 1. Mit großem
Abstand gefolgt wurde sie von der Arbeit (56 %), Freunden und Bekannten
(45 %) sowie der Freizeit mit 39 % (Immerfall 1997: 143). [21]Zu dem dahinterstehenden,
derzeit gesamtgesellschaftlich beobachtbaren Phänomen einer Umkehr
von systemseitiger Legitimation und subjektseitiger Akzeptanz
in Weiterführung bisher einseitiger soziologischer Legitimationsdebatten
unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Akzeptanz siehe Lucke
(1995).
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