Fritz Schatten
Rückkehr wohin?
Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge
Das 1948 von der UNO deklarierte „Recht
der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in
ihre Heimat“ ist von den Palästinensern zu einer
Kernfrage des Friedensprozesses erhoben worden.
Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak war der
detaillierten Erörterung dieses Themas ausgewichen.
Sein Nachfolger Ariel Scharon hatte schon im Wahlkampf
jede Diskussion des Problems kategorisch abgelehnt.
Von ihm sind in der Frage einer Rückführung palästinensischer
Flüchtlinge keinerlei Zugeständnisse zu erwarten.
Eine detailliertere Untersuchung zeigt,
dass die angeführten Zahlen von 3,5 oder 3,6 Millionen
palästinensischer Flüchtlinge zu hoch angesetzt
sind. In Jordanien und im Libanon, aber auch in
Syrien, leben zwar noch immer Palästinenser in Lagern.
Doch viele sind längst abgewandert oder eingebürgert
worden, und nur wenige zeigen Neigung, in die ohnehin
übervölkerten Autonomiegebiete umzuziehen, zumal
sich dort die Lebensbedingungen seit dem Ausbruch
der al-Aqsa-Intifada Ende September 2000 erheblich
verschlechtert haben. Die Analyse ergibt aber auch,
dass die palästinensischen Flüchtlinge in allen
Ländern und Gebieten eine je nach Gusto gebrauchte
und missbrauchte politische Verfügungsmasse bilden.
Wer
ist Palästinenser?
„Ich fühle mich verletzt,
wenn Sie mich fragen, ob ich palästinensischer Abkunft
bin.“ So reagiert Zamir Gahwi auf eine Frage, die
in Jordanien – mal zaghaft, mal herausfordernd –
vielen gestellt wird. In Shmeisani, dem mit hochragenden
Banken und Ministerien westlich-modern wirkenden
neuen Bezirk der jordanischen Hauptstadt Amman,
arbeitet Gahwi in der Leitung des „Department of
Palestinian Affairs“. Es ist daher verständlich,
dass er erst ausweicht, um schließlich doch zuzugeben,
dass er „eigentlich von der anderen Seite“ stammt.
Doch gehöre er zu einer Familie, die schon im ersten
Nahostkrieg 1948/49 aus dem damals entstandenen
Israel vertrieben worden ist. „Und die Flüchtlinge
der ersten Welle“ seien „anders als viele der später
(1967 und 1973) Gekommenen inzwischen alle voll
eingegliedert“. Schließlich gebe es hochrangige
Politiker des Königreiches, Minister und Ministerpräsidenten
eingeschlossen, die palästinensischer Herkunft sind.
An ihrer Loyalität zweifele niemand im Land. Ihre
Entscheidung für Jordanien sei endgültig, egal,
ob es „jetzt oder später“ zur Ausrufung eines eigenen
Staates Palästina komme. Müsste man also die immer
noch umlaufenden Pauschalzahlen der palästinensischen
Flüchtlinge in Jordanien radikal kürzen? „Was für
Zahlen haben Sie denn?“, fragt Zamir Gahwi zurück.
Wir berufen uns auf Angaben der UNRWA, der United Nations Relief and
Works Agency für den Nahen Osten.
Sie bewegen sich allein für Jordanien zwischen 845
000 und weit über einer Million. In der aktuellen
Internet-Seite des Hochkommissars für Flüchtlinge
(UNHCR) wird die Zahl palästinensischer Flüchtlinge
in Jordanien sogar noch mit 1,413 252 Millionen
Menschen angegeben. Gahwi widerspricht sofort: „Das
ist alles Unsinn.“ Man müsse vor allem bedenken,
dass im und nach dem Junikrieg 1967 „Jordanier von
einem Teil des Staatsgebietes in den anderen gewechselt“
seien, ohne ihre „nationale Identität zu ändern“.
Richtig ist, dass das Haschemitische
Königreich Transjordanien
1948 das gesamte nicht von Israel eroberte
Westjordanland, dazu Ost-Jerusalem (arabisch „al Quds“)
besetzte, die dort verbliebenen Palästinenser im
umbenannten Staat Jordanien zu jordanischen Staatsbürgern
erklärte und sie mit jordanischen Ausweisen und
Pässen ausstattete. Doch tauschten diese Palästinenser
damit auch ihre Identität ein, hörten sie auf, Palästinenser
zu sein, Angehörige eines eigenständigen Volkes
mit langer, auch vor-islamischer Geschichte und
Tradition, die schon im Alten Testament aufgeführten
„Filastin“? Der Beamte des „Department for Palestinian
Affairs“ räumt schließlich ein, dass in seinem Land
unverändert „palästinensische Flüchtlinge“ leben,
die jeder „Jordanisierung“ trotzen oder für deren
Identitätswechsel und volle Einbürgerung (mit allen
jordanischen Rechtstiteln) nicht „hinreichend geworben“
worden sei.
Tatsächlich leben in Jordanien
noch an die 200 000 Palästinenser in Lagern, so
in Irbid, Zarqa, Jerash, Salt. Das größte Lager
besteht in Amman selbst fort, geradezu versteckt
in einer Ebene am Hang des Jebel el Hussein. Eine
deutsche Initiative Mitte 1996 zur Linderung der
größten Not (von Waisen und Halbwaisen) beschreibt
die Zustände in diesem Lager Al-Baqa’a sehr treffend: „Das Palästinenserlager Al Baqa’a am Rande der jordanischen Hauptstadt
ist eines der größten Palästinenserlager im Nahen
Osten. Die seit 1948 andauernden Probleme der palästinensischen
Bewohner haben aus dem ursprünglich gedachten ‚Notauffanglager’
einen der ärmsten Vororte Ammans werden lassen,
der traurige Rekorde schlägt. Dazu gehören: Eine
Arbeitslosenquote, die saisonal zwischen 30 und
50 Prozent liegt; seit Jahrzehnten vorherrschende
erhebliche Wohn-, Gesundheits- und Versorgungsnöte
(95 Prozent der Bewohner des Al Baqa’a Camps leben
unterhalb der Armutsgrenze); rasch ansteigende Bevölkerungs-Zuwachsraten;
eine Bevölkerungsdichte, die der Kalkuttas entspricht...
Die durchschnittliche Anzahl der Kinder der palästinensischen
Familien liegt bei 6,7. Die heutige Einwohnerzahl
im Camp wird realistisch auf 120 000 geschätzt.
Die bewohnte Fläche dieser seit 1948 vervielfachten
Bevölkerung ist seit der Einrichtung des Lagers
vor über 50 Jahren konstant bei 1,4 Quadratkilometer
geblieben.“
Ein Soweto in Amman
Als wir aus diesem Papier
im „Department of Palestinian Affairs“ zitieren,
lösen wir nur verlegenes Schweigen und einen Stoßseufzer
aus: Ja, so sei es wohl, aber man bemühe sich „permanent“
um die Verbesserung der Lage im Lager. Könne man
es besuchen? „Davon rate ich ab“, sagt Zamir Gahwi.
Doch später erweist es sich, dass die Sicherheitsbedenken
vorgeschoben sind. Wir treffen überall im Camp auf
freundliche Menschen, auch wenn sie ihre Armut und
ihre Verzweiflung nicht verbergen können. Al-Baqa’a
ist, gemessen auch an weniger wohlhabenden Bezirken
Ammans, ein Schandfleck, und der einzig statthafte
Vergleich, der sich aufdrängt, ist der mit Soweto,
dem „Ghetto“ von Johannesburg/Südafrika: Häuser,
die Containern ähneln, kaum befestigte Straßen und
Wege, teilweise offene Kanalisation, das Trinkwasser
wird meist von Tankwagen aus verteilt; doch immerhin
hat die UNRWA einfache Schulgebäude und ein Gesundheitszentrum
errichtet, gibt es Märkte und Geschäfte. Mahmoud
Nabib, 66 Jahre alt, berichtet mit dürrer Stimme:
„So wie mir ist es vielen hier ergangen. Wir sind
1948 zuerst von Haifa in die Nähe von Hebron geflüchtet,
im Krieg 1967 dann über den Jordan. Man hat uns
gesagt, in Al-Baqa’a könnten wir provisorisch unterkommen,
wir bekämen bald normale Wohnungen. Das hat man
seit 1948 auch immer wieder denjenigen versprochen,
die als erste hierher gelangt waren... Wir leben
hier nicht, wir hausen hier. Kaum einer hat dauerhaft
Arbeit. Ab und zu kommt ein jordanischer Bauer oder
ein Angestellter irgendeiner Baufirma, der Hilfskräfte
braucht, mal für einen Tag, mal für ein paar Wochen,
nie länger als ein-zwei Monate. Es ist der reinste
Hohn, dass wir als Jordanier gelten sollen, einen
jordanischen Pass bekommen können. Aber man behandelt
uns als Fremde, die hier nichts zu sagen haben und
die man nicht haben will.“
Yasir Arafat und andere arabische
Führer sprechen heute wieder vom „heiligen“ Recht
auf Rückführung und Entschädigung der Flüchtlinge
(auch nach Israel) – nicht zuletzt unter Berufung
auf die entsprechende (erste) UN-Resolution 194
vom Dezember 1948 –und machen dieses zu einer Kernfrage
der Verhandlungen zwischen der Palestinian National
Authority (PNA) und Israel – doch die Stimmung in
Al-Baqa’a hat sich merkwürdigerweise kaum geändert,
geschweige dass Enthusiasmus aufgekommen wäre. Hier
wie in den zahllosen anderen Flüchtlingscamps in
der Region, vor allem im Libanon, hat sich über
Jahrzehnte hinweg tiefe Resignation förmlich eingefressen.
Aber es kommt auch ein aktueller Faktor ins Spiel:
Nach dem Inkrafttreten der Oslo-Vereinbarungen zwischen
Israel und der PNA hatten zahlreiche Menschen die
Möglichkeit, erstmals seit der Flucht oder Vertreibung
zu Kurzbesuchen in das Westjordanland oder den Gazastreifen
zu reisen. Die meisten sind eher nachdenklich, manche
auch abgestoßen zurückgekehrt. „Mein Herz ist in
Gaza, aber mein Platz ist eher hier als dort“, sagte
einer, der vor einigen Jahren das Lager Al-Baqa’a
verlassen hatte und sich eine mittelständische Existenz
aufbauen konnte. „Die Lage drüben ist völlig unübersichtlich.
Der ganze Gaza-Streifen ist ja noch schlimmer als
das schlimmste Lager in Jordanien. Und hier herrscht
doch viel mehr Ruhe, es gibt stabile Verhältnisse
im Land.“
Obendrein wird die harte
israelische Haltung zur Repatriierungsfrage sehr
wohl registriert. Ehud Barak hatte nur kleinste Zugeständnisse
„angedacht“. Ariel Scharon
lehnt jede
Form der Rückkehr von Palästinensern nach Israel
– ebenso eine Entschädigung für verlorenes Hab und
Gut – kategorisch ab. Er steht nicht allein. Meinungsumfragen
in Israel bestätigen ihm die Unterstützung einer
satten Mehrheit. Nicht nur dies. Mit einem Offenen
Brief an die palästinensische Führung haben Anfang
Januar 2001 Amos Oz,
A.B. Yehoshua und andere israelische Intellektuelle und Aktivisten der
Friedensbewegung
eindringlich dargelegt: „Wir werden niemals bereit
sein, einer Rückkehr von Flüchtlingen innerhalb
der Grenzen Israels zuzustimmen. Eine solche Rückkehr
würde zur Eliminierung Israels führen.“ Und Yossi
Sarid, der Chef der linksgerichteten Meretz-Partei, erklärte kühl:
„Israel kann ohne die Souveränität über den (Jerusalemer)
Tempelberg überleben, aber es kann nicht mit dem
Recht (der Palästinenser) auf Rückkehr überleben.“
Politische Zahlenspiele
Zu bedenken ist auch: So
offensiv und nachhaltig Yasir Arafat und seine PNA
jetzt auch das palästinensische Rückkehrrecht anmahnen,
so sehr scheuen sie in Wahrheit davor zurück, es
in den ihnen bisher zugesprochenen Autonomiegebieten
in Kraft zu setzen. Ihnen dürfte klar sein, dass
eine Massenrückwanderung von Flüchtlingen (wenn
sie denn tatsächlich zustande käme) die demographischen
Verhältnisse im Westjordanland und vor allem in
Gaza völlig umstürzen und zum sozialen Chaos führen
müssten. Dabei handelt es sich den Palästinenserführern
(und anderen im arabischen Lager) zufolge um insgesamt
3,5 Millionen Palästinenser, die gegenwärtig als
Flüchtlinge im arabischen Ausland leben. Dies sind
jedoch „politische Zahlen“, die keiner genauen Überprüfung
standhalten. Insgesamt waren 1948/49 und 1967 etwa
1,2 Millionen Palästinenser geflohen oder vertrieben
worden. Von ihnen sind indes viele „nur“ aus Kern-Israel
in die damals jordanischen Westbank-Gebiete und
den bis 1973 ägyptisch verwalteten Gazastreifen
übergesiedelt. Insgesamt sind im und nach dem ersten
Nahostkrieg 650 000 Palästinenser in den arabischen
„Freundesstaaten“ aufgenommen worden. An die 400
000 Palästinenser blieben in Israel; zum größten
Teil erwarben sie auch die israelische Staatsbürgerschaft,
wenn sie auch in der Rechtspraxis immer wieder benachteiligt
wurden. Ihre Zahl ist inzwischen auf über eine Million
Menschen angewachsen (s.u.).
Völlig übertrieben muten
die Zahlen an, die Syrien vorgelegt hat. Zuerst
hieß es, Damaskus habe „rund 600 000 Palästinenser“
aufgenommen. Dann wurde (1975) von 320 000 Flüchtlingen
in Syrien gesprochen, doch die UNRWA korrigierte
die Zahlen 1990 und 1997 weiter nach unten, auf
(jetzt) 256 739, von denen lediglich 104 011 in
insgesamt zehn Lagern lebten. Bedenken muss man hierbei auch, dass diese
Zahlen nicht nur die „Erstflüchtlinge“ erfassen,
sondern bereits deren Kinder und die Enkel einschließen.
Völlig bedeckt hält sich
Jordanien. Es spricht halboffiziell nur noch von
rund 200 000 in Lagern lebenden „Menschen palästinensischer
Herkunft“, während alle anderen zu Jordaniern erklärt
worden sind. Wiederum halboffiziell geht man davon
aus, dass heute 60 bis 70 Prozent der rund 4,5 Millionen
jordanischen Staatsbürger palästinensische „Wurzeln“
haben. Diese Zahlen wollte aber Zamir Gahwi im Department
for Palestinian Affairs nicht bestätigen; für ihn
sind „Jordanier doch Jordanier“, und wenn man anfange,
jeweils die Herkunft zu bewerten und dabei „beduinisch“
oder „palästinensisch“ gegeneinander rechne, „stelle
man jedwede jordanische Identität in Frage“.
König Hussein hatte seit den achtziger Jahren
eine regelrechte, stark werbende und sogar beschwörende
Kampagne geführt, in der er sich für eine „Konsolidierung
der jordanischen Identität“ („ta’ziz asl-hawija al-urduniya“) einsetzte:
Ihm wurde wohl bewusst, dass die ständige Erwähnung
oder gar Betonung der Herkunft die Existenz des
jordanischen Staatswesens in Frage stellte.
Husseins Nachfolger, König Abdullah II.,
erneuerte gleich nach seiner Krönung am 7. Februar
1999 das Verbot aller Aktivitäten und Gruppierungen
mit „nicht-jordanischer Zielsetzung“, und konsequent
ließ er im Laufe des Jahres 1999 mehrere Führungsmitglieder
der radikal anti-israelischen und Anti-Arafat-Bewegung
Hamas verhaften und ihre „einfachen“ Mitglieder
ermahnen, sich jeder politischen Tätigkeit zu enthalten.
Diese Haltung Jordaniens resultiert nicht nur aus
der Sorge um die „einheitliche Identität aller Jordanier“;
sie ist auch historisch bedingt: Im „Schwarzen September“
1970 hatten Milizen der „Fatah“ und Politiker der
PLO gewaltsam versucht, die jordanische Monarchie
zu stürzen und sich an die Spitze eines „palästinensischen“
jordanischen Staates zu setzen. Nur mit äußerster
Mühe und dem Einsatz schwerer Waffen konnte sich
Hussein damals behaupten. Die PLO-Führung und ihre
restlichen Truppen wurden in den Libanon verjagt.
Muss man auch die von ihnen im Libanon Verbliebenen
als „palästinensische Flüchtlinge“ bezeichnen?
Flüchtlinge oder Vertriebene?
Hier erheben sich Zweifel.
Sie verstärken sich noch, wenn man die in jüngster
Zeit in den Autonomiegebieten, in den arabischen
Staaten und in Israel erneut in Gang gesetzte und
äußerst hitzig wie kontrovers geführte Diskussion
verfolgt, ob man die angeblich vielen Millionen
Palästinenser außerhalb Israels als Flüchtlinge oder Vertriebene bezeichnen soll. Israel
besteht darauf, die meisten seien 1948/49 „von selbst
weggegangen“; die arabische Seite spricht von „systematischer
Verfolgung und Vertreibung“, und sie kann dafür
das Haganah-Massaker von Deir Yassin am 10. April
1948 als besonders schreckliches Beispiel nennen,
wie Palästinenser durch organisierten Mord in Panik
versetzt und zur Flucht getrieben wurden.
Blickt man in die Geschichte
zurück, wird man zu dem Urteil gedrängt, dass beide
Seiten Recht und Unrecht zugleich haben. Unbestritten
ist, dass sich 1948 als erste die Angehörigen des
palästinensischen Establishments aus eigenem Antrieb
zur Flucht wandten. Die ohnehin mit Transjordanien
eng verflochtenen „großen Familien“ retteten sich
und ihr ohnehin meist schon im Ausland angelegtes
Kapital schnell nach Amman, Beirut, in die Golfstaaten,
wo sie, wie der berühmte Clan der Nashashibis, bald wieder einflussreiche
Positionen einnahmen. Es folgten viele Verwaltungsbeamte
und Intelligenzler, kurzum: die Oberschicht. Sie
richtete sich bis 1967, nun unter jordanischer Oberhoheit,
zum Teil wieder im Westjordanland ein, und sie war
es erneut im Junikrieg 1967, die vor allen anderen
über den Jordan nach Osten abwanderte. Ihr Beispiel
machte in beiden Fällen Schule: Hunderttausende
folgten ihnen. Dieser Exodus erzeugte eine Zäsur:
Die wirtschaftliche palästinensische Elite koppelte
sich vom „gemeinen“ Volk völlig ab, so dass sich
eine neue palästinensische Elite formen musste,
und diese war nun, im Gegensatz zu der (nach Max
Webers Formel) alten „Wertelite“ eine reine „Funktionselite“.
Aus ihr stammen die politischen Aktivisten und auch
die bis zur äußersten Radikalität, ja zum Terrorismus
bereiten Führer der verschiedenen und untereinander
meist verfeindeten Palästinensergruppen, von der
PLO bis zur Volksfront für die Befreiung Palästinas
von George Habash oder der Arafat-feindlichen „Hamas“.
Unter den Extremisten spielte es bald und spielt
es heute keine Rolle, ob die Anhänger oder „Kämpfer“
wirklich Palästinenser sind. Die im Südlibanon den
Israelis lange hart zusetzende und zuletzt triumphierende
„Hisbollah“ besteht nach verlässlichen Berichten
nur zu einem kleinen Teil aus Palästinensern. In
ihr sind mehrheitlich gebürtige Libanesen, dazu
Syrer und Iraner, angeblich auch afghanische „Mudschahedin“
aktiv.
„Alle sind sie Vertriebene
aus Palästina“, behaupten dagegen ihre eigenen und
andere arabische publizistische Organe. Es ist historisch
erwiesen, dass die israelische Propaganda während
des Unabhängigkeitskrieges massive „psychologische
Kriegführung“ betrieb und mit alarmierenden Berichten
über bevorstehende israelische „Vergeltungsoperationen“
gegen palästinensische Gemeinden Massenpanik erzeugte
und Massenflucht auslöste. Unumwunden hat Yigal
Allon, der im Laufe der Zeit vom „Falken“ zur „Taube“ gewendete
ehemalige Palmach-Kommandeur
und spätere Minister der Arbeitspartei, dies eingestanden
und dazu bekannt: „Ich ließ alle jüdischen Muchtars
zusammenholen, die mit den Arabern in den Dörfern
Kontakt hatten, und bat sie, den Arabern zuzuflüstern,
ein starker jüdischer Verband sei in Galiläa einmarschiert
und werde alle Dörfer des Hule-Beckens niederbrennen.
Sie sollten den Arabern raten, zu fliehen, so lange
noch Zeit war. Diese Taktik führte zu vollem Erfolg.“
Doch die karitha, die palästinensische Katastrophe
im Krieg 1948/49 mit ihrer panischen Massenflucht
, war auch selbst verschuldet. „Die verwirrten Palästinenser
folgten nur dem Beispiel ihrer Führer“, hielt John
Kimche,
selbst im Unabhängigkeitskrieg militärisch engagiert
und später Herausgeber des Jewish Observer, in einer
sehr genauen, durchaus nicht araberfeindlichen Darstellung
fest. Bereits Ende März 1948, also vor
der Ausrufung des Staates Israel, „als für die Araber
noch alles rosig aussah“ und Jaffa wie Haifa noch
fest in arabischer Hand waren, „verließen täglich
Schiffe voll Flüchtlingen nach Beirut“ beide Häfen.
„Mitte April (1948) hatte eine Viertelmillion Palästinenser
ihre Heimat verlassen.“
Kimche verwies vor allem
auf das „Beispiel Haifa“: Hier hatte sich ein Arab Emergency Committee gebildet, das zunächst mit der jüdischen
Kampftruppe Haganah
verhandelte, seine Bedingungen für eine Waffenruhe
jedoch nicht durchsetzen konnte. Daraufhin bat das
Haifa-Committee das in Beirut residierende Arab Higher Committee um Anweisungen
und erhielt die Order, „der Bevölkerung die Evakuierung
und den Umzug in benachbarte arabische Länder zu
erleichtern... So bewahren die Araber ihre Ehre
und ihre Tradition“. Ende April 1948 beschwerte
sich das Haifa-Committee bei dem noch amtierenden
britischen General Stockwell,
die Evakuierung der Palästinenser aus Haifa stocke,
man habe nur dreizehn LKWs zur Verfügung gestellt,
und in einigen Fällen habe die Haganah „Araber am
Verlassen der Stadt gehindert“. Es gehört zum politisch-propagandistischen
Ritual der Israelis wie der Araber, dass zum Beweis
für Flucht oder Vertreibung nach Belieben die passenden
Dokumente herausgeholt oder versteckt und als Fälschungen
verworfen werden. Am individuellen Schicksal der
Depossedierten ändert diese Fragestellung ohnehin
nichts, zumindest nicht vor dem jeweiligen „turning
point“, an dem die Einzelnen die Motivation, die
Kraft oder die Hilfe erhielten, aus dem bedrückenden
Lagerleben in eine normale Existenz zu wechseln.
Auch ihnen setzt jedoch ununterbrochen die gerade
jetzt wieder reaktivierte arabische Publizistik
zu, die betont, jeder Flüchtling (und von Flüchtlingen
Abstammende) besitze ein „Menschenrecht auf Rückkehr
in seine Ursprungsheimat“.
Politische Verfügungsmasse
Dabei bedienen sich sowohl
die palästinensischen Organisationen als auch die
arabischen „Gaststaaten“ der Flüchtlinge als einer
politischen Verfügungsmasse für ihre jeweiligen
politischen Ziele und Ambitionen. Man will sie als
Druckmittel mal behalten, und dies in miserablen
Verhältnissen, mal los werden. Über lange Zeit gaben
Palästinenser auch der Versuchung nach, sich mit
bescheidensten Notunterkünften abzufinden, da sie
ja – so die syrischen wie die libanesischen Autoritäten
– „nicht lange bleiben“, sondern schon bald in die
angestammte Heimat zurückkehren würden. Hilfen der
UNRWA für den Bau fester Unterkünfte und geordneter
Infrastrukturen wurden in den Lagern nahe Damaskus
wie in und um Beirut oder Sidon lange abgelehnt
oder „umgeleitet“. Das derart zu propagandistischen
Zwecken entwickelte Elendsbild des „Dahinvegetierens
in den Lagern“ konnte sich so über Jahrzehnte halten,
auch dann noch, als sich die „Gaststaaten“ wie die
Flüchtlinge dazu entschlossen hatten, die übelsten
Missstände in den Lagern abzubauen und halbwegs
lebensfähige Verhältnisse zu schaffen.
Das geschah in Jordanien
und in Syrien in den siebziger Jahren, während im
Libanon nur lokal Verbesserungen zugelassen wurden.
Unverändert sind hier die Lebensbedingungen der
Palästinenser am schwersten. Die Flüchtlinge haben
(mehrheitlich) keine libanesischen Ausweise; sie
erhielten bis heute generell keine Arbeitserlaubnis,
sie dürfen keine libanesischen Schulen und Sozial-
und Gesundheitseinrichtungen nutzen. Und unablässig
werden sie mit gezielten Gerüchten in Unruhe versetzt.
Propaganda aus Gaza oder Ramallah suggeriert ihnen,
ihre Rückkehr in die „alte Heimat“ sei nur noch
eine Frage kurzer Zeit, bis mit Israel eine rechtlich
gültige Vereinbarung getroffen werde. Dem gegenüber
streuen libanesische „Quellen“ – mal aus dem noch
immer araberfeindlichen maronitisch-christlichen
Milieu, mal von muslimischer Seite –, es sei „beschlossene
Sache“, die Flüchtlinge umzusiedeln. Dafür werden
mal der Irak und Libyen genannt, mal aber auch –
natürlich ominöse – kanadische oder US-Offerten,
eine große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Nichts
davon fußt auf einer realistischen Grundlage, doch
die Wirkung ist verheerend. Übrig bleiben, so empfinden
es jene unter den Flüchtlingen, die einen kühlen
Kopf bewahrt haben, allenfalls zwei Optionen: Die
Überführung einer bestimmten Zahl (aber längst nicht
aller) in die Palästinensischen Autonomiegebiete
und die dauernde Ansiedlung außerhalb von Lagern im Libanon, und
selbst hierfür gibt es in absehbarer Zeit keine
Chancen. Zudem ist nicht bekannt, wie viele Palästinenser
im Libanon leben und wie viele im Sinne der UNRWA-Definition
als Flüchtlinge gelten. Zweifelsfrei bestätigt sind
nur alte Zahlen. So wurden 1951 exakt 106 800 Palästinenser
als Flüchtlinge registriert. 1974, vor dem Ausbruch
des libanesischen Bürgerkrieges, waren es offiziell
191 700. Für 1987 gab die UNRWA 373 586, 1997 dann
359 005 registrierte Palästinenser an. Von ihnen
sollen 143 809 bzw. 195 662 in Lagern gelebt haben.
Yasir Arafat sprach in einem Interview mit einer
libanesischen Zeitung Ende Januar 2000 von „360
000 palästinensischen Flüchtlingen im Libanon, die
auf jeden Fall alle in ihre Heimat zurückkehren“
würden.
Andere Quellen gingen aber längst davon aus, von
früher registrierten 275 000 lebten „wahrscheinlich
nur noch 200 000 im Lande“. Um die Verwirrung noch weiter zu treiben, behauptete
1994 der Drusenführer Kamal Jumblat
als der für Flüchtlinge zuständige Minister in Beirut,
man müsse sich um etwa 400 000 Personen kümmern,
und sie sollten tunlichst in die „libanesische Gesellschaft
integriert werden“.
Stigmatisierte Flüchtlinge
Genau das aber wollten und
wollen die beiden größten ethnisch-religiösen Gruppen
des Libanon nicht. Erstens sind die palästinensischen
Flüchtlinge (bis auf wenige) sunnitische Muslime. Die libanesischen
Sunniten machen 21 Prozent der Gesamtbevölkerung
aus, sie allein würden von einer Eingliederung der
Palästinenser profitieren und könnten ihren Bevölkerungsanteil
und damit ihre politische Basis erheblich vergrößern.
Dem stehen 32 Prozent Schiiten
gegenüber, die neben den 40 Prozent Christen die
größte Ethnie bilden. Das ausgeklügelte (wenn auch
immer wieder in Frage gestellte) politische System
des Libanon bestimmt, dass immer ein Christ Staatspräsident,
ein Sunnit Regierungschef, ein Schiit Parlamentspräsident
wird. Im Parlament sind den beiden islamischen Glaubensrichtungen
mit ihren Parteien jeweils 27 der insgesamt 128
Sitze zugestanden worden. Dagegen laufen die Schiiten
seit langem Sturm. Ihre Ansprüche auf größeren politischen
Einfluss könnte dann das sunnitische Lager spielend
abwehren.
Zweitens und wohl noch entscheidender
ist ein psychologischer Faktor. Unverändert hält
die Mehrheit der Libanesen daran fest, dass die
Palästinenser die Hauptschuld am siebzehnjährigen
Bürgerkrieg und an der (mit Unterbrechungen) 22
Jahre währenden israelischen Besetzung des Südlibanons
tragen. Vergessen ist auch nicht, dass Arafats Fedayin
– aus Jordanien 1970 in den Libanon verjagt – die
israelische Offensive 1982 provoziert hatten, die
der damalige Verteidigungsminister und Ex-General
Ariel Scharon anführte. Gnadenlos ließ er rechtsradikale
christliche Milizen in den Lagern Schatila und Sabra
wüten und Hunderte (andere sagen: Tausende) von
Palästinensern abschlachten. Scharon sorgte auch
dafür, dass das innenpolitische Gleichgewicht des
Libanon vollends aus den Fugen geriet, als er ganz
Beirut erobern und die Fedayin „für immer auslöschen“
wollte. Die erschreckten Libanesen setzten Yasir
Arafat unter Druck. Aber er weigerte sich zunächst,
mitsamt seinen Kämpfern nach Tunesien auszuweichen.
Das rief die Syrer auf den Plan. Ihre Intervention
führte zum Abzug Arafats (er kehrte noch einmal
1983 zurück) und mündete schließlich in die Dauerstationierung
von 35 000 syrischen Soldaten und die zunehmende,
in wichtigen Fragen totale politische Abhängigkeit
des Libanon von Syrien. Sie besteht auch nach dem
Tod des syrischen Präsidenten Hafez al-Assad am 10. 6. 2000 und der Machtübernahme seines Sohnes Baschar
fort. Die (auch nach dem Kondolenzbesuch Arafats
bei der Beisetzung von Assad Senior fortdauernde)
„Erzfeindschaft“ der Assads mit Arafat wird als
einer der Hauptgründe genannt, dass es zu keiner
wie immer gearteten Verständigung über die belastende
Frage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon
(und in Syrien selbst) gekommen ist und kommen wird.
Die Palästinenser bleiben somit auch hier politische
Verfügungsmasse, sowohl der Libanesen als auch der
Syrer.
Arafats Dilemma
Dass Israel, erst recht unter
Scharon, keinerlei Zugeständnisse in der Frage einer
Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in sein Kerngebiet
machen wird, steht außer Diskussion. Aber auch Arafat
steckt in diesem Punkt in tiefem Dilemma. Sein Hoheitsgebiet,
wenn man dies überhaupt so nennen darf, ist wirtschaftlich
und sozial tief zerrüttet, zum größten Teil überbevölkert.
Im Einzelnen ergibt die Statistik folgende Daten:
__________________Westjordanland Gaza
Ost-Jerusalem
Fläche:
5 633 qkm
364 qkm (42 qkm israel.bes.)
unter 20 qkm
Bevölk:
1,873 Mio 1,022 Mio 210 000 Araber
davon arabische
Flüchtlinge
569 700 798 400
Israelis
154 000 25 000
158 000
Diese Zahlen machen klar,
dass auch in den Autonomiegebieten Westjordanland
und Gaza mehrheitlich Flüchtlinge und deren Nachkommen
leben. Das gilt vor allem für den nur 42 Kilometer
langen und nur zwischen 9 und 13 Kilometer breiten
Gazastreifen, der – von Ghazza/Gaza-Stadt und zwei,
drei weiteren kleineren Gemeinden abgesehen, völlig
von Flüchtlingslagern beherrscht wird. Wer im Libanon
oder in Jordanien Baqa’a und andere Camps gesehen
hat, wird dies trotz ihrer Enge und Primitivität
als wahre Wohlstandsinseln bezeichnen, verglichen
mit den Riesenslums der Lager von Shati, Djebala,
Rafa und Khan Yunis im Gaza-Schlauch. Alle registrierten
Flüchtlinge werden seit den fünfziger Jahren von
der UNRWA betreut. Dies galt auch für die Zeit,
als der Gazastreifen unter ägyptischer Verwaltung
stand und von Kairo aus völlig abgeriegelt war und
noch mehr als unter israelischer Besatzung als die
„Kloake des Nahen Ostens“ galt. Hier lebten 1948
vor dem ersten Nahostkrieg knapp 100 000 Menschen,
und sie fanden in dem relativ fruchtbaren Landstrich
Arbeit und Auskommen. Urplötzlich sahen sie sich
von einer gewaltigen Menschenwoge überschwemmt.
Es entstanden Blechbüchsen- und Lumpenkolonien,
über denen stolz die Fahne Ägyptens flatterte. Aber
Kairo dacht an Gaza nur als einer Militärbasis für
künftige Kriege gegen Israel, die Flüchtlinge blieben
unter Faruks und Nassers Gouverneuren staatenlos.
Die Zustände waren so deprimierend, dass die Israelis
1956 zu ihrer Verblüffung nicht unfreundlich empfangen
wurden. Doch gingen sie bis zu ihrem Abzug so scharf
gegen Fatah-Aktivisten vor, dass sie bei der zweiten
Eroberung im Yom-Kippur-Krieg auf einen Betonwall
des Widerstandes stießen.
Fanatismus und Terrorismus
fanden seit den siebziger Jahren und bis zum Oslo-Abkommen
1993 in Gaza – und insbesondere in den von Israelis
neu eingerichteten Lagern Brasilia I und II sowie
Scheikh Radwan, ihren fruchtbarsten Nährboden. Seit
dem Ausbruch der zweiten, der al-Aqsa-Intifada Ende
September 2000, dürfen sich auch zwischenzeitlich
von Arafats PNA inhaftierte oder scharf kontrollierte
„Hamas“-Aktivisten wieder frei bewegen und ungehindert
agitieren. Die israelische Armee durchschnitt daraufhin
den Gazastreifen in drei abgeschnittene „Zonen“,
in denen sie die Palästinenser voneinander und von
den 15 000 gleichermaßen fanatisierten israelischen
Siedlern trennt – als ob dies Spannungen abbauen
und bewaffnete Auseinandersetzungen verhindern könne.
Die Aussperrung der vorher in Israel beschäftigten
Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland hat
die ohnehin prekären wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse
im Autonomiegebiet abermals verschlechtert. Das
Bruttosozialprodukt fiel in den letzten drei Monaten
2000 um 13 Prozent unter die Projektionsmarke, die
Arbeitslosigkeit stieg von 11 (nach anderen Quellen:13,7)
Prozent vor der Intifada auf 35 bis 40 Prozent (im
Gazastreifen noch höher), die Zahl der Menschen,
die unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar Einnahmen
oder Zuwendungen pro Tag leben müssen, schoss von
20 auf 32 Prozent hoch.
Dabei sind die Flüchtlinge besonders betroffen.
Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorauszusagen,
dass hier die Saat einer noch tieferen Verfeindung
mit den Israelis heranwächst.
Aber auch die Führungsschicht
um Arafat, von den Alteinsässigen und von den „regulären“
Flüchtlingen wegen ihres langen und komfortablen
Exils in Nordafrika während der achtziger Jahre
als die „Tunesier“ verhöhnt, gerät dabei in die
Bredouille. Schon vor der Al-Aqsa-Intifada, während
des Streits um dann abgesagte Kommunalwahlen, bildete
sich in Lagern bei Bethlehem und im Gazastreifen
eine „Bewegung zur Verteidigung der Rechte der Flüchtlinge“.
Ihre Anführer und Anhänger verzichteten ausdrücklich
auf ihre Mitarbeit in den Gemeindevertretungen,
um damit Druck auf die PLO auszuüben, endlich in
der „Rückführungsfrage aktiv zu werden“. Anderswo,
vor allem in Städten wie Ramallah, Jericho und Gaza-Stadt,
schlugen Flüchtlingsvertreter einen Gegenkurs vor.
Sie beklagten, dass zu wenige von ihnen in den Kommunalvertretungen
und Kommunalorganen zur Mitarbeit herangezogen würden.
Und als die Al-Aqsa-Intifada dann losbrach, wurde
sehr schnell deutlich, dass sich deren Aktivisten
Waffen dort besorgten, wo sie seit langem gehortet
wurden: in den oft auch unter der PNA-Herrschaft
abgeschlossenen Flüchtlingslagern. Bei dem aggressiven
Potenzial, das die Flüchtlinge demographisch wie
politisch darstellen und das sowohl Israel wie auch
die PNA fürchten müssen, ist jeder Gedanke an eine
bereitwillige Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen
arabischen Ländern in den Palästinensischen Autonomiegebieten
hinfällig. Dies würden weder Israel, noch die PNA
Arafats zulassen. Das von den Palästinensern so
offensiv eingeklagte „Recht auf Rückkehr“ für 3,5
oder 3,6 Millionen palästinensischer Flüchtlinge
steht auf vergilbendem Papier.
Auch Israel kann und wird
nicht als Rückkehrgebiet dienen. Von „einzelnen
Flüchtlingen“ haben israelische Diplomaten in den
Folgeverhandlungen zu Oslo mehrmals gesprochen,
denen man im Rahmen von „Familienzusammenführungen“
gestatten könne, zu ihren israelisch-arabischen
Angehörigen in Israel umzusiedeln. Scharons Likud
hat solche „Großzügigkeit“ scharf kritisiert und
jedwede „Heimführung“ von Palästinensern nach Israel
ausgeschlossen. In solcher starren Haltung wird
die jetzige Regierung durch die radikal veränderte
Haltung der arabischen Staatsbürger Israels seit
dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada nachdrücklich
bestärkt: Viele in und um Nazareth haben sich mit
den Palästinensern in den Autonomiegebieten und
Ostjerusalems demonstrativ solidarisiert. Es kam
zu Protestaufmärschen, es flogen Steine gegen israelische
Polizisten und Soldaten, die in den ersten Oktobertagen
2000 mit Sicherheit 13 Demonstranten töteten (arabische
Quellen nennen noch höhere Zahlen). Bis ins Frühjahr
2001 hinein hielt die aufgebracht-feindselige Stimmung
unter den israelischen Arabern an. Und hatten sich
früher bis an die neunzig Prozent der Wahlberechtigten
an Knesset-Wahlen beteiligt und dabei zumeist die
Arbeitspartei gewählt, so betrieb die Mehrheit bei
den Scharon-Wahlen 2001 strikten Wahlboykott, der
zum Desaster der Arbeitspartei entscheidend beigetragen
haben dürfte. Vor allem denkt deshalb heute kein
israelischer Politiker noch daran, palästinensischen
Flüchtlingen eine direkte Rückführung nach Israel
zu gewähren. „Das Thema ist definitiv erledigt“,
hört man von kompetenter israelischer Seite. Und
die brüske Ablehnung jedweder Verhandlungen über
die palästinensische Flüchtlingsfrage wird hinzugefügt.
Die andere Seite
Unter den schwersten Bedingungen
der Entwurzelung, Fremdbestimmung und Demütigungen
haben Palästinenser es vermocht, sich in der eigenen
wie in fremden Gesellschaften zu behaupten und gar
aufzusteigen. Überall in den arabischen Staaten
gehören Palästinenser zu den ökonomischen wie intellektuellen
Führungsschichten. Offiziell sind 123 000 Palästinenser
in Saudi Arabien, 90 000 im Irak, 40 000 in Ägypten,
35 000 in Kuwait tätig, und dies meist in gehobenen
bis hohen Positionen der Verwaltung, der Wirtschaft,
des Bildungswesens. Die exakten Zahlen dürften weit
höher liegen, da viele von ihnen längst eingebürgert
worden sind. Außerdem leben viele – man schätzt
bis zu 100 000 – in den arabischen Golfstaaten.
Viele unterstützen ihre Familien in den Autonomiegebieten
und in den Zufluchtsländern, manche haben auch zur
Finanzierung politischer und auch radikaler politischer
Gruppierungen beigetragen. Sie alle haben durch
ihr persönliches Beispiel, durch den Nachweis ihrer
Fähigkeiten und ihres Einsatzwillens das Bild einer
anderen palästinensischen Ethnie gestaltet, und
ihr Stolz auf die eigene Leistung kontrastiert so
scharf wie positiv zum Grad der Verzweiflung und
Erniedrigung, der die Masse der Depossedierten und
der in den Autonomiegebieten Lebenden so beklagenswert
kennzeichnet. Sie geben auch eine Ahnung davon,
wie viel an Potenzial in diesem Volk schlummert,
das als Opfervolk des Nahen Ostens – und nicht nur
Israels – nur unzulänglich bezeichnet wird.