Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2001

Fritz Schatten

Rückkehr wohin?
Das endlose Drama der Palästinensischen Flüchtlinge

Das 1948 von der UNO deklarierte „Recht der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat“ ist von den Palästinensern zu einer Kernfrage des Friedensprozesses erhoben worden. Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak war der detaillierten Erörterung dieses Themas ausgewichen. Sein Nachfolger Ariel Scharon hatte schon im Wahlkampf jede Diskussion des Problems kategorisch abgelehnt. Von ihm sind in der Frage einer Rückführung palästinensischer Flüchtlinge keinerlei Zugeständnisse zu erwarten.

Eine detailliertere Untersuchung zeigt, dass die angeführten Zahlen von 3,5 oder 3,6 Millionen palästinensischer Flüchtlinge zu hoch angesetzt sind. In Jordanien und im Libanon, aber auch in Syrien, leben zwar noch immer Palästinenser in Lagern. Doch viele sind längst abgewandert oder eingebürgert worden, und nur wenige zeigen Neigung, in die ohnehin übervölkerten Autonomiegebiete umzuziehen, zumal sich dort die Lebensbedingungen seit dem Ausbruch der al-Aqsa-Intifada Ende September 2000 erheblich verschlechtert haben. Die Analyse ergibt aber auch, dass die palästinensischen Flüchtlinge in allen Ländern und Gebieten eine je nach Gusto gebrauchte und missbrauchte politische Verfügungsmasse bilden.

Wer ist Palästinenser?

„Ich fühle mich verletzt, wenn Sie mich fragen, ob ich palästinensischer Abkunft bin.“ So reagiert Zamir Gahwi auf eine Frage, die in Jordanien – mal zaghaft, mal herausfordernd – vielen gestellt wird. In Shmeisani, dem mit hochragenden Banken und Ministerien westlich-modern wirkenden neuen Bezirk der jordanischen Hauptstadt Amman, arbeitet Gahwi in der Leitung des „Department of Palestinian Affairs“. Es ist daher verständlich, dass er erst ausweicht, um schließlich doch zuzugeben, dass er „eigentlich von der anderen Seite“ stammt. Doch gehöre er zu einer Familie, die schon im ersten Nahostkrieg 1948/49 aus dem damals entstandenen Israel vertrieben worden ist. „Und die Flüchtlinge der ersten Welle“ seien „anders als viele der später (1967 und 1973) Gekommenen inzwischen alle voll eingegliedert“. Schließlich gebe es hochrangige Politiker des Königreiches, Minister und Ministerpräsidenten eingeschlossen, die palästinensischer Herkunft sind. An ihrer Loyalität zweifele niemand im Land. Ihre Entscheidung für Jordanien sei endgültig, egal, ob es „jetzt oder später“ zur Ausrufung eines eigenen Staates Palästina komme. Müsste man also die immer noch umlaufenden Pauschalzahlen der palästinensischen Flüchtlinge in Jordanien radikal kürzen? „Was für Zahlen haben Sie denn?“, fragt Zamir Gahwi zurück. Wir berufen uns auf Angaben der UNRWA, der United Nations Relief and Works Agency für den Nahen Osten.[1] Sie bewegen sich allein für Jordanien zwischen 845 000 und weit über einer Million. In der aktuellen Internet-Seite des Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) wird die Zahl palästinensischer Flüchtlinge in Jordanien sogar noch mit 1,413 252 Millionen Menschen angegeben. Gahwi widerspricht sofort: „Das ist alles Unsinn.“ Man müsse vor allem bedenken, dass im und nach dem Junikrieg 1967 „Jordanier von einem Teil des Staatsgebietes in den anderen gewechselt“ seien, ohne ihre „nationale Identität zu ändern“.

Richtig ist, dass das Haschemitische Königreich Transjordanien 1948 das gesamte nicht von Israel eroberte Westjordanland, dazu Ost-Jerusalem (arabisch „al Quds“) besetzte, die dort verbliebenen Palästinenser im umbenannten Staat Jordanien zu jordanischen Staatsbürgern erklärte und sie mit jordanischen Ausweisen und Pässen ausstattete. Doch tauschten diese Palästinenser damit auch ihre Identität ein, hörten sie auf, Palästinenser zu sein, Angehörige eines eigenständigen Volkes mit langer, auch vor-islamischer Geschichte und Tradition, die schon im Alten Testament aufgeführten „Filastin“? Der Beamte des „Department for Palestinian Affairs“ räumt schließlich ein, dass in seinem Land unverändert „palästinensische Flüchtlinge“ leben, die jeder „Jordanisierung“ trotzen oder für deren Identitätswechsel und volle Einbürgerung (mit allen jordanischen Rechtstiteln) nicht „hinreichend geworben“ worden sei.

Tatsächlich leben in Jordanien noch an die 200 000 Palästinenser in Lagern, so in Irbid, Zarqa, Jerash, Salt. Das größte Lager besteht in Amman selbst fort, geradezu versteckt in einer Ebene am Hang des Jebel el Hussein. Eine deutsche Initiative Mitte 1996 zur Linderung der größten Not (von Waisen und Halbwaisen) beschreibt die Zustände in diesem Lager Al-Baqa’a sehr treffend:  „Das Palästinenserlager Al Baqa’a am Rande der jordanischen Hauptstadt ist eines der größten Palästinenserlager im Nahen Osten. Die seit 1948 andauernden Probleme der palästinensischen Bewohner haben aus dem ursprünglich gedachten ‚Notauffanglager’ einen der ärmsten Vororte Ammans werden lassen, der traurige Rekorde schlägt. Dazu gehören: Eine Arbeitslosenquote, die saisonal zwischen 30 und 50 Prozent liegt; seit Jahrzehnten vorherrschende erhebliche Wohn-, Gesundheits- und Versorgungsnöte (95 Prozent der Bewohner des Al Baqa’a Camps leben unterhalb der Armutsgrenze); rasch ansteigende Bevölkerungs-Zuwachsraten; eine Bevölkerungsdichte, die der Kalkuttas entspricht... Die durchschnittliche Anzahl der Kinder der palästinensischen Familien liegt bei 6,7. Die heutige Einwohnerzahl im Camp wird realistisch auf 120 000 geschätzt. Die bewohnte Fläche dieser seit 1948 vervielfachten Bevölkerung ist seit der Einrichtung des Lagers vor über 50 Jahren konstant bei 1,4 Quadratkilometer geblieben.“ [2]

Ein Soweto in Amman

Als wir aus diesem Papier im „Department of Palestinian Affairs“ zitieren, lösen wir nur verlegenes Schweigen und einen Stoßseufzer aus: Ja, so sei es wohl, aber man bemühe sich „permanent“ um die Verbesserung der Lage im Lager. Könne man es besuchen? „Davon rate ich ab“, sagt Zamir Gahwi. Doch später erweist es sich, dass die Sicherheitsbedenken vorgeschoben sind. Wir treffen überall im Camp auf freundliche Menschen, auch wenn sie ihre Armut und ihre Verzweiflung nicht verbergen können. Al-Baqa’a ist, gemessen auch an weniger wohlhabenden Bezirken Ammans, ein Schandfleck, und der einzig statthafte Vergleich, der sich aufdrängt, ist der mit Soweto, dem „Ghetto“ von Johannesburg/Südafrika: Häuser, die Containern ähneln, kaum befestigte Straßen und Wege, teilweise offene Kanalisation, das Trinkwasser wird meist von Tankwagen aus verteilt; doch immerhin hat die UNRWA einfache Schulgebäude und ein Gesundheitszentrum errichtet, gibt es Märkte und Geschäfte. Mahmoud Nabib, 66 Jahre alt, berichtet mit dürrer Stimme: „So wie mir ist es vielen hier ergangen. Wir sind 1948 zuerst von Haifa in die Nähe von Hebron geflüchtet, im Krieg 1967 dann über den Jordan. Man hat uns gesagt, in Al-Baqa’a könnten wir provisorisch unterkommen, wir bekämen bald normale Wohnungen. Das hat man seit 1948 auch immer wieder denjenigen versprochen, die als erste hierher gelangt waren... Wir leben hier nicht, wir hausen hier. Kaum einer hat dauerhaft Arbeit. Ab und zu kommt ein jordanischer Bauer oder ein Angestellter irgendeiner Baufirma, der Hilfskräfte braucht, mal für einen Tag, mal für ein paar Wochen, nie länger als ein-zwei Monate. Es ist der reinste Hohn, dass wir als Jordanier gelten sollen, einen jordanischen Pass bekommen können. Aber man behandelt uns als Fremde, die hier nichts zu sagen haben und die man nicht haben will.“ [3]

Yasir Arafat und andere arabische Führer sprechen heute wieder vom „heiligen“ Recht auf Rückführung und Entschädigung der Flüchtlinge (auch nach Israel) – nicht zuletzt unter Berufung auf die entsprechende (erste) UN-Resolution 194 vom Dezember 1948 –und machen dieses zu einer Kernfrage der Verhandlungen zwischen der Palestinian National Authority (PNA) und Israel – doch die Stimmung in Al-Baqa’a hat sich merkwürdigerweise kaum geändert, geschweige dass Enthusiasmus aufgekommen wäre. Hier wie in den zahllosen anderen Flüchtlingscamps in der Region, vor allem im Libanon, hat sich über Jahrzehnte hinweg tiefe Resignation förmlich eingefressen. Aber es kommt auch ein aktueller Faktor ins Spiel: Nach dem Inkrafttreten der Oslo-Vereinbarungen zwischen Israel und der PNA hatten zahlreiche Menschen die Möglichkeit, erstmals seit der Flucht oder Vertreibung zu Kurzbesuchen in das Westjordanland oder den Gazastreifen zu reisen. Die meisten sind eher nachdenklich, manche auch abgestoßen zurückgekehrt. „Mein Herz ist in Gaza, aber mein Platz ist eher hier als dort“, sagte einer, der vor einigen Jahren das Lager Al-Baqa’a verlassen hatte und sich eine mittelständische Existenz aufbauen konnte. „Die Lage drüben ist völlig unübersichtlich. Der ganze Gaza-Streifen ist ja noch schlimmer als das schlimmste Lager in Jordanien. Und hier herrscht doch viel mehr Ruhe, es gibt stabile Verhältnisse im Land.“

Obendrein wird die harte israelische Haltung zur Repatriierungsfrage sehr wohl registriert. Ehud Barak hatte nur kleinste Zugeständnisse „angedacht“. Ariel Scharon lehnt jede Form der Rückkehr von Palästinensern nach Israel – ebenso eine Entschädigung für verlorenes Hab und Gut – kategorisch ab. Er steht nicht allein. Meinungsumfragen in Israel bestätigen ihm die Unterstützung einer satten Mehrheit. Nicht nur dies. Mit einem Offenen Brief an die palästinensische Führung haben Anfang Januar 2001 Amos Oz, A.B. Yehoshua und andere israelische Intellektuelle und Aktivisten der Friedensbewegung eindringlich dargelegt: „Wir werden niemals bereit sein, einer Rückkehr von Flüchtlingen innerhalb der Grenzen Israels zuzustimmen. Eine solche Rückkehr würde zur Eliminierung Israels führen.“ Und Yossi Sarid, der Chef der linksgerichteten Meretz-Partei, erklärte kühl: „Israel kann ohne die Souveränität über den (Jerusalemer) Tempelberg überleben, aber es kann nicht mit dem Recht (der Palästinenser) auf Rückkehr überleben.“[4]

Politische Zahlenspiele

Zu bedenken ist auch: So offensiv und nachhaltig Yasir Arafat und seine PNA jetzt auch das palästinensische Rückkehrrecht anmahnen, so sehr scheuen sie in Wahrheit davor zurück, es in den ihnen bisher zugesprochenen Autonomiegebieten in Kraft zu setzen. Ihnen dürfte klar sein, dass eine Massenrückwanderung von Flüchtlingen (wenn sie denn tatsächlich zustande käme) die demographischen Verhältnisse im Westjordanland und vor allem in Gaza völlig umstürzen und zum sozialen Chaos führen müssten. Dabei handelt es sich den Palästinenserführern (und anderen im arabischen Lager) zufolge um insgesamt 3,5 Millionen Palästinenser, die gegenwärtig als Flüchtlinge im arabischen Ausland leben. Dies sind jedoch „politische Zahlen“, die keiner genauen Überprüfung standhalten. Insgesamt waren 1948/49 und 1967 etwa 1,2 Millionen Palästinenser geflohen oder vertrieben worden. Von ihnen sind indes viele „nur“ aus Kern-Israel in die damals jordanischen Westbank-Gebiete und den bis 1973 ägyptisch verwalteten Gazastreifen übergesiedelt. Insgesamt sind im und nach dem ersten Nahostkrieg 650 000 Palästinenser in den arabischen „Freundesstaaten“ aufgenommen worden. An die 400 000 Palästinenser blieben in Israel; zum größten Teil erwarben sie auch die israelische Staatsbürgerschaft, wenn sie auch in der Rechtspraxis immer wieder benachteiligt wurden. Ihre Zahl ist inzwischen auf über eine Million Menschen angewachsen (s.u.).

Völlig übertrieben muten die Zahlen an, die Syrien vorgelegt hat. Zuerst hieß es, Damaskus habe „rund 600 000 Palästinenser“ aufgenommen. Dann wurde (1975) von 320 000 Flüchtlingen in Syrien gesprochen, doch die UNRWA korrigierte die Zahlen 1990 und 1997 weiter nach unten, auf (jetzt) 256 739, von denen lediglich 104 011 in insgesamt zehn Lagern lebten.[5]  Bedenken muss man hierbei auch, dass diese Zahlen nicht nur die „Erstflüchtlinge“ erfassen, sondern bereits deren Kinder und die Enkel einschließen.

Völlig bedeckt hält sich Jordanien. Es spricht halboffiziell nur noch von rund 200 000 in Lagern lebenden „Menschen palästinensischer Herkunft“, während alle anderen zu Jordaniern erklärt worden sind. Wiederum halboffiziell geht man davon aus, dass heute 60 bis 70 Prozent der rund 4,5 Millionen jordanischen Staatsbürger palästinensische „Wurzeln“ haben. Diese Zahlen wollte aber Zamir Gahwi im Department for Palestinian Affairs nicht bestätigen; für ihn sind „Jordanier doch Jordanier“, und wenn man anfange, jeweils die Herkunft zu bewerten und dabei „beduinisch“ oder „palästinensisch“ gegeneinander rechne, „stelle man jedwede jordanische Identität in Frage“.

König Hussein hatte seit den achtziger Jahren eine regelrechte, stark werbende und sogar beschwörende Kampagne geführt, in der er sich für eine „Konsolidierung der jordanischen Identität“ („ta’ziz asl-hawija al-urduniya“) einsetzte: Ihm wurde wohl bewusst, dass die ständige Erwähnung oder gar Betonung der Herkunft die Existenz des jordanischen Staatswesens in Frage stellte. [6] Husseins Nachfolger, König Abdullah II., erneuerte gleich nach seiner Krönung am 7. Februar 1999 das Verbot aller Aktivitäten und Gruppierungen mit „nicht-jordanischer Zielsetzung“, und konsequent ließ er im Laufe des Jahres 1999 mehrere Führungsmitglieder der radikal anti-israelischen und Anti-Arafat-Bewegung Hamas verhaften und ihre „einfachen“ Mitglieder ermahnen, sich jeder politischen Tätigkeit zu enthalten. [7] Diese Haltung Jordaniens resultiert nicht nur aus der Sorge um die „einheitliche Identität aller Jordanier“; sie ist auch historisch bedingt: Im „Schwarzen September“ 1970 hatten Milizen der „Fatah“ und Politiker der PLO gewaltsam versucht, die jordanische Monarchie zu stürzen und sich an die Spitze eines „palästinensischen“ jordanischen Staates zu setzen. Nur mit äußerster Mühe und dem Einsatz schwerer Waffen konnte sich Hussein damals behaupten. Die PLO-Führung und ihre restlichen Truppen wurden in den Libanon verjagt. Muss man auch die von ihnen im Libanon Verbliebenen als „palästinensische Flüchtlinge“ bezeichnen?

Flüchtlinge oder Vertriebene?

Hier erheben sich Zweifel. Sie verstärken sich noch, wenn man die in jüngster Zeit in den Autonomiegebieten, in den arabischen Staaten und in Israel erneut in Gang gesetzte und äußerst hitzig wie kontrovers geführte Diskussion verfolgt, ob man die angeblich vielen Millionen Palästinenser außerhalb Israels als Flüchtlinge oder Vertriebene bezeichnen soll. Israel besteht darauf, die meisten seien 1948/49 „von selbst weggegangen“; die arabische Seite spricht von „systematischer Verfolgung und Vertreibung“, und sie kann dafür das Haganah-Massaker von Deir Yassin am 10. April 1948 als besonders schreckliches Beispiel nennen, wie Palästinenser durch organisierten Mord in Panik versetzt und zur Flucht getrieben wurden.

Blickt man in die Geschichte zurück, wird man zu dem Urteil gedrängt, dass beide Seiten Recht und Unrecht zugleich haben. Unbestritten ist, dass sich 1948 als erste die Angehörigen des palästinensischen Establishments aus eigenem Antrieb zur Flucht wandten. Die ohnehin mit Transjordanien eng verflochtenen „großen Familien“ retteten sich und ihr ohnehin meist schon im Ausland angelegtes Kapital schnell nach Amman, Beirut, in die Golfstaaten, wo sie, wie der berühmte Clan der Nashashibis, bald wieder einflussreiche Positionen einnahmen. Es folgten viele Verwaltungsbeamte und Intelligenzler, kurzum: die Oberschicht. Sie richtete sich bis 1967, nun unter jordanischer Oberhoheit, zum Teil wieder im Westjordanland ein, und sie war es erneut im Junikrieg 1967, die vor allen anderen über den Jordan nach Osten abwanderte. Ihr Beispiel machte in beiden Fällen Schule: Hunderttausende folgten ihnen. Dieser Exodus erzeugte eine Zäsur: Die wirtschaftliche palästinensische Elite koppelte sich vom „gemeinen“ Volk völlig ab, so dass sich eine neue palästinensische Elite formen musste, und diese war nun, im Gegensatz zu der (nach Max Webers Formel) alten „Wertelite“ eine reine „Funktionselite“. Aus ihr stammen die politischen Aktivisten und auch die bis zur äußersten Radikalität, ja zum Terrorismus bereiten Führer der verschiedenen und untereinander meist verfeindeten Palästinensergruppen, von der PLO bis zur Volksfront für die Befreiung Palästinas von George Habash oder der Arafat-feindlichen „Hamas“. Unter den Extremisten spielte es bald und spielt es heute keine Rolle, ob die Anhänger oder „Kämpfer“ wirklich Palästinenser sind. Die im Südlibanon den Israelis lange hart zusetzende und zuletzt triumphierende „Hisbollah“ besteht nach verlässlichen Berichten nur zu einem kleinen Teil aus Palästinensern. In ihr sind mehrheitlich gebürtige Libanesen, dazu Syrer und Iraner, angeblich auch afghanische „Mudschahedin“ aktiv.

„Alle sind sie Vertriebene aus Palästina“, behaupten dagegen ihre eigenen und andere arabische publizistische Organe. Es ist historisch erwiesen, dass die israelische Propaganda während des Unabhängigkeitskrieges massive „psychologische Kriegführung“ betrieb und mit alarmierenden Berichten über bevorstehende israelische „Vergeltungsoperationen“ gegen palästinensische Gemeinden Massenpanik erzeugte und Massenflucht auslöste. Unumwunden hat Yigal Allon, der im Laufe der Zeit vom „Falken“ zur „Taube“ gewendete ehemalige Palmach-Kommandeur und spätere Minister der Arbeitspartei, dies eingestanden und dazu bekannt: „Ich ließ alle jüdischen Muchtars zusammenholen, die mit den Arabern in den Dörfern Kontakt hatten, und bat sie, den Arabern zuzuflüstern, ein starker jüdischer Verband sei in Galiläa einmarschiert und werde alle Dörfer des Hule-Beckens niederbrennen. Sie sollten den Arabern raten, zu fliehen, so lange noch Zeit war. Diese Taktik führte zu vollem Erfolg.“

Doch die karitha, die palästinensische Katastrophe im Krieg 1948/49 mit ihrer panischen Massenflucht , war auch selbst verschuldet. „Die verwirrten Palästinenser folgten nur dem Beispiel ihrer Führer“, hielt John Kimche, selbst im Unabhängigkeitskrieg militärisch engagiert und später Herausgeber des Jewish Observer, in einer sehr genauen, durchaus nicht araberfeindlichen Darstellung fest. Bereits Ende März 1948, also vor der Ausrufung des Staates Israel, „als für die Araber noch alles rosig aussah“ und Jaffa wie Haifa noch fest in arabischer Hand waren, „verließen täglich Schiffe voll Flüchtlingen nach Beirut“ beide Häfen. „Mitte April (1948) hatte eine Viertelmillion Palästinenser ihre Heimat verlassen.“ [8]

Kimche verwies vor allem auf das „Beispiel Haifa“: Hier hatte sich ein Arab Emergency Committee gebildet, das zunächst mit der jüdischen Kampftruppe Haganah verhandelte, seine Bedingungen für eine Waffenruhe jedoch nicht durchsetzen konnte. Daraufhin bat das Haifa-Committee das in Beirut residierende Arab Higher Committee um Anweisungen und erhielt die Order, „der Bevölkerung die Evakuierung und den Umzug in benachbarte arabische Länder zu erleichtern... So bewahren die Araber ihre Ehre und ihre Tradition“. Ende April 1948 beschwerte sich das Haifa-Committee bei dem noch amtierenden britischen General Stockwell, die Evakuierung der Palästinenser aus Haifa stocke, man habe nur dreizehn LKWs zur Verfügung gestellt, und in einigen Fällen habe die Haganah „Araber am Verlassen der Stadt gehindert“. Es gehört zum politisch-propagandistischen Ritual der Israelis wie der Araber, dass zum Beweis für Flucht oder Vertreibung nach Belieben die passenden Dokumente herausgeholt oder versteckt und als Fälschungen verworfen werden. Am individuellen Schicksal der Depossedierten ändert diese Fragestellung ohnehin nichts, zumindest nicht vor dem jeweiligen „turning point“, an dem die Einzelnen die Motivation, die Kraft oder die Hilfe erhielten, aus dem bedrückenden Lagerleben in eine normale Existenz zu wechseln. Auch ihnen setzt jedoch ununterbrochen die gerade jetzt wieder reaktivierte arabische Publizistik zu, die betont, jeder Flüchtling (und von Flüchtlingen Abstammende) besitze ein „Menschenrecht auf Rückkehr in seine Ursprungsheimat“.

Politische Verfügungsmasse

Dabei bedienen sich sowohl die palästinensischen Organisationen als auch die arabischen „Gaststaaten“ der Flüchtlinge als einer politischen Verfügungsmasse für ihre jeweiligen politischen Ziele und Ambitionen. Man will sie als Druckmittel mal behalten, und dies in miserablen Verhältnissen, mal los werden. Über lange Zeit gaben Palästinenser auch der Versuchung nach, sich mit bescheidensten Notunterkünften abzufinden, da sie ja – so die syrischen wie die libanesischen Autoritäten – „nicht lange bleiben“, sondern schon bald in die angestammte Heimat zurückkehren würden. Hilfen der UNRWA für den Bau fester Unterkünfte und geordneter Infrastrukturen wurden in den Lagern nahe Damaskus wie in und um Beirut oder Sidon lange abgelehnt oder „umgeleitet“. Das derart zu propagandistischen Zwecken entwickelte Elendsbild des „Dahinvegetierens in den Lagern“ konnte sich so über Jahrzehnte halten, auch dann noch, als sich die „Gaststaaten“ wie die Flüchtlinge dazu entschlossen hatten, die übelsten Missstände in den Lagern abzubauen und halbwegs lebensfähige Verhältnisse zu schaffen.

Das geschah in Jordanien und in Syrien in den siebziger Jahren, während im Libanon nur lokal Verbesserungen zugelassen wurden. Unverändert sind hier die Lebensbedingungen der Palästinenser am schwersten. Die Flüchtlinge haben (mehrheitlich) keine libanesischen Ausweise; sie erhielten bis heute generell keine Arbeitserlaubnis, sie dürfen keine libanesischen Schulen und Sozial- und Gesundheitseinrichtungen nutzen. Und unablässig werden sie mit gezielten Gerüchten in Unruhe versetzt. Propaganda aus Gaza oder Ramallah suggeriert ihnen, ihre Rückkehr in die „alte Heimat“ sei nur noch eine Frage kurzer Zeit, bis mit Israel eine rechtlich gültige Vereinbarung getroffen werde. Dem gegenüber streuen libanesische „Quellen“ – mal aus dem noch immer araberfeindlichen maronitisch-christlichen Milieu, mal von muslimischer Seite –, es sei „beschlossene Sache“, die Flüchtlinge umzusiedeln. Dafür werden mal der Irak und Libyen genannt, mal aber auch – natürlich ominöse – kanadische oder US-Offerten, eine große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Nichts davon fußt auf einer realistischen Grundlage, doch die Wirkung ist verheerend. Übrig bleiben, so empfinden es jene unter den Flüchtlingen, die einen kühlen Kopf bewahrt haben, allenfalls zwei Optionen: Die Überführung einer bestimmten Zahl (aber längst nicht aller) in die Palästinensischen Autonomiegebiete und die dauernde Ansiedlung außerhalb von Lagern im Libanon, und selbst hierfür gibt es in absehbarer Zeit keine Chancen. Zudem ist nicht bekannt, wie viele Palästinenser im Libanon leben und wie viele im Sinne der UNRWA-Definition als Flüchtlinge gelten. Zweifelsfrei bestätigt sind nur alte Zahlen. So wurden 1951 exakt 106 800 Palästinenser als Flüchtlinge registriert. 1974, vor dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges, waren es offiziell 191 700. Für 1987 gab die UNRWA 373 586, 1997 dann 359 005 registrierte Palästinenser an. Von ihnen sollen 143 809 bzw. 195 662 in Lagern gelebt haben. Yasir Arafat sprach in einem Interview mit einer libanesischen Zeitung Ende Januar 2000 von „360 000 palästinensischen Flüchtlingen im Libanon, die auf jeden Fall alle in ihre Heimat zurückkehren“ würden.[9] Andere Quellen gingen aber längst davon aus, von früher registrierten 275 000 lebten „wahrscheinlich nur noch 200 000 im Lande“.[10]  Um die Verwirrung noch weiter zu treiben, behauptete 1994 der Drusenführer Kamal Jumblat als der für Flüchtlinge zuständige Minister in Beirut, man müsse sich um etwa 400 000 Personen kümmern, und sie sollten tunlichst in die „libanesische Gesellschaft integriert werden“.[11]

Stigmatisierte Flüchtlinge

Genau das aber wollten und wollen die beiden größten ethnisch-religiösen Gruppen des Libanon nicht. Erstens sind die palästinensischen Flüchtlinge (bis auf wenige) sunnitische Muslime. Die libanesischen Sunniten machen 21 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, sie allein würden von einer Eingliederung der Palästinenser profitieren und könnten ihren Bevölkerungsanteil und damit ihre politische Basis erheblich vergrößern. Dem stehen 32 Prozent Schiiten gegenüber, die neben den 40 Prozent Christen die größte Ethnie bilden. Das ausgeklügelte (wenn auch immer wieder in Frage gestellte) politische System des Libanon bestimmt, dass immer ein Christ Staatspräsident, ein Sunnit Regierungschef, ein Schiit Parlamentspräsident wird. Im Parlament sind den beiden islamischen Glaubensrichtungen mit ihren Parteien jeweils 27 der insgesamt 128 Sitze zugestanden worden. Dagegen laufen die Schiiten seit langem Sturm. Ihre Ansprüche auf größeren politischen Einfluss könnte dann das sunnitische Lager spielend abwehren.

Zweitens und wohl noch entscheidender ist ein psychologischer Faktor. Unverändert hält die Mehrheit der Libanesen daran fest, dass die Palästinenser die Hauptschuld am siebzehnjährigen Bürgerkrieg und an der (mit Unterbrechungen) 22 Jahre währenden israelischen Besetzung des Südlibanons tragen. Vergessen ist auch nicht, dass Arafats Fedayin – aus Jordanien 1970 in den Libanon verjagt – die israelische Offensive 1982 provoziert hatten, die der damalige Verteidigungsminister und Ex-General Ariel Scharon anführte. Gnadenlos ließ er rechtsradikale christliche Milizen in den Lagern Schatila und Sabra wüten und Hunderte (andere sagen: Tausende) von Palästinensern abschlachten. Scharon sorgte auch dafür, dass das innenpolitische Gleichgewicht des Libanon vollends aus den Fugen geriet, als er ganz Beirut erobern und die Fedayin „für immer auslöschen“ wollte. Die erschreckten Libanesen setzten Yasir Arafat unter Druck. Aber er weigerte sich zunächst, mitsamt seinen Kämpfern nach Tunesien auszuweichen. Das rief die Syrer auf den Plan. Ihre Intervention führte zum Abzug Arafats (er kehrte noch einmal 1983 zurück) und mündete schließlich in die Dauerstationierung von 35 000 syrischen Soldaten und die zunehmende, in wichtigen Fragen totale politische Abhängigkeit des Libanon von Syrien. Sie besteht auch nach dem Tod des syrischen Präsidenten Hafez al-Assad am 10. 6. 2000 und der Machtübernahme seines Sohnes Baschar fort. Die (auch nach dem Kondolenzbesuch Arafats bei der Beisetzung von Assad Senior fortdauernde) „Erzfeindschaft“ der Assads mit Arafat wird als einer der Hauptgründe genannt, dass es zu keiner wie immer gearteten Verständigung über die belastende Frage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon (und in Syrien selbst) gekommen ist und kommen wird. Die Palästinenser bleiben somit auch hier politische Verfügungsmasse, sowohl der Libanesen als auch der Syrer.

Arafats Dilemma

Dass Israel, erst recht unter Scharon, keinerlei Zugeständnisse in der Frage einer Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in sein Kerngebiet machen wird, steht außer Diskussion. Aber auch Arafat steckt in diesem Punkt in tiefem Dilemma. Sein Hoheitsgebiet, wenn man dies überhaupt so nennen darf, ist wirtschaftlich und sozial tief zerrüttet, zum größten Teil überbevölkert. Im Einzelnen ergibt die Statistik folgende Daten:

__________________Westjordanland                     Gaza                            Ost-Jerusalem

Fläche:                         5 633 qkm                    364 qkm (42 qkm israel.bes.)     unter 20 qkm
Bevölk:                        1,873 Mio                                 1,022 Mio                     210 000 Araber
davon arabische           
Flüchtlinge                    569 700                                    798 400
Israelis                         154 000                                      25 000                        158 000

Diese Zahlen machen klar, dass auch in den Autonomiegebieten Westjordanland und Gaza mehrheitlich Flüchtlinge und deren Nachkommen leben. Das gilt vor allem für den nur 42 Kilometer langen und nur zwischen 9 und 13 Kilometer breiten Gazastreifen, der – von Ghazza/Gaza-Stadt und zwei, drei weiteren kleineren Gemeinden abgesehen, völlig von Flüchtlingslagern beherrscht wird. Wer im Libanon oder in Jordanien Baqa’a und andere Camps gesehen hat, wird dies trotz ihrer Enge und Primitivität als wahre Wohlstandsinseln bezeichnen, verglichen mit den Riesenslums der Lager von Shati, Djebala, Rafa und Khan Yunis im Gaza-Schlauch. Alle registrierten Flüchtlinge werden seit den fünfziger Jahren von der UNRWA betreut. Dies galt auch für die Zeit, als der Gazastreifen unter ägyptischer Verwaltung stand und von Kairo aus völlig abgeriegelt war und noch mehr als unter israelischer Besatzung als die „Kloake des Nahen Ostens“ galt. Hier lebten 1948 vor dem ersten Nahostkrieg knapp 100 000 Menschen, und sie fanden in dem relativ fruchtbaren Landstrich Arbeit und Auskommen. Urplötzlich sahen sie sich von einer gewaltigen Menschenwoge überschwemmt. Es entstanden Blechbüchsen- und Lumpenkolonien, über denen stolz die Fahne Ägyptens flatterte. Aber Kairo dacht an Gaza nur als einer Militärbasis für künftige Kriege gegen Israel, die Flüchtlinge blieben unter Faruks und Nassers Gouverneuren staatenlos. Die Zustände waren so deprimierend, dass die Israelis 1956 zu ihrer Verblüffung nicht unfreundlich empfangen wurden. Doch gingen sie bis zu ihrem Abzug so scharf gegen Fatah-Aktivisten vor, dass sie bei der zweiten Eroberung im Yom-Kippur-Krieg auf einen Betonwall des Widerstandes stießen. [12]

Fanatismus und Terrorismus fanden seit den siebziger Jahren und bis zum Oslo-Abkommen 1993 in Gaza – und insbesondere in den von Israelis neu eingerichteten Lagern Brasilia I und II sowie Scheikh Radwan, ihren fruchtbarsten Nährboden. Seit dem Ausbruch der zweiten, der al-Aqsa-Intifada Ende September 2000, dürfen sich auch zwischenzeitlich von Arafats PNA inhaftierte oder scharf kontrollierte „Hamas“-Aktivisten wieder frei bewegen und ungehindert agitieren. Die israelische Armee durchschnitt daraufhin den Gazastreifen in drei abgeschnittene „Zonen“, in denen sie die Palästinenser voneinander und von den 15 000 gleichermaßen fanatisierten israelischen Siedlern trennt – als ob dies Spannungen abbauen und bewaffnete Auseinandersetzungen verhindern könne. Die Aussperrung der vorher in Israel beschäftigten Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland hat die ohnehin prekären wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse im Autonomiegebiet abermals verschlechtert. Das Bruttosozialprodukt fiel in den letzten drei Monaten 2000 um 13 Prozent unter die Projektionsmarke, die Arbeitslosigkeit stieg von 11 (nach anderen Quellen:13,7) Prozent vor der Intifada auf 35 bis 40 Prozent (im Gazastreifen noch höher), die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar Einnahmen oder Zuwendungen pro Tag leben müssen, schoss von 20 auf 32 Prozent hoch.[13] Dabei sind die Flüchtlinge besonders betroffen. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorauszusagen, dass hier die Saat einer noch tieferen Verfeindung mit den Israelis heranwächst.

Aber auch die Führungsschicht um Arafat, von den Alteinsässigen und von den „regulären“ Flüchtlingen wegen ihres langen und komfortablen Exils in Nordafrika während der achtziger Jahre als die „Tunesier“ verhöhnt, gerät dabei in die Bredouille. Schon vor der Al-Aqsa-Intifada, während des Streits um dann abgesagte Kommunalwahlen, bildete sich in Lagern bei Bethlehem und im Gazastreifen eine „Bewegung zur Verteidigung der Rechte der Flüchtlinge“. Ihre Anführer und Anhänger verzichteten ausdrücklich auf ihre Mitarbeit in den Gemeindevertretungen, um damit Druck auf die PLO auszuüben, endlich in der „Rückführungsfrage aktiv zu werden“. Anderswo, vor allem in Städten wie Ramallah, Jericho und Gaza-Stadt, schlugen Flüchtlingsvertreter einen Gegenkurs vor. Sie beklagten, dass zu wenige von ihnen in den Kommunalvertretungen und Kommunalorganen zur Mitarbeit herangezogen würden. Und als die Al-Aqsa-Intifada dann losbrach, wurde sehr schnell deutlich, dass sich deren Aktivisten Waffen dort besorgten, wo sie seit langem gehortet wurden: in den oft auch unter der PNA-Herrschaft abgeschlossenen Flüchtlingslagern. Bei dem aggressiven Potenzial, das die Flüchtlinge demographisch wie politisch darstellen und das sowohl Israel wie auch die PNA fürchten müssen, ist jeder Gedanke an eine bereitwillige Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen arabischen Ländern in den Palästinensischen Autonomiegebieten hinfällig. Dies würden weder Israel, noch die PNA Arafats zulassen. Das von den Palästinensern so offensiv eingeklagte „Recht auf Rückkehr“ für 3,5 oder 3,6 Millionen palästinensischer Flüchtlinge steht auf vergilbendem Papier.

Auch Israel kann und wird nicht als Rückkehrgebiet dienen. Von „einzelnen Flüchtlingen“ haben israelische Diplomaten in den Folgeverhandlungen zu Oslo mehrmals gesprochen, denen man im Rahmen von „Familienzusammenführungen“ gestatten könne, zu ihren israelisch-arabischen Angehörigen in Israel umzusiedeln. Scharons Likud hat solche „Großzügigkeit“ scharf kritisiert und jedwede „Heimführung“ von Palästinensern nach Israel ausgeschlossen. In solcher starren Haltung wird die jetzige Regierung durch die radikal veränderte Haltung der arabischen Staatsbürger Israels seit dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada nachdrücklich bestärkt: Viele in und um Nazareth haben sich mit den Palästinensern in den Autonomiegebieten und Ostjerusalems demonstrativ solidarisiert. Es kam zu Protestaufmärschen, es flogen Steine gegen israelische Polizisten und Soldaten, die in den ersten Oktobertagen 2000 mit Sicherheit 13 Demonstranten töteten (arabische Quellen nennen noch höhere Zahlen). Bis ins Frühjahr 2001 hinein hielt die aufgebracht-feindselige Stimmung unter den israelischen Arabern an. Und hatten sich früher bis an die neunzig Prozent der Wahlberechtigten an Knesset-Wahlen beteiligt und dabei zumeist die Arbeitspartei gewählt, so betrieb die Mehrheit bei den Scharon-Wahlen 2001 strikten Wahlboykott, der zum Desaster der Arbeitspartei entscheidend beigetragen haben dürfte. Vor allem denkt deshalb heute kein israelischer Politiker noch daran, palästinensischen Flüchtlingen eine direkte Rückführung nach Israel zu gewähren. „Das Thema ist definitiv erledigt“, hört man von kompetenter israelischer Seite. Und die brüske Ablehnung jedweder Verhandlungen über die palästinensische Flüchtlingsfrage wird hinzugefügt.

Die andere Seite

Unter den schwersten Bedingungen der Entwurzelung, Fremdbestimmung und Demütigungen haben Palästinenser es vermocht, sich in der eigenen wie in fremden Gesellschaften zu behaupten und gar aufzusteigen. Überall in den arabischen Staaten gehören Palästinenser zu den ökonomischen wie intellektuellen Führungsschichten. Offiziell sind 123 000 Palästinenser in Saudi Arabien, 90 000 im Irak, 40 000 in Ägypten, 35 000 in Kuwait tätig, und dies meist in gehobenen bis hohen Positionen der Verwaltung, der Wirtschaft, des Bildungswesens. Die exakten Zahlen dürften weit höher liegen, da viele von ihnen längst eingebürgert worden sind. Außerdem leben viele – man schätzt bis zu 100 000 – in den arabischen Golfstaaten. Viele unterstützen ihre Familien in den Autonomiegebieten und in den Zufluchtsländern, manche haben auch zur Finanzierung politischer und auch radikaler politischer Gruppierungen beigetragen. Sie alle haben durch ihr persönliches Beispiel, durch den Nachweis ihrer Fähigkeiten und ihres Einsatzwillens das Bild einer anderen palästinensischen Ethnie gestaltet, und ihr Stolz auf die eigene Leistung kontrastiert so scharf wie positiv zum Grad der Verzweiflung und Erniedrigung, der die Masse der Depossedierten und der in den Autonomiegebieten Lebenden so beklagenswert kennzeichnet. Sie geben auch eine Ahnung davon, wie viel an Potenzial in diesem Volk schlummert, das als Opfervolk des Nahen Ostens – und nicht nur Israels – nur unzulänglich bezeichnet wird.           


[1] „Unterstützung des Projekts der Orphan Welfare Association“ 1997, Amman, kop. Dokument

[2] Fritz Schatten, „Die andere Seite“, in: Jordanien verstehen, Ammerland, 2000, S. 31

[3] The Economist, London, January 6th, 2001

[5] Ferhad Ibrahim,“Jordanien nach dem Friedensschluss mit Israel“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn, B18/1996

[7] The Jordan Times, Amman, 23.9.1999

[8] John Kimche, The Second Arab Awakening, London 1970, deutsch: Zeitbombe Nahost, Hamburg 1970, S. 263 ff.

[9] AP, 29.1. 2001

[10] The Economist, London, June 24th, 2000

[11] Libanesische Quellen, April/Juni 1994

[12] Einzelheiten in: Fritz Schatten, Entscheidung in Palästina, op. cit., S. 147 ff und in: Israel verstehen, Studienkreis für Tourismus u. Entwicklung, Ammerland 2001

[13] The Economist, London, February 3rd, 2001


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