Race to the Bottom oder Race to the Top?
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes als Mittel zur sozialen
Gestaltung der Globalisierung
Das Beispiel Rugmark
Die
Kinderarbeit im Teppichgürtel Indiens ist zurückgegangen,
so Shahid Ashraf in dieser Ausgabe der IPG. Die lokal
aktiven deutschen Nichtregierungsorganisationen (NRO)
melden denselben Trend. Dieser Erfolg ist dem gemeinsamen
Handeln von NRO, Unternehmen, der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) und der deutschen und indischen Regierung zu verdanken.
Zentrales Element war das Sozialsiegel Rugmark.
Zunächst
hatten indische und deutsche NRO, insbesondere Brot für
die Welt, Misereor und terre des hommes, Öffentlichkeit
und Verbraucher auf die Missstände aufmerksam gemacht.
Zusammen mit dem vom Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geförderten Indo-German
Export Promotion Project (IGEP) entwickelten sie das Rugmark-Siegel
für Teppiche, die ohne Ausbeutung von Kindern gefertigt
wurden. Bald nahmen Handelshäuser und Importeure Rugmark-gesiegelte
Teppiche in ihr Sortiment auf. Als Reaktion gründeten
die deutschen Teppichimporteure und Einzelhändler die
Initiative ‘Care und Fair’, die zwar kein Sozialsiegel
vergibt, sich aber im Rahmen einer nicht überwachten Selbstverpflichtung
gegen Kinderarbeit engagiert. Auch
indische Unternehmer unterstützen die Ausbildungs- und
Rehabilitationsprogramme beider Initiativen. Inzwischen
dürfte etwa die Hälfte der in Deutschland verkauften indischen
Teppiche entweder durch Rugmark gesiegelt oder von Care
& Fair-Mitgliedern importiert sein. Unter öffentlichem
Druck verstärkte auch die indische Regierung ihr Engagement
gegen illegale Kinderarbeit.
Ohne
das Sozialsiegel Rugmark wäre der Erfolg nicht zustande
gekommen: Nur das Siegel bot den Produzenten einen Anreiz
zur Umstellung ihrer Produktion auf Arbeitsweisen ohne
Kinderarbeit (Haas 1998). Können die Erfahrungen von Rugmark
verallgemeinert werden? Können freiwillige, marktkonforme
Instrumente wie Sozialsiegel oder Verhaltenskodizes von
Unternehmen einen Beitrag zur Verbesserung sozialer Standards
leisten?
Es wird viel über die negativen sozialen Auswirkungen der Globalisierung
– die Internationalisierung von Produktion, Handel und
Kommunikation – geschrieben. Die Globalisierung eröffnet
aber auch neue Wege, soziale Standards weltweit zu verbessern.
Globalisierung wird heute auch gestaltet und sozial reguliert,
wobei neue Akteure, Politikforen und
Instrumente
an Bedeutung gewinnen: Die neuen Akteure
sind Nichtregierungsorganisationen im Verbund
mit Unternehmen, die Politikforen sind vielschichtige
Aushandlungsprozesse, oft in der Form von „Politiknetzwerken“,
die neuen Instrumente
sind Sozialsiegel (Label) und Verhaltenskodizes
für Unternehmen. Sozialsiegel (Sozial-Label) garantieren
produktspezifisch, dass bei der Produktion eines Gutes
bestimmte soziale Bedingungen eingehalten wurden (Beispiele
sind Transfair, Rugmark, Flower Label Programm). Soziale
Verhaltenskodizes von Unternehmen sind freiwillige
Selbstverpflichtungen, in der Produktion bestimmte soziale
und ökologische Richtlinien einzuhalten. Diese Kodizes
sollen in Übereinstimmung mit internationalen Standards
(etwa der ILO-Konventionen zu Kinderarbeit, Zwangsarbeit
und Vereinigungsfreiheit) formuliert sein und die Anwendung
der Regeln (Verantwortlichkeit im Unternehmen, Gültigkeit
gegenüber Lieferanten, Folgen bei Nichteinhaltung etc.)
sowie die Modalitäten der Überwachung definieren.
Sozialsiegel und
Verhaltenskodizes können wirksame Instrumente zur sozialen
Steuerung der wirtschaftlichen Globalisierung sein. Ihr
Potenzial ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Bei
ihrer Ausweitung kommt staatlichem Handeln, das sich allerdings
nicht mehr im traditionellen ordnungspolitischen Rahmen
bewegt, eine wichtige Rolle zu.
Verbreitungsgrad und Qualität von Sozialsiegeln und Verhaltenskodizes
sind unterschiedlich (Kapitel „Bestandsaufnahme und Entwicklungstendenzen).
Ihre beobachtbaren sozialen Auswirkungen sind zum Teil
sehr ermutigend, insgesamt aber (noch?) begrenzt (Kapitel
„Soziale Auswirkungen von Siegeln und Kodizes“). Andererseits
ist das Potenzial zur Steuerung durch Sozialsiegel und
Verhaltenskodizes hoch (Kapitel „Sozialsiegel und Verhaltenskodizes
statt Sozialklausel“), zumindest wenn Siegel und Verhaltenskodizes
bestimmte Anforderungen erfüllen (Kapitel „Anforderungen
an Siegel und Kodizes“). In Zukunft wird es darauf ankommen, das
Potenzial durch eine stärkere Vernetzung der Initiativen
(Kapitel „Agenten des Wandels:...“) und durch die verbesserte
Umsetzung der Anforderungen an Siegel und Kodizes (Implementierungsmechanismen,
Konsumentenverhalten u.a.) besser zu nutzen (Kapitel „Handlungsfelder
für Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat“).
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes: Eine Bestandsaufnahme
Sozialsiegel: Fairer Handel in die Supermärkte
Mit der Einführung gesiegelten Kaffees (1990
durch Max Haavelaar in den Niederlanden und 1993 durch
Transfair in Deutschland) wurde das Konzept des fairen
Handels in die Supermärkte getragen. Das Volumen
fairen Handels hat sich in den neunziger Jahren etwa verfünffacht.[5] Sozialsiegel sind inzwischen in den meisten
OECD-Ländern eingeführt. Die internationale Dachorganisation
FLO (Fair Trade Labelling Organizations International)
hat 17 nationale Mitgliedsorganisationen (14 europäische
Länder, Kanada, Japan und die USA). Deutsches Mitglied
ist Transfair Deutschland. Zur Zeit werden Kaffee, Tee, Kakao, Honig,
Zucker, Orangensaft und Bananen gesiegelt. FLO/Transfair
siegelt also im wesentlichen „Kolonialwaren“ bzw. Agrarprodukte
(inklusive weiter verarbeiteter Produkte). Dabei schwanken
die Marktanteile zwischen einem Prozent für Kaffee in
Deutschland und etwa 15 Prozent für Bananen in der Schweiz.
Der Einzelhandelsumsatz gesiegelter Produkte wird auf
500 Millionen DM geschätzt, davon entfallen 130 Millionen
DM (ohne Rugmark) auf Deutschland (Piepel 2000).
Neben Transfair/FLO gibt es weitere Sozialsiegel:
Unter dem erwähnten Rugmark-Siegel
wurden inzwischen über 2 Millionen Teppiche
importiert, der jährliche Umsatz liegt bei 120 Millionen
DM. Der Marktanteil in Deutschland liegt bei 16 Prozent
der indischen Teppichimporte. Das Flower Label Programm (FLP) ist ein soziales und ökologisches
Siegel, das von der Menschenrechtsorganisation FIAN (Food
First International Action Network) in Zusammenarbeit
mit dem Verband des Deutschen Blumen-Groß- und Importhandels
e.V. (BGI) und einigen Gewerkschaften gegründet wurde.
Die gesiegelten Blumen sind in mittlerweile über 700 Läden
erhältlich.
Zudem enthalten einige wenige Ökosiegel auch soziale Standards
(Textilzeichen Naturtextil), und ihre Einführung etwa
im Biolandbau wird zur Zeit diskutiert.
In den letzten Jahren ist der Umsatz von
Produkten mit Sozialsiegeln allerdings in eine Krise geraten.
Vor allem stockt es bei der Ausweitung des fairen Handels:
Die bislang sozial gesiegelten Produkte sind in erster
Linie einfache Rohstoffe aus dem Süden für den Norden.
Da die Weiterverarbeitung der Rohstoffe vor allem in den
Industrieländern stattfindet, bietet die soziale Kontrolle
der Produktionskette im Süden keine besonderen Schwierigkeiten.
Wenn der Umfang des fairen Handels aber steigen soll,
muss ihm auch die Industrieproduktion geöffnet werden.
Hierbei werden die Sozialsiegel vom Stoffstrommanagement
der Konzerne lernen und die soziale Gestaltung stärker
über Produktionsstandards (wie heute schon bei Bananen
und Tee) steuern müssen. Dies wird dazu führen, dass Sozialsiegel
im Industriebereich stärker als in der Agrarproduktion
auf Verhaltenskodizes aufbauen werden.
In der Vergangenheit sind alle Ansätze der
Vereinten Nationen, das Verhalten transnationaler Unternehmen
an bestimmte Regeln zu binden, gescheitert. In den letzten
Jahren dagegen haben sich viele einzelne Unternehmen freiwillig
Verhaltenskodizes unterworfen. Auch wurden zunehmend firmenübergreifende
Ansätze umgesetzt. Dabei gibt es zwischen firmeneigenen
und unternehmensübergreifenden Ansätzen erhebliche Unterschiede.
Die OECD hat in einer noch nicht veröffentlichten
Untersuchung ermittelt, dass sich von den 100 größten
transnationalen Unternehmen fast alle in den Bereichen
Umwelt- und Arbeits-/Gesundheitsschutz und etwa vier Fünftel
im Bereich der Arbeitsbeziehungen einem Verhaltenskodex
oder vergleichbaren Unternehmensleitlinien unterworfen
haben. Allerdings werden bei nur einem Viertel der untersuchten
Unternehmen alle Kernarbeitsnormen abgedeckt. Nur ca. 15 Prozent unterwerfen
sich explizit externen Standards, und ebenso niedrig ist
der Anteil derjenigen, die ihre sozialen Verpflichtungen
dokumentieren (social reporting). Etwa die Hälfte der
Unternehmen hat arbeitsrechtliche Richtlinien auch für
die Zulieferer erlassen, von denen wiederum nur die Hälfte
verpflichtenden Charakter haben. Andere Analysen zeigen,
dass zwar in 75 Prozent der Verhaltenskodizes Arbeits-
und Gesundheitsschutz und in 45 Prozent Kinderarbeit,
aber in nur 15 Prozent Koalitionsfreiheit erwähnt werden
(ILO 1998 und OECD 1999).Zudem ist fraglich, ob diese Kodizes in
ihrer Mehrheit mehr als unverbindliche Absichtserklärungen
sind: Nur drei Prozent der firmeneigenen Kodizes sehen
ein externes Monitoring vor.
Bei der Betrachtung der unternehmensübergreifenden
Verhaltenskodizes ergibt sich ein anderes Bild (vgl. u.a.
Wick 2001). Diese Kodizes gelten nicht nur für mehrere
Unternehmen, sondern sehen oft auch ein von den einzelnen
Firmen unabhängiges Monitoring vor. Derartige Kodizes
sind vor allem in den letzten Jahren – teilweise auf Druck
von NRO und Gewerkschaften – entstanden.
Sie führen meist alle Kernarbeitsnormen auf, mit Verweis
auf die internationalen Regelwerke. Zudem enthalten sie
Bestimmungen zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten und existenzsichernden
Löhnen. Unterschiede zwischen den Kodizes finden sich
bei der Implementierung (zum Beispiel ihre Verbindlichkeit
für Zulieferer) und bei den Monitoringverfahren: Letztere
reichen vom üblichen Einsatz von Wirtschaftsprüfern bis
hin zu mehrstufigen Überprüfungsverfahren, an denen Gewerkschaften
und NRO beteiligt sind. Allerdings sind Implementierung
und Monitoring auch in diesen Fällen oft nicht ausreichend.
Bislang sind zu den Auswirkungen von Sozialsiegeln
nur wenig empirische Studien erschienen. Es gibt jedoch
Studien zu den Auswirkungen des Fairen Handels generell,
die sich auf gesiegelte wie nicht gesiegelte Produkte
beziehen.
Die genauesten Aussagen liegen für die bislang nicht gesiegelten
Produkte des Kunsthandwerks vor (Hopkins 2000, siehe umfassend
für die Wirkungen des Fairen Handels Misereor et al. 2000).
Hier konnten die Produzenten im Schnitt ein um zehn Prozent
höheres Einkommen erzielen, als mit anderen Aktivitäten
zu erwirtschaften gewesen wäre. Bei 40 Prozent der Produzentengruppen
betrug die Einkommenssteigerung 45 Prozent, bei manchen
bis zu 200 Prozent. Der Faire Handel ist oft das einzige
monetäre Einkommen, das die vornehmlich in der Subsistenzlandwirtschaft
tätigen Produzenten beziehen. Aufgrund der langfristigen
Verträge und der Vorabzahlungen fließt das Einkommen kontinuierlicher
als im konventionellen Handel. Die Effekte fairen Handels
reichen aber weiter: 90 Prozent der Handwerker erwarben
neue Produktionsmittel, Ausbildung und Erziehung der Kinder
wurden verbessert. In der Selbstorganisation der Produzentengruppen
wurden bedeutende Fortschritte erzielt. Die Position der
Frauen verbesserte sich allerdings nur zum Teil. Kritisch
ist auch, dass die Produzentengruppen durchschnittlich
zu 75 Prozent vom Fairen Handel abhängen und nur vier
Prozent ihrer Verkäufe auf den konventionellen Exportmarkt
gehen. Diese Abhängigkeit ist allerdings bei sozial gesiegelten
Lebensmitteln wie Tee oder Kaffee in der Regel geringer.
Nichtmonetäre Aspekte wie Organisationsentwicklung
und Beratung sind oft wichtiger als höhere Einkommen.
Um diese Aspekte hatten sich die Sozialsiegel aufgrund
der hohen Kosten zunächst weniger gekümmert. Allerdings
versuchen FLO/Transfair nun mit lokaler Beratung, der
regionalen Organisierung der Produzenten und der Vereinbarung
von Entwicklungsplänen die entwicklungspolitische Komponente
von Sozialsiegeln zu stärken.
Auch wenn seine Wirkung insgesamt nur schwer
abzuschätzen ist, ist der Faire Handel heute in Deutschland
sicherlich die breiteste entwicklungspolitische Bewegung.
Ohne ihn wäre auch die Diskussion um das Verhalten transnationaler
Konzerne weniger weit gediehen. Insofern hat der Faire
Handel auch Anteil an
der Verbreitung von Verhaltenskodizes.
Verhaltenskodizes: Bessere Arbeits- und Sozialstandards?
Bislang liegen keine systematischen Analysen
der Wirkung von Unternehmens-Verhaltenskodizes auf die
Beschäftigten, ihre Familien und das Umfeld vor. Einzelfallbeschreibungen
belegen, dass Unternehmen in vielen Fällen ihre eigenen
Richtlinien nicht einhalten (Ascoly et al. 2001). Allein
die Verabschiedung von Verhaltenskodizes und die Androhung
von Sanktionen bewirken jedenfalls wenig. Notwendig wären
ein systematisches Monitoring und die Vereinbarung (und
Kontrolle) von auf individuelle Produktionsstätten abgestimmten
“corrective action plans“. Die sozialen Verhaltenskodizes
müssten in die gesamte Geschäftspolitik der Unternehmen
integriert werden; beim Monitoring wären externe Organisationen
einzusetzen, um Interessenskonflikte innerhalb des Unternehmens
zu vermeiden und die Glaubwürdigkeit der Überwachung zu
demonstrieren.
Sind diese Voraussetzungen gegeben, so können
Verhaltenskodizes - das zeigen erste Erfahrungen - sehr wirksame Instrumente zur Verbesserung
von Arbeits- und Sozialstandards sein. Verhaltenskodizes sind zudem ein kostengünstiges
Instrument, da mit relativ begrenzten Mitteln starke Wirkungen
erzielt werden. Dabei machen die Unternehmen oft die Erfahrung,
dass sich höhere soziale Standards auch für sie rechnen.
Positive Folgen sind unter anderem Produktivitätssteigerungen
und Marketingeffekte.
Diese „win-win-Optionen“ bieten interessante Perspektiven
für die Unternehmensförderung in der Entwicklungszusammenarbeit.
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes können die negativen Auswirkungen
der Globalisierung - präziser der Internationalisierung
der Produktion – begrenzen helfen. Beide Instrumente sind
in einem politischen Kontext, in dem der Einsatz von Sanktionsinstrumenten,
oft als „Sozialklauseln“ bezeichnet, gefordert wird –
ebenfalls, um die negativen Folgen der Globalisierung
in Grenzen zu halten – von besonderem Interesse.
Siegel und Kodizes für ein “race to the top“
In der Theorie ist alles klar: Die Öffnung der Märkte wird
zu einer effizienteren internationalen Arbeitsteilung
und zu globalen Wohlfahrtsgewinnen führen. Die Preise
der Produktionsfaktoren und die Lohnniveaus gleichen einander
an; dies bedeutet für die Arbeiter im Süden höhere Löhne
und Einkommen. Tatsächlich haben empirische Studien gezeigt,
dass eine offene Handelspolitik nicht nur generell die
Wohlfahrt erhöht, sondern auch die Armen hiervon überproportional
profitieren (Dollar et al. 2000; WTO 2000). In der Regel
ist ein höheres Wohlstandsniveau auch mit höheren Sozialstandards
verbunden.
Es ergibt sich aber ein weniger eindeutiges Bild, wenn man
umgekehrt die Wirkungen von Sozialstandards auf Wachstum,
Beschäftigung und andere wirtschaftliche Größen betrachtet.
Hier muss klar zwischen den Kernarbeitsnormen (s. Fußnote
10) und Sozialstandards im weiteren Sinne unterschieden
werden. Während höhere Kernarbeitsnormen mit den meisten
wirtschaftlichen Parametern wie Wachstum, Beschäftigung
und Auslandsinvestitionen positiv verbunden sind, können
weiter reichende Sozialstandards (Arbeitszeiten, Löhne,
Sozialversicherung) die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen
(eine aktuelle Auswertung empirischer Ergebnisse zum Zusammenhang
von Sozialstandards bzw. Kernarbeitsnormen und wirtschaftlicher
Entwicklung siehe Windfuhr 2001).
Obwohl die Theorie und einige empirische Studien einen positiven
Zusammenhang zwischen der Internationalisierung der Produktion
und Sozialstandards anzeigen, gibt es zahlreiche Beispiele
für Weltmarktproduktion mit massiver Verletzung von Sozialstandards
und Menschenrechten. So haben einige asiatische Länder
Exportzonen eingerichtet, in denen gezielt Kernarbeitsnormen
wie die Gewerkschaftsfreiheit außer Kraft gesetzt werden.
Theoretisch kann die internationale Mobilität des Kapitals
– vor allem über ausländische Direktinvestitionen – zu
einem „race to the bottom“ führen. Es könnte für Länder
sinnvoll sein, zumindest vorübergehend die Sozialstandards
zu drücken, um sich im Standortwettbewerb um Investitionen
Vorteile zu verschaffen. Denn – so die Hoffnung – die positiven
Entwicklungseffekte des angezogenen Kapitals werden zumindest
langfristig die Auswirkungen niedrigerer Sozialstandards
mehr als kompensieren. Wenn viele Länder diese Strategie
verfolgen, werden die Standards weltweit sinken. Das einzelne
Land wird dann keine Vorteile mehr aus niedrigeren Standards
ziehen können; deren Nachteile freilich bleiben bestehen. Die Konkurrenz um ausländische Investoren
kann aber auch zu höheren Sozialstandards führen. So haben
die Regierungen Bangladeschs und Indiens wegen des drohenden
Rückzugs ausländischer Investoren ihre Anstrengungen zur
Bekämpfung der Kinderarbeit verstärkt. Auch die chinesische
Regierung hat den Pakt für wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Menschenrechte vor allem aufgrund der Befürchtung
unterzeichnet, Investoren könnten sich – dem Beispiel
der Firma Levis folgend – wegen der Menschenrechtslage
aus China zurückziehen.
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes für multinationale Unternehmen
können anstelle eines „race to the bottom“ ein „race to
the top“ starten. Wenn zum Beispiel der Verhaltenskodex
eines europäischen Handelshauses von seinen ausländischen
Tochterunternehmen und Lieferanten die Einhaltung von
Sozialstandards fordert, müssen die Töchter und Zulieferer
an Standorten produzieren, an denen diese Standards eingehalten
werden. Damit wäre den transnationalen Konzernen der Anreiz
zu Produktionsverlagerungen genommen, die der Umgehung
von Sozialstandards (zum Beispiel in Exportzonen) dienen.
Eine solche freiwillige Regulation wäre nicht nur für
die Entwicklungsländer positiv, sondern hätte eine globale
Dimension: Der Druck zur Senkung von Sozialstandards weltweit
würde sinken.
Siegel und Kodizes gegen „Sozialdumping“
Siegel und Verhaltenskodizes sind auch deswegen bedeutsam,
weil sich andere handelspolitische Instrumente wie die
Sozialklauseln als entweder kontraproduktiv oder schwierig
anwendbar herausgestellt haben. Handelspolitische Instrumente
lassen sich dahingehend unterscheiden, ob sie den Handel eines ganzen Landes beeinflussen
(länderbezogene Instrumente) oder auf einzelne Produkte
bzw. Produzenten abzielen (produktbezogene Instrumente).
So argumentiert Kuschnereit in diesem Heft, Sozialklauseln
seien zur Bekämpfung der Kinderarbeit unter anderem deshalb
ungeeignet, weil sie in der Regel länderbezogen sind.
Sie sind außerdem kaum zu implementieren und verstoßen
gegen Grundnormen des internationalen Handels (Nichtdiskriminierung
gleicher Produkte). Produktbezogene Sanktionen oder Anreize
wie ein Sozialsiegel dagegen können wirksam sein, da sie
zielgerecht an den konkreten Produktionsbedingungen in
bestimmten Unternehmen ansetzen.
Die Sozialklausel als handelspolitische Sanktion richtet sich
gegen ganze Länder. Es ist aber kaum begründbar, warum
ganze Länder „Sozialdumping“ begehen sollten. Dumping
bezieht sich der internationalen Definition zufolge auf
Waren, die unterhalb ihres “normalen“ Werts auf dem Markt
eines anderen Landes verkauft werden (vergleiche GATT
Artikel VI). Sozialdumping wäre entsprechend der Versuch
eines Landes, die Märkte anderer Länder mit „unnormal“
niedrigen Sozialstandards zu erobern.
„Sozialdumping“ – wie Dumping überhaupt – hat für ein ganzes
Land keinen Sinn, da der Export unter Wert (also unter
den Herstellungskosten) dem Exporteur Verlust bringen
würde. Dumping eines Landes wäre nur als Mittel einer
strategischen Handelspolitik sinnvoll, um Konkurrenten
aus dem Markt zu drängen und auf Dauer Marktanteile zu
sichern. Dies ist aber bei den für Entwicklungsländer
relevanten Märkten nicht möglich.
(Sozial-)Dumping entsteht also nicht als Strategie ganzer
Länder, sondern einzelner Produzenten in einem (Entwicklungs-)Land.
So können einzelne Produzenten (zum Beispiel in Exportförderzonen)
die sozialen Standards in ihrer Produktion drücken, um
ihren Marktanteil zu Lasten anderer Produzenten und auf
Kosten der Bevölkerung zu erhöhen. Dies wäre der Fall,
wenn Produzenten ihre Kosten durch Kinderarbeit drücken
– und damit die Entwicklungschancen der Kinder wie der
ganzen Gesellschaft beeinträchtigten.
Entwicklungspolitisch sinnvolle Maßnahmen gegen „Sozialdumping“
müssen also produktbezogen sein und dürfen kein ganzes
Land seiner Exportchancen berauben. Im Gegensatz zu den
traditionellen Antidumpingmaßnahmen im GATT/WTO sollten
sie Produzenten, die unter „normalen“ Standards bzw. zu
normalen Kosten produzieren, nicht treffen und den Export
der Produzenten mit hohen Standards fördern. Siegel und
Kodizes erfüllen prinzipiell diese Anforderungen: Sie
setzen zielgerecht an den sozialen Standards bestimmter
Produkte oder Produzenten
im Herstellerland an. Sie stimulieren den Export der
Produzenten, die besonders hohe Standards einhalten, und
sanktionieren Firmen, die gegen die Standards verstoßen
(Ausschluss als Zulieferer). Insofern sollten die Unternehmen
– bei richtiger Konstruktion des Siegels bzw. des Kodex
– schon aus Gewinninteresse von „Sozialdumping“ Abstand
nehmen.
Anforderungen: Verbraucherinformation und Anreize zur
Produktionsumstellung
Siegel
und Kodizes müssen den Verbraucherinnen und Verbrauchern
wirksam und glaubwürdig Informationen über die sozialen
Bedingungen der Herstellung eines Produkts vermitteln.
Andernfalls läge „Marktversagen“ vor, da die Verbraucher
ihrer Präferenz für soziale Produkte nicht folgen könnten.
Darüber hinaus müssen Siegel und Kodizes hohe Standards
enthalten, um den Unternehmen einen Anreiz zum Umstieg
auf sozialverträgliche Produktionsweisen zu geben.
Verbraucherinformation
Konsumenten
kaufen Produkte, die ihren individuellen Präferenzen entsprechen.
Über die Hälfte aller Menschen geben in Umfragen an, dass
sie sozial oder ökologisch hergestellte Produkte nicht
nur vorziehen, sondern auch bereit sind, mehr für sie
zu zahlen. Warum setzt sich diese Präferenz aber nicht
in höhere Nachfrage um?
Die
Verbraucher haben Informationsdefizite, und die Glaubwürdigkeit
der verfügbaren Information kann unsicher sein (es herrscht
„Informationsasymmetrie“). Wenn es keine glaubwürdigen
Informationen über die soziale Qualität der Güter gibt,
dann setzen sich meist minderwertige Waren durch (adverse
Selektion), die billiger produziert wurden. Um das Informationsdefizit
zu überwinden, müssen Siegel und Kodizes folgende Anforderungen
erfüllen:
-
Sie
müssen die gewünschten Informationen bereit stellen. Die
gesiegelten Produkte müssen ohne Mehraufwand (Zeit für
die Suche, Verbreitung im Einzelhandel) zu erwerben sein.
-
Die
Information darf selber nicht zu viel kosten, sonst würde
die Bereitschaft, für sozial gefertigte Produkte einen
höheren Preis zu zahlen, schon durch die Kosten der Informationsbereitstellung
beeinträchtigt. Bei den Produzenten in den Entwicklungsländern
würde dann nichts mehr ankommen.
-
Die
Informationsübermittlung muss glaubwürdig sein, um beim
Kauf Unsicherheit zu reduzieren.
Siegel
und Verhaltenskodizes erfüllen diese Kriterien grundsätzlich.
Dabei sind Siegel direkt auf das individuelle Produkt
bezogen. Sie übermitteln den Verbraucherinnen und Verbrauchern
direkter Information über die Eigenschaften des Produkts
als dies ein Verhaltenskodex leisten könnte. Verhaltenskodizes
wirken indirekt und nur dann, wenn der Verbraucher ein
Produkt einem Produzenten mit einem Verhaltenskodex zuordnen
kann. Andererseits
stellt sich ein Unternehmen mit einem Kodex dem gesellschaftlichen
Urteil. Daher kann ein Verhaltenskodex mehr noch als ein
Sozialsiegel zu öffentlichem Druck auf ein Unternehmen
führen. Somit sind zwar die direkten Wirkungen bei Siegeln
stärker als bei Kodizes, die indirekten, über öffentlichen
Druck laufenden Wirkungen dagegen können bei Kodizes stärker
sein.
Die
verwirrende Vielzahl von Siegeln und Verhaltenskodizes
schränkt allerdings die Aufklärung der Verbraucherinnen
und Verbraucher ein. Im Interesse des Verbraucherschutzes
müsste eine Harmonisierung vorgenommen werden. Darüber
hinaus muss die Glaubwürdigkeit gesichert werden. Hierbei
kann die Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen (wie
amnesty international, Misereor und Brot für die Welt)
oder auch des Staates ein geeignetes Mittel sein.
Welche
Anreize entstehen auf den Märkten, wenn ein Siegel oder
ein Verhaltenskodex eingeführt wird? Wann wird es tatsächlich
zu einer Verhaltensänderung der Unternehmen kommen? Ich
möchte im Folgenden die Wirkungsmechanismen von Siegeln
an einem einfachen Marktmodell erläutern.
Bevor
ein Siegel oder ein Kodex eingeführt wird, gibt es nur
einen homogenen Markt für ein Produkt, bei dem der Käufer
nicht differenzieren kann, ob es unter hohen oder niedrigen
sozialen Standards produziert wurde. Selbst wenn er bereit
ist, für eine sozial produzierte Ware mehr zu bezahlen,
kann er diese Bereitschaft nicht umsetzen. Erst mit der
Einführung eines Sozialsiegels (das Folgende gilt indirekt
auch für einen Verhaltenskodex, wenn er mit einem Produkt
in Verbindung gebracht werden kann) werden die verborgenen
sozialen Produktqualitäten sichtbar. Wenn ein Siegel mit
hohen Kriterien eingeführt wird, kann die Käuferin ihre
höhere „soziale Zahlungsbereitschaft“ am Markt umsetzen,
das heißt sich bewusst für eine teureres „ethisches“ Produkt
entscheiden. Damit spaltet sich der Markt in ein “ethisches“
und in ein konventionelles Segment. Infolge der höheren
Zahlungsbereitschaft für soziale Produkte werden deren
Preise tendenziell steigen. Der hohe Preis ist auch für
konventionelle Unternehmen ein Anreiz, auf die ethische
Produktion umzusteigen und die Sozialstandards anzuheben.
Und dies ist gewünscht: Die Marktdifferenzierung führt
zu einer sozialeren Produktionsweise. Mittelfristig können
die Preise gesiegelter Produkte infolge höherer Skalenerträge
(sinkender Preis bei steigender Menge) auch wieder fallen
und zusätzlich Nachfrage anziehen.
In
bestimmten Konstellationen können Siegel und Kodizes auch
negative Wirkungen auf die sozialen Entwicklungen im Süden
ausüben. So kann es zu Verdrängungseffekten kommen: Werden
zum Beispiel Kinder durch erwachsene Arbeitskräfte ersetzt,
kann dies zu einem Abwandern der Kinder in noch gefährlichere
bzw. schlechter bezahlte Beschäftigungen führen, so lange
keine Alternativen (kostenlose Schulen und Unterkunft)
geboten werden können. Daher ist es gerade bei der Kinderarbeit
wichtig, dass sie nicht einfach verboten wird, sondern
dass Alternativen geschaffen werden und/oder den Kindern
der Zugang zum Bildungswesen geöffnet wird. Es sollte auch bedacht werden, dass Entwicklungsländer
Siegeln oft kritisch gegenüber stehen und deren Missbrauch
zu protektionistischen Zwecken fürchten. Dies wäre der
Fall, wenn die Standards so definiert sind, dass sie nur
von Produkten aus Industrieländern erfüllt werden können.
Meines Wissens existieren aber solche Sozialsiegel bislang
nicht.
Agenten des Wandels: Politiknetzwerke gegen das globale
Koordinationsdefizit
Die bisherigen Ausführungen haben eine gewisse
Diskrepanz zwischen dem theoretisch nachweisbaren Wirkungspotenzial
von Siegeln und Verhaltenskodizes (Kapitel 3) und den
empirisch nur begrenzt nachweisbaren sozialen Auswirkungen
(Kapitel 1 und 2) deutlich gemacht. Diese Diskrepanz ergibt
sich unter anderem daraus, dass die in Kapitel 4 genannten
Anforderungen an Siegel und Kodizes nicht erfüllt werden.
Im Folgenden wird unter dem Titel „Politiknetzwerke“ ein
Ansatz vorgeschlagen, Siegel und Kodizes politisch durchzusetzen
und praktisch zu implementieren.
Funktionsweise von Politiknetzwerken
Üblicherweise ist der Markt Koordinierungsmechanismus
für wirtschaftliches Handeln. Wenn aber der Markt versagt,
so dass sich die möglichen positiven Wirkungen der Internationalisierung
nicht durchsetzen können („Race to the top“) oder negative
Wirkungen erzeugt werden („Sozialdumping“), wird die Regulierung
der internationalen Produktion notwendig.
Sozialsiegel und Verhaltenskodizes sind
ein Koordinationsmechanismus zwischen Produzenten, Konsumenten
und Staat, um Markt- und Politikversagen zu überwinden.
Glaubwürdige und effiziente Information, Harmonisierung,
angemessene Standards, Einbeziehung und Unterstützung
des Südens – all dies ist nicht nur schwer umzusetzen,
sondern auch in dem Sinne komplex, dass mehrere Akteure
mit aufeinander abgestimmten und gegenseitig akzeptierten
Vorgehensweisen agieren müssen. Insbesondere die Harmonisierung,
Information und Überwachung müssen gesellschaftlich verankert
sein, wenn Siegel und Kodizes von den letztlich entscheidenden
Verbraucherinnen und Verbrauchern akzeptiert werden sollen.
Politiknetzwerke stimmen komplexe Handlungsansätze
unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen aufeinander
ab. Als freiwilliger Zusammenschluss „autonomer“ Akteure
sind sie relativ hierarchiefrei. Sie überleben nur, wenn
der Dialog- und Handlungsrahmen des Netzwerks allen Mitgliedern
Vorteile bringt, die größer sind als ihre Kosten (Reinicke
et al. 2000). Netzwerke haben vor allem die Funktion,
den Informationsfluss zwischen den Akteuren zu optimieren
und eine Koordination der Handlungen herbeizuführen, so
dass ein gemeinsames
Ziel möglichst effektiv und effizient erreicht
wird. Konkret können Politiknetzwerke auf nationaler oder
internationaler Ebene wirken, um Normen zum Beispiel für
den internationalen Kaffeehandel oder die Sportbekleidungsindustrie
zu diskutieren und diese mittels Sozialsiegel und Verhaltenskodizes
umzusetzen.
Es ist erstaunlich, dass in Deutschland
bislang keine wirksamen Politiknetzwerke für Sozialsiegel
oder Verhaltenskodizes existieren. Erste Ansätze zeichnen
sich allerdings bereits ab. So wurde von NRO, Gewerkschaften
und Unternehmen unter aktiver Beteiligung des BMZ und
anderer Ressorts ein „Runder Tisch Verhaltenskodizes“
gegründet, der best practices zur Implementierung
und zum Monitoring von Verhaltenskodizes entwickeln will.
Im Fairen Handel haben sich in den letzten Monaten Akteursbündnisse
zur Vorbereitung der Fairen Woche (www.faire-woche.de) gegründet, die – wenn sie um weitere gesellschaftliche
Gruppen und Wirtschaft erweitert würden – den Kern eines
Politiknetzwerkes für Sozialsiegel bilden könnten.
Der Staat in Politiknetzwerken
Traditionell korrigiert im Falle von Marktversagen
der Staat die Marktergebnisse und sorgt auf diese Weise
für gesellschaftliche Kohärenz.[23]
Im internationalen Kontext jedoch ist staatliches Handeln,
das auf die Realisierung sozialer Normen zielt, schwach.
Zwar sind internationale Standards gesetzt worden: die
Menschenrechtspakte und die Konventionen der ILO, insbesondere
die Erklärung zu den „Grundlegenden Prinzipien und Rechten
bei der Arbeit“ von 1998. Aber die globale Durchsetzung
dieser Konventionen ist unzureichend, da die entsprechenden
Instrumente im Norden entwickelt werden, die Probleme
aber im Süden liegen (Zuständigkeitsdefizit), die Partizipation
des Südens bei der Durchsetzung der Normen nicht gewährleistet
ist (Partizipationsdefizit), und die Anreize zur Einhaltung
der Normen bei Wirtschaftsunternehmen schwach sind (Anreizdefizit).
Daher sind neue Formen der global governance notwendig,
bei denen Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft in Politiknetzwerken
zusammenarbeiten, um die sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen
der globalen Marktwirtschaft zu schaffen und die Bereitstellung
globaler öffentlichen Güter zu gewährleisten (siehe Kaul
et al. 1999, kritisch hierzu Brand et al. 2000). Diese
Koordinierungsmechanismen sind nicht nur vorübergehender
Ersatz für einen international noch schwachen Staat. Vielmehr
verhalten sich Politiknetzwerke und traditionelles staatliches
Handeln komplementär zueinander. Daher werden auch die
Instrumente der Netzwerke bzw. der nichtstaatlichen/halbstaatlichen
global governance – zum Beispiel Siegel oder Kodizes
– dauerhaft eine wichtige Rolle spielen.
Auch wenn alle Beteiligten mit Siegeln und
Verhaltenskodizes soziale Standards fördern wollen, sind
doch ihre Interessen und Motivationen unterschiedlich,
wenn nicht entgegengesetzt. Die Rolle des Staates liegt
hier in der Moderation
zwischen unterschiedlichen Interessen, etwa bei
der konkreten Definition der Ziele (zum Beispiel Aussagen
zu Löhnen) und der Art und Weise ihrer Durchsetzung (zum
Beispiel die Frage des externen Monitoring). Auch entstehen
selbst sinnvolle und funktionsfähige Netzwerke nicht von
allein: Bei mehreren Initiativen zu Sozialsiegeln und
Verhaltenskodizes war die staatliche Unterstützung (finanziell
und politisch) unentbehrlich, und viele wurden ( wie die
ETI, siehe Fußnote 13)
vom Staat initiiert.
Private Netzwerke zwischen Unternehmen und
NRO sind von niemandem gewählt; ihr Erfolg hängt im Wesentlichen
von den Ressourcen der Unternehmen und der NRO ab, auch
wenn sich letztere durch öffentliche Unterstützung legitimieren
können und müssen. Der Staat kann jedoch auf seine demokratische
Legitimation durch die Mehrheit der Wähler
verweisen, die der begrenzten Legitimität von NRO oder
Unternehmen überlegen ist. Allerdings repräsentiert ein
Nationalstaat immer nur seine eigenen Bürger. Da es bei
Sozialsiegeln und Verhaltenskodizes aber um die Beseitigung
globaler Zuständigkeits-, Anreiz- und Partizipationsdefizite
geht, müssen internationale Prozesse eingeleitet werden,
an denen sich die Industrie- und die Entwicklungsländer
beteiligen. Die Regierungen der Industrieländer sollten
nicht nur Advokaten für die Interessen der Entwicklungsländer
sein, sondern auch deren Teilnahme an Netzwerken
ermöglichen. Politiknetzwerke entlassen also den
Staat nicht aus der Verantwortung für die globale Durchsetzung
von Sozialstandards, im Gegenteil, die ihm gestellte Aufgabe
wird anspruchsvoller.
Handlungsfelder für die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft
und den Staat
Im Norden: Politiknetzwerke für Harmonisierung, Implementierung
und Monitoring
Verbraucherinformationen müssen glaubwürdig
und zuverlässig sein und dürfen die Verbraucher nicht
überfordern. Die wachsende Zahl von Siegeln und Verhaltenskodizes
verwirrt die Konsumenten, daher sollten Siegel und Kodizes
harmonisiert werden. Als ersten Schritt können sich die
Akteure in Netzwerken (wie dem erwähnten „Runden Tisch
Verhaltenskodizes“) auf gemeinsame Inhalte und Verfahren
für Implementierung und Monitoring einigen. Unternehmensübergreifende
Monitoringverfahren würden die Glaubwürdigkeit der Verbraucherinformation
stärken. Zusätzlich sollten alle Akteure gemeinsam Informationskampagnen
wie Aktionswochen (wie die im Herbst geplante „Faire Woche“)
und andere Aufklärungsmaßnahmen durchführen. Zudem wäre
zu prüfen, inwieweit ethische Produkte von staatlicher
Seite gefördert werden können. Mögliche Instrumente liegen
hier in der Handelspolitik und der staatlichen Nachfrage
zum Beispiel über Beschaffungsrichtlinien – auch wenn
hier die Handlungsspielräume durch WTO und EU begrenzt
sind.
Den Süden in den Politiknetzwerken stärken
Um den Protektionismusvorwurf zu entkräften,
sollten erstens internationale Standards zur Bezugsgröße
gemacht werden, die von den Entwicklungsländern selbst
ratifiziert wurden (Kernarbeitsnormen und Menschenrechte,
siehe Fußnote 10). Zweitens sollten Vertreterinnen und Vertreter der
Produzenten und Arbeiter aus dem Süden in die Normbildung
und Überwachung einbezogen werden.
Ein wesentliches Problem für Kodizes und
Siegel liegt darin, dass bislang kaum lokale Kapazitäten
für die Beratung der Unternehmen und Landwirte bei der
Umstellung sowie für das Monitoring bzw. die Zertifizierung
gibt. Der Aufbau geeigneter Organisationen und entsprechende
Schulungen würden nicht nur die Wirksamkeit und die Akzeptanz
der Kodizes und Siegel stärken, auch könnten die oft prohibitiv
hohen Kosten für Beratung, Audits etc. drastisch gesenkt
und auf diese Weise die Produktion unter einem Siegel
oder Kodex erleichtert werden. Zudem sollten die Produzenten,
insbesondere kleine und mittlere Produzenten, bei der
Umstellung der Produktion unterstützt werden. Hier muss
durch Beispiele und Beratung gezeigt werden, dass höhere
Sozialstandards mit höherer Produktivität einhergehen
können.
Stärkung der Arbeiter und Kleinproduzenten
In der laufenden Diskussion wird die zentrale
Rolle von Genossenschaften bzw. Gewerkschaften bei der
Umsetzung von Sozialsiegeln und Verhaltenskodizes bislang
zu wenig beachtet. Gerade bei Verhaltenskodizes fehlt
es an Strategien, die eigentlichen Nutznießer, die Arbeiterinnen
und Arbeiter, deren Familien und andere Betroffene im
Unternehmensumfeld (zum Beispiel bei von Verhaltenskodizes
verbotenen Umweltverschmutzungen von Unternehmen) dabei
zu unterstützen, ihren aus Verhaltenskodizes zu ziehenden
Nutzen zu maximieren. Oft wissen die Beschäftigten oder
Betroffenen gar nicht, ob Ihr Unternehmen einem Kodex
folgt bzw. unter einem Siegel produziert. Wenn sie es
wissen, sind ihnen ihre damit verbundenen Rechte oft nicht
bekannt. Die Gewerkschaften im Norden standen den Kodizes
und Siegeln zu lange kritisch gegenüber und haben es bis
auf wenige Ausnahmen versäumt, ihre Kollegen im Süden
bei deren Nutzung zu unterstützen. Auch den politischen
Stiftungen kommt bei der entsprechenden Aufklärung und
Ausbildung von Arbeitnehmervertretungen im Süden eine
wichtige – und noch nicht ausreichend wahrgenommene –
Rolle zu.
Ausblick
Globalisierung
ist nicht nur eine Bedrohung. Vielmehr macht es erst die
international integrierte Produktion und Verflechtung
von Kultur und Kommunikation möglich, Solidarität zwischen
Nord und Süd „mit dem Einkaufskorb“ zu üben. Erst mit
der Globalisierung können NRO und Unternehmen Sozialsiegel
und Verhaltenskodizes als Steuerungsinstrumente einsetzen
(Sassen 2001). Die Steuerung der Globalisierung durch
freiwillige, marktförmige Instrumente sollte nicht nur
als Reaktion auf staatliche Regulationsdefizite im internationalen
Raum verstanden werden, sondern als neue Chance für die
Zivilgesellschaft.
Ob
Siegel und Kodizes die soziale Lage der Menschen in Entwicklungsländer
wirklich verbessern, hängt letztlich davon ab, ob die
Konsumenten Mehrausgaben für soziale Produkte zu tragen
und Druck auf transnationale Konzerne auszuüben bereit
sind. Der Nachfragedruck reicht heute allenfalls aus,
um die Konzerne zu kleinen und wenig kostenintensiven
Produktionsänderungen zu zwingen. So wie bei den Sullivan
Principles (siehe Fußnote 14) wird sich der ökonomische Druck dann verstärken, wenn
sich Investmentfonds an Verhaltenskodizes orientieren.
Mit dem Aufbau einer privaten Altersvorsorge wird auch
die Relevanz ökonomischen Drucks seitens ethischer Investoren
steigen. Man sollte aber auch anerkennen, dass zumindest
bei den Vorreitern der multinationalen Konzerne ein gutes
Stück eigene Überzeugung im Spiel ist, wenn sie kostenintensive
Monitoringstrukturen aufbauen oder wenig rentable Produkte
mit Sozialsiegeln in ihr Sortiment aufnehmen.
Alle
Akteure müssen noch lernen, gemeinsam zu handeln. Wenn
sie in Politiknetzwerken zusammenarbeiten wollen, müssen
sie ihre unterschiedlichen Interessen kennen und wechselseitiges
Vertrauen aufbauen. Der Staat bekommt neue Aufgaben der
Netzwerksteuerung bzw. der global governance, die
bislang meines Erachtens nur teilweise akzeptiert sind.
Für
die Entwicklungspolitik haben die Aufgaben der Netzwerksteuerung
auch zur Entwicklung neuer Instrumente geführt, die bisher
weder in der eigenen Organisation noch im Budget vorgesehen
waren. Es gibt erste Ansätze des BMZ, die über die Finanzierung
des Aufbaus von Sozialsiegeln bzw. Pilotmaßnahmen für
Verhaltenskodizes hinausgehen. So war das BMZ bei der
Gestaltung und Umsetzung des Forstsiegels des Forest Stewardship
Council aktiv, hat bei der World Commission on Dams mitgewirkt
und zusammen mit anderen Gruppen den oben erwähnten „Runden
Tisch Verhaltenskodizes“ gegründet. Eine interessante
Perspektive kann sich aus den beiden jüngst verabschiedeten
freiwilligen internationalen Richtlinien für das Verhalten
von Unternehmen ergeben, dem Global Compact des UN-Generalsekretärs
Kofi Annan und den OECD-Leitsätzen für multinationale
Unternehmen. Zwar sind diese nicht als Verhaltenskodizes
für Unternehmen konzipiert worden und haben auch kein
regelmäßiges Monitoring. Sie können aber als normative
Basis für Verhaltenskodizes genutzt und durch ein Politiknetzwerk
implementiert und überwacht werden.
Literaturliste:
·
Akerlof, G.A. (1970): “The Markets for ‚Lemons‘: Quality
Uncertainty and the Market Mechanism”, in: Quarterly
Journal of Economics, Vol. 84
·
Ascoly, Nina et al. (2001): Overview
of Recent Developments on Monitoring and Verification
in the Garment and Sportswear Industry in Europe,
Amsterdam
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Barcelo, J. (1993): “A History of GATT Unfair Trade Remedy
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Bd. 16
·
Basu, Chau, Grote (1999): Guaranteed Manufactured
without Child Labour, Bonn
·
Bhagwati, J. (1995): Trade Liberalization and ‚Fair
Trade‘ Demands: Adressing the Environmental and Labour
Standards, Issues, New York
·
Boyden, J./ Myers, W. (1994): Exploring Alternative
Approaches to Combating Child Labour: Case Studies from
Developing Countries, Florenz
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Brand, U. et al. (2000):
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Brühl,
T. et al. (2001): Privatisierung der Weltpolitik,
Bonn
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Dollar, D. and Kraay, A. (2000): Growth is Good for
the Poor, Washington
·
OECD (1999): “Codes of Corporate Conduct: An Inventory”,
TD/TC/WP (98) 74/final
·
OECD (im Erscheinen): “Codes of Conduct: Exploring their
Economic Significance”