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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2000


Peter Wahl

Howard M. Wachtel
Margareta E. Kulessa / Jan A. Schwaab
Barry Bluestone
Heiner Flassbeck
Franz Waldenberger

Kai Hirschmann

 

Peter Wahl
Zwischen Hegemonialinteressen, Global Governance und Demokratie. Zur Krise der WTO

Das Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Seattle war kein einmaliger „Ausrutscher“, sondern der Ausdruck tiefer liegender struktureller und politischer Probleme. Dabei steht an erster Stelle der Trend zur unilateralen Dominanz der USA. Die nach dem Ende des Kalten Krieges sich immer deutlicher profilierende Hegemonie der USA auf allen Gebieten hat im Falle der WTO zu einer Krise des Multilateralismus geführt. Da die USA als einziges Land über die exklusive strategische Option verfügen, ihre Interessen sowohl unilateral als auch multilateral bzw. in einer Kombination aus beidem zu realisieren, werden ihre Eigeninteressen durch das Scheitern von Seattle nicht wesentlich tangiert. Deutlich wurde dies u.a. daran, daß die USA bereits vor Seattle die Priorität auf weitgehende Liberalisierungen im Dienstleistungssektor setzte. Vor dem Hintergrund der revolutionären Umbrüche, die der elektronische Handel über das Internet mit sich bringt, hoffen die USA ihren bereits bestehenden Wettbewerbsvorsprung weiter auszubauen. Die Liberalisierung der Dienstleistungen zielt u.a. darauf, Sektoren wie Bildung und Gesundheit, die in Europa traditionell in öffentlicher Hand sind, für private US-Unternehmen zu öffnen. Ähnliches gilt für die Liberalisierung im audio-visuellen Bereich. Für Abkommen auf diesem Gebiet ist die WTO aus US-Sicht ein viel zu schwerfälliges Instrument. Die zunehmende Rivalität zwischen den USA und der EU führt zu einer Blockade der WTO, die durch die wachsenden Interessengegensätze zwischen Industrie- und Entwicklungsländern noch verstärkt wird. Die Strukturen der WTO sind nicht in der Lage, diese Konstellation demokratisch zu verarbeiten. So verhindert Geldmangel eine adäquate Partizipation vieler Entwicklungsländer. Darüber hinaus führen Komplexität und Tempo der Verhandlungen in der WTO zu einem strukturellen Dilemma zwischen Effizienz und Demokratie. Die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure wird keine Lösung dieses Problems ermöglichen. Deshalb muß wieder stärker über Konzepte von Dezentralisierung und Regionalisierung nachgedacht werden. Die Entwicklungsländer sind bisher die Verlierer von Liberalisierung und Deregulierung. Die Externalisierung von „non-trade concerns“ wie Umwelt, Verbraucherschutz und soziale Fragen führt auch in der Öffentlichkeit vieler Industrieländer zu einer sinkenden Akzeptanz der Globalisierung. Diese Konstellation könnte sich als wichtigster Krisenfaktor für die Zukunft der WTO erweisen.

 

Howard M. Wachte
Die Welthandelsordnung und der beginnende Niedergang des „Washington Consensus“

Der Begriff „Washington Consensus“ entstand in den 90er Jahren. Er bezieht sich auf die dominierende Rolle, die dem Markt für die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft zukommt, sowie auf die Bedeutung der US-Politik für die weltweite Durchsetzung dieses Prinzips. Der Konsens bildete sich nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch nicht-marktwirtschaftlicher Systeme. Er geht über die traditionelle Zustimmung zum Marktprinzip weit hinaus. Zum einen reklamiert er für den Markt die Zuständigkeit für eine ganze Reihe nicht-ökonomischer gesellschaftlicher Belange. In wirtschaftlichen Angelegenheiten erkennt er dem Markt zum anderen eine „Alleinherrschaft“ zu, die der Politik jede Entscheidungsbefugnis abspricht. In der internationalen Handels-, Investitions- und Finanzwirtschaft gebärdete sich der Washington-Konsens äußerst aggressiv. Aber zum Jahrtausendwechsel zeigt sich, dass er erste Brüche bekommt. Der Auslöser für die neu aufkeimenden Debatten kam aus jenem Bereich, in dem der Konsens am stärksten kodifiziert war: der Welthandelsorganisation (WHO). Zwei einander gegenüber stehende Gruppen bildeten sich heraus -  eine aus der Dritten Welt und eine aus den G-7-Ländern - die sich nur einig sind in ihrer Opposition gegenüber der gegenwärtigen Struktur des globalen Systems, wie es von dem Dreigespann WHO, Weltbank und IWF vertreten wird. 

Die WHO kennt lediglich ein Rechtsprinzip – das kommerzielle, welches fordert, dass Waren und Dienstleistungen sich frei und ohne Beschränkungen innerhalb von Ländergrenzen und darüber hinaus bewegen können. Umweltgesetze gelten als inkompatibel mit diesem kommerziellen Prinzip und im erweiterten Sinne kann dasselbe eines Tages auch mit den Arbeitsgesetzen passieren, da die einzige bindende Ordnung die kommerzielle Ordnung ist. Daher fordern Arbeits- und Umweltschutzgruppen in den G-7-Ländern, dass in der gesetzlichen Struktur der WHO Raum für Arbeits- und Umweltrechte geschaffen wird. Die Dritte Welt hat bei der Öffnung der Märkte ein Zeit- und ein Kontrollproblem. Die Importe steigen schneller als die Exporte, damit wird die Sequenz der Liberalisierungsschritte zum Problem. Die Liberalisierung der Importe ist direkt zu kontrollieren, doch Exportmärkte müssen entwickelt werden. Für sie gibt es keine Garantie. Wenn sie sich die G-7 der Marktzugangssorgen der Dritten Welt ernsthaft annähmen, könnten sie die Unterstützung mobilisieren, die sie für eine Einbeziehung von Arbeits- und Umweltschutzstandards in die WHO-Struktur brauchen. Damit würde das Recht der Völker bekräftigt, ihre Angelegenheiten politisch zu regeln und nicht bedingungslos dem Markt zu überlassen. Dies wären erste Schritte. Längerfristig sollte ein umfassender Diskurs über Globalisierung und die Unzufriedenheit, die sie hervorbringt, zu einem neuen Sozialvertrag führen, der auf die veränderten ökonomischen Realitäten abgestimmt ist.

 

Margareta A. Kulessa / Jan A. Schwaab
Konzepte zur „Ökologisierung“ der internationalen Handels- und Wirtschaftspolitik

Einzelstaatliche Umweltschutzpolitik droht im Globalisierungsprozess an Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit zu verlieren. Um dem entgegenzuwirken, müssen internationale Wirtschafts- und Umweltpolitik stärker miteinander verzahnt werden. Um auf Dauer wirksam zu sein, muss diese Verzahnung institutionalisiert werden. Mittlerweile ist eine ganze Reihe von Vorschlägen entwickelt worden, die auf eine „Ökologisierung“ der Weltwirtschaftsbeziehungen zielen. Einige bergen sowohl in ökologischer als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht deutlich mehr Risiken als Chancen. Andere erscheinen bei entsprechender Ausgestaltung hingegen durchaus geeignet, einen Beitrag auf dem Weg zu weltweiter ökologischer Nachhaltigkeit zu leisten. Ein Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit richtet sich auf die „Ökologisierung“ der Welthandelsordnung. Diese hat zwar begonnen, kommt aber nur mühsam voran, was nicht zuletzt an Interessengegensätzen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern liegt. Aber auch wenn individuellen Staaten mehr Freiraum eingeräumt wird, internationalen Handel zur Absicherung umweltpolitischer Regelungen einzuschränken, käme dies der Umwelt nur in begrenztem Maße zugute. Insgesamt ist es wirksamer, multilaterale Abkommen zu einzelnen Umweltproblemen (wie die Abkommen zum Artenschutz, zum Schutz der Ozonsphäre oder zum „Handel“ mit Giftmüll) abzuschließen und diese in Einklang mit der Welthandelsordnung zu bringen. Standortwettbewerb findet schwerpunktmäßig innerhalb der Kontinente und der Industrieländer-Triade stattfinden. Dies eröffnet Spielräume für internationale Umweltpolitik, die nicht von vornherein global, sondern regional bzw. plurilateral angelegt ist. Da ein Großteil der Güterimporte sowie fast alle zufließenden Auslandsinvestitionen im „Süden“ aus dem „Norden“ stammen, kann dieser durch die Diffusion relativ umweltschonender Produkte und Technologien und durch seine Vorreiterfunktion einen signifikanten Beitrag für eine zukunftsfähige wirtschaftliche Entwicklung im "Süden" leisten, ohne Gefahr zu laufen, die Entwicklungschancen durch umweltpolitisch motivierten Protektionismus zu mindern.

 

Barry Bluestone
Der Kampf um Wohlstand und gerechte Verteilung im 21. Jahrhundert

Amerika scheint den anderen Industrieländern den Weg zu wirtschaftlichem Erfolg zu weisen. Das durchschnittliche Wachstum betrug seit 1995 4,3 Prozent pro Jahr. Die Arbeitslosigkeit ging auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten zurück. Und trotzdem blieben die Preise weitgehend stabil. Für diese phänomenale Wiedergenesung der US-Volkswirtschaft nach über zwanzig insgesamt recht schwachen Jahren wird allgemein folgende Erklärung angeboten: Ausgabendisziplin hat das staatliche Haushaltsdefizit abgebaut und damit Raum für mehr Privatnachfrage nach Gütern und Krediten geschaffen. Dadurch ermöglichte niedrigere Zinsen haben die produktive Investition begünstigt. Dies wiederum erhöhte sowohl die Produktionskapazität als auch Produktivität. Bereits vorher war die Inflation besiegt worden - durch eine kompromisslos stabilitätsorientierte Geldpolitik, aber auch durch die Befreiung des Arbeitsmarktes von gewerkschaftlich und wohlfahrtsstaatlich bedingten Rigiditäten sowie durch die systematische Öffnung des amerikanischen Marktes gegenüber billigen Importen (NAFTA, GATT-Prozess). Niedrige Inflation und niedrige Zinsen lösten jene spektakuläre Hausse auf den Aktienmärkten aus, die ihrerseits sowohl die Investition (und damit wiederum das Produktivitätswachstum) als auch die Konsumnachfrage antrieb. Die Folge: erhöhte Gewinne, neue Investitionen, steigende Aktienkurse - ein Circulus Virtuosus. Für diese Erklärung steht der Begriff des „Wall-Street-Modells“. Aber die Erklärung ist falsch. Die tatsächlichen Ursachen des amerikanischen Wirtschaftswunders der 90er Jahre sind andere: Am Anfang steht das Produktivitätswachstum, das nach einer langen Lernphase endlich von den bahnbrechenden Erfindungen in der Informationsverarbeitung ermöglicht wurde. Diese Erfindungen gehen selbst wieder auf staatlich finanzierte Forschung und Entwicklung in den 60er, 70er und 80er Jahren zurück. Die Beschleunigung des Produktivitätsfortschritts nach zwei Jahrzehnten relativer Stagnation ermöglichte inflationsfreies Wachstum. Der US-Geldpolitik ist zugute zu halten, dass sie dieses Potenzial erkannte und nicht voreilig auf die Zinsbremse trat. Aber weder die Reduzierung des staatlichen Haushaltsdefizits noch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes noch die Aktienhausse sind ursächlich mit dem Wirtschaftsboom der 90er Jahre verbunden. Die Aktienhausse ist eher eine Folge der gewaltigen Produktivitätsfortschritte und der daran hängenden - tatsächlichen und erwarteten -  Gewinnsteigerungen. Die Fortsetzung des hohen Wirtschaftswachstums - normale zyklische Abschwünge außer Acht gelassen - ist allerdings gefährdet. Die Produktion weiterer technologischer Durchbrüche, von denen zukünftige Produktivitätsfortschritte abhängen, droht auszutrocknen, weil der Staat seine Investitionen drastisch reduziert. Er unterliegt dem falschen Dogma, dass ein ausgeglichener Haushalt per se gut ist und Haushaltsüberschüsse noch besser. Darüber hinaus wäre es auch wichtig, dass die Nachfrageausweitung, die das notwendige Pendant zur Ausweitung des Produktionspotenzials darstellt, über steigende Lohneinkommen gesichert wird. Gegenwärtig hängt sie zu sehr von den höchst unsicheren Vermögenseffekten steigender Aktienkurse ab. Die Sicherung der Nachfrage über steigende Löhne wäre auch die Vorbedingung für eine nachhaltige Verbesserung der Einkommensverteilung.

 

Heiner Flassbeck
Gesucht: ein internationales Wechselkurssystem
Die verpaßte Lektion der Finanzkrise

Die Weltfinanzkrise ist vorüber – doch die Probleme bleiben. Nach der Abwertung der Währungen in den meisten asiatischen Ländern und in Rußland sind die akuten Symptome der Krise überwunden. Doch die Probleme, die dem Weltwährungssystem zugrunde liegen, wurden in falscher Weise angegangen. Die Schwäche des Euro und die Stärke des Yen in den ersten Monaten des Jahres 2000 machen deutlich, dass es zwischen den wichtigsten Währungen neue gigantische Ausrichtungsprobleme gibt, die in die neuen Märkte hinüberschwappen könnten. Schon kommt es erneut zu einer Ansammlung kurzfristiger Kapitalströme in die schwächsten Länder. Die nächste Krise ist somit nur eine Frage der Zeit. Wenn dies geschieht, wird die westliche Welt hierauf ebenso unvorbereitet sein, wie sie es 1997 war. Die internationale Wirtschaftspolitik konnte weder den kleinen, offenen Volkswirtschaften noch den großen Ländern Lösungen für ein adäquates Wechselkurssystem anbieten. Die Dominanz des „Marktes“ als globales Symbol für Weisheit und Effizienz hat eine angemessene Bewertung der Vorgänge in Asien und andernorts verhindert. Nach Ansicht der US-Administration und des IWF war die Wurzel allen Übels der Versuch einiger Regierungen, besser zu sein als der Markt und ihre Wechselkurse festzuschreiben, anstatt sie der Urteils- und Vorhersagekraft der Devisenmärkte zu überlassen. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Die Entscheidung vieler Regierungen in Europa und Asien für eine Abkehr von der Marktlösung und für die Suche nach Wegen, den Außenwert des Geldes durch Anbindung an eine Ankerwährung zu stabilisieren, war das Ergebnis vieler frustrierender Erfahrungen mit flexiblen Wechselkursen (starke und ökonomisch irrationale Fluktuationen). Der Ankeransatz erwies sich aufgrund seiner eingebauten Anreize für kurzfristige, schnell umkehrbare Kapitalzuflüsse und der damit zusammenhängenden Tendenz zu einer realen Aufwertung der Landeswährung als gefährlich. Ebenso gefährlich ist es jedoch, diesen Ländern eine Rückkehr zu jener „Lösung“ zu empfehlen, deren Versagen in erster Linie der Grund für einen Wechsel hin zum Ankeransatz war.

 

Franz Waldenberger
Vom Unternehmens- zum Marktkapitalismus? Japanische und deutsche Systeme der Unternehmensführung stehen vor einer veränderten Situation

 

In der Vergangenheit wurde sowohl in Deutschland als auch in Japan bei Managemententscheidungen großes Gewicht auf die Interessen der Arbeitnehmer gelegt. Dieser Führungsstil sieht sich nun jedoch einer veränderten Situation ausgesetzt, auf die er reagieren muss. Aber die Schlußfolgerung, dass er durch eine Ausrichtung der Unternehmensführung auf die Interessen der Aktionäre zu ersetzen wäre, ist zu simpel. Die Dichotomie „stakeholder“-„shareholder“ erfasst nicht die entscheidenden Probleme und Optionen der „corporate governance“. Die Hauptaufgabe von Systemen der Unternehmensführung ist der Schutz der Interessen verschiedener Parteien, die an dem Prozess der Wertschöpfung in privaten Unternehmen beteiligt sind. Zu beobachtende nationale Unterschiede resultieren aus unterschiedlichen Schutzmechanismen. Unternehmen in den USA oder in Großbritannien verlassen sich als mehr auf den (Arbeits)Markt. Japan und Deutschland haben in der Vergangenheit den Schwerpunkt auf die ausdrückliche Verpflichtung des Managements gelegt, die Einkommensinteressen der Mitarbeiter zu schützen. Stabile Beziehungen zu Großaktionären und Hausbanken ermöglichten es dem Management, dieser Verpflichtung nachzukommen. Ohne solche stabilen Beziehungen auf der Kapitalseite hätte das Management sich nicht zum Schutz der Mitarbeiterinteressen verpflichten können. Die deutsche und japanische Entscheidung für diesen Ansatz wurde durch die Tatsache diktiert und unterstützt, dass diese Länder im Prozess der Industrialisierung Spätentwickler waren. Um aufzuholen, mussten Firmen in das „Humankapital“ ihrer Mitarbeiter investieren. Das Ergebnis war, dass Arbeitsqualifikationen zu einem großen Maße firmenspezifisch waren, was bedeutete, dass die respektiven Einkommensinteressen im externen Arbeitsmarkt nicht geschützt waren. Sie mußten vielmehr durch eine explizite Verpflichtung seitens des Managements geschützt werden. Das Wachstumspotenzial, das beide Länder als industrielle Spätentwickler nutzen konnten, ermöglichte es deutschen und japanischen Unternehmen, konfligierende Arbeits- und Kapitalinteressen in Einklang zu bringen. Angesichts des jetzt erreichten Niveaus der wirtschaftlichen Entwicklung erscheint die Konfliktlösung durch Wachstum auf nationaler Ebene nicht mehr möglich. Dies bedeutet für die meisten Branchen, dass das Management nicht mehr in der Lage ist, sich zum Schutz qualifizierter Arbeit zu verpflichten. In Deutschland haben externe Märkte für qualifizierte Arbeit diese Schutzfunktion übernommen. In Japan sind entsprechende Märkte noch unterentwickelt. Dies erklärt nicht nur die starke Abneigung des japanischen Managements gegen die Entlassung von qualifiziertem Personal, sondern auch die großen Schwierigkeiten, die die japanische Wirtschaft im Umgang mit den strukturellen Veränderungen der 90er Jahre hat.

 

Kai Hirschmann
Das neue Gesicht des Terrorismus

Obwohl Terrorismus heutzutage zumeist noch immer ein „Spiel mit Bomben und Gewehren“ ist, wurde er durch neue Formen und Akteure „bereichert“. Im Gegensatz zur typischen Terroristengruppe der Vergangenheit sind heutige Terroristen Teil amorpher, verschwommener Organisationen, operieren eher dezentral als hierarchisch, haben weniger leicht zu definierende oder erkennbare Zielsetzungen, sind eher bereit, wahllos einer großen Anzahl von Opfern Schaden zuzufügen, und bekennen sich weniger häufig als in der Vergangenheit zu ihren Taten. Darüber hinaus operieren Terroristen heute zunehmend auf internationaler Ebene und nicht nur in einer bestimmten Region oder in einem bestimmten Land. Weltweite Netzwerke haben ihre Wurzeln in transnationalen Migrantengemeinschaften. Auch sind Verbindungen zum internationalen organisierten Verbrechen zu finden. Was die Motivation anbelangt, so sind in der Folge der politischen Veränderungen in der Zeit nach dem Kalten Krieg, doch auch in der Folge von Globalisierung und kulturellem Wandel neue Formen der Unzufriedenheit entstanden. Heute haben fast ein Viertel aller weltweit tätigen terroristischen Vereinigungen religiöse Motive. Eine neue Art des Terrorismus hat mit spezifischen Anliegen wie Tierschutz, Umweltschutz oder dem Kampf gegen Abtreibung zu tun. Ein weiteres Phänomen ist der Typ des Privatterroristen nach Art eines Bin Laden, der große persönliche Finanzressourcen mit extremistischen politischen oder religiösen Ansichten vereint. Die Aussicht, daß Terroristen an atomare, chemische und biologische Waffen gelangen und davon Gebrauch machen könnten, hat große Aufmerksamkeit erregt. Obwohl es gut möglich ist, dass Terroristen derartige Waffen kaufen, ist es eher unwahrscheinlich, daß sie damit einer größeren Anzahl von Menschen Schaden zufügen. Verbesserte konventionelle Methoden wie Sprengstoffattentate erscheinen potenziell wesentlich effektiver. Doch auch ohne eine größere Anzahl von Opfern dient der Einsatz von ABC-Waffen dem zentralen Zweck von Terroristen: die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Terroristische Anschläge mit chemischen und biologischen Waffen sind wiederum wahrscheinlicher sind als solche mit Atomwaffen. Das größte Potenzial muss jedoch dem „Cyberterrorismus“ zugeschrieben werden, d.h. dem zerstörerischen Eingreifen in computergesteuerte öffentliche oder private Abläufe wie z.B. die Kontrolle des Flugverkehrs, die Lebensmittelverarbeitung, finanzielle Transaktionen oder Telekommunikation.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel| 7/2000