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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2000

Inge Kaul / Isabell Grunberg / Marc A. Stern (eds.)
Gerhard Fuchs / Gerhard Krauss / Hans-Georg Wolf (Hg.)
Asha Gupta
Sabine Lang / Margit Mayer / Christoph Scherrer (Hg.)
Valeria Heuberger / Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hg.)
Francoise Jean / Jean-Christophe Rufin (Hg.)
David Chandler
Peter Wittschorek (Hg.)
Patrick Ziltener
Marcus Höreth
OECD
Shlomo Shafir
Peter Pawelka / Hans-Georg Wehling (Hg.)

Inge Kaul, Isabell Grunberg, Marc A. Stern (Hg.):
Global Public Goods – International Cooperation in the 21st Century
New York, Oxford, 1999
Oxford University Press, 546 S.

In der globalisierten Ökonomie werden Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung groß geschrieben; öffentliches Eigentum und öffentliche Güter hingegen gelten vielen „Enthusiasten„ der Globalisierung als suspekt. Das im Programm für die menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen (UNDP) von Inge Kaul, Isabelle Grunberg und Marc A. Stern erarbeitete Buch über „Global Public Goods„ ist daher gegen den Strom geschrieben. Es ist ein Plädoyer für mehr Gerechtigkeit in der Welt, und zwar nicht nur aus moralischen Erwägungen sondern als Ergebnis eines rationalen ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalküls. Es werden die positiven Seiten der sozialen und der menschlichen Sicherheit (ein Konzept, das Anfang der 90er Jahre ebenfalls im Rahmen des UNDP entwickelt worden ist) und des Friedens hervorgehoben – getreu der Konfuzianischen Weisheit, daß Unsicherheit schlimmer ist als Armut. Folglich stellen sich die Fragen, warum erstens „public goods„ privatwirtschaftlich nicht bereitgestellt, warum sie zweitens durch öffentliche Institutionen unzureichend angeboten werden, warum drittens die Erzeugung von „public bads„ nicht einfach unterbunden werden kann und wie viertens ein gesellschaftlicher Prozeß in Gang gesetzt werden kann, in dessen Verlauf die „jurisdictional gap„, die „participation gap„, die incentive gap„ geschlossen werden können, die einer „international cooperation in the 21st century„ – so der Untertitel des Buches zum Hindernis geworden sind.

Bevor die Herausgeber auf die konstatierten Lücken und daraus abgeleitete Handlungsimperative im abschließenden Kapitel zurückkommen, werden das Konzept der global public goods diskutiert, Fallstudien unter der Fragestellung von Gleichheit und Gerechtigkeit, Effizienz von Märkten und aus den Bereichen von Umwelt und kultrurellem Erbe, Gesundheit, Wissen und Information, Frieden und Sicherheit präsentiert sowie Konsequenzen für die Politik angedeutet. Dafür haben die Editoren hervorragende Autoren gewinnen können, auf deren Beiträge im Rahmen einer knappen Rezension nicht so ausführlich eingegangen werden kann, wie es sinnvoll und geboten wäre.

Was sind „öffentliche Güter„? In der Einführung werden sie von den Herausgebern zunächst an Beispielen umschrieben: Frieden, die Vermeidung von Wirtschaftskrisen, ökonomische, soziale und finanzielle Stabilität, Bildung, aber auch die verschiedenen Aspekte menschlicher Sicherheit („human security„), von der Ernährungssicherheit über die Wasser- und Energieversorgung bis zur Sicherheit vor privater und staatlicher Gewalt, - das sind typische und unverzichtbare öffentliche Güter in der globalisierten Gesellschaft.

Was zeichnet sie gemeinsam aus? „Public goods are recognized as having benefits that cannot easily be confined to a single „buyer„....(They are) understood to have large externalities and diffuse benefits„ (XX). Oder: „A public good has two critical properties: nonrivalrous consumption – the consumption opf one individual does not detract from that of another – and nonexcludability – it is difficult if not impossible to exclude an individual from enjoying the good„ (Joseph E. Stiglitz: 308; ähnlich die Herausgeber in ihrem Beitrag zur Definition: 2ff.). Ein Buch können beliebig viele Leute lesen, ohne daß die Qualität des Textes darunter leidet und ein Computerprogramm ist im Prinzip nur dann exklusiv nutzbar, wenn copyright-Regeln und andere Formen von „intellectual property rights„ Nutzer ausschließen, die für das Produkt nicht gezahlt haben. Die neuen Regeln der WTO über intellectual property rights lassen sich daher auch als grandioser Versuch lesen, global public goods in private commodities zu verwandeln, die auf globalen Märkten verkauft werden können.

Der Ausschluß möglicher Nutzer von public goods kann selbst Auslöser für die Entstehung von global public bads sein: größere Ungleichheit der Einkommen, ungleiche Zugänge zu globalen Wissensbeständen, Einschränkungen staatlicher Souveränität und mit ihr Schranken für die Ausübung von Bürgerrechten. Wichtiger sind jedoch die negativen Externalitäten, die „sozialen Kosten der Privatwirtschaft„, über die K. William Kapp schon zu Beginn der 50er Jahre geschrieben hat. In Zeiten der Globalisierung haben Umweltverschmutzung, Treibhauseffekt, Finanzkrisen, Migrationsbewegungen infolge des Zerfalls „schwacher Staaten„ (Richard Falk in seinem „On Humane Governance„, das zeitgleich mit dem rezensierten Buch erschienen ist und ein sehr verwandtes Thema behandelt) grenzüberschreitende Auswirkungen. Daher, so die Herausgeber, „our provision is that today’s turmoil reveals a serious underprovision of global public goods„ (XXI). Dazu haben die schon erwähnten „Lücken„ (gaps) beigetragen: Die Lücke bei den rechtlichen Regelungen angesichts nationalstaatlicher Zuständigkeit, obwohl doch die Auswirkungen des Handeln heute global sind. Dann das Defizit bei der Einflußnahme auf die Prozessse der Globalisierung; mächtige Akteure (z.B. transnationale Konzerne) drängen Bürgerbewegungen in den Hintergrund, trotz der Ausweitung demokratischer Verhältnisse im globalen Raum. Schließlich ist da die „incentive gap„, d.h. das Fehlen von Anreizen in Ökonomie und Politik, um die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen und die Abhängigkeit von „Gebern„ zu überwinden. Die Herausgeber schlagen zur Anhilfe einen selbstverwalteten „global participation fund„ vor, der die Arbeit der UNCTAD ergänzen sollte (XXXIV).

Die Vorschläge werden im abschließenden Beitrag aufgegriffen und konkretisiert. Sie sind und sie bleiben normativ. Die leitenden Prinzipien der Normierung werden etwa in den Beiträgen von Amartya Sen, Mohan Rao, Ethan Kapstein im Sammelband ausgeführt. In der Krise des (nationalstaatlichen) Wohlfahrtsstaats sind die Regularien der Gewährleistung eines Minimalstandards von Gerechtigkeit verloren gegangen, ohne daß diese auf globaler Ebene einen Ersatz finden würden. Dagegen kann mit Postulaten einer sozialen, menschenwürdigen Entwicklung argumentiert werden. Doch wie lassen sich diese begründen, zumal die Freihandelsdoktrin klipp und klar besagt, daß der „Wohlstand aller Nationen„ steigt, wenn man nur den Regeln der Deregulierung folgen.

Das freihändlerische Argument trägt freilich empirisch nicht. Charles Wyplosz stellt in seinem Beitrag über die Finanzkrisen des letzten Jahrzehnts die Kosten der Umstrukturierung der Bankensysteme, sprich der Abwendung von Bankenpleiten in den Schuldnerländern, aber vor allem in den (westlichen) Gläubigerländern, zusammen: sie belaufen sich in den betroffenen Ländern auf bis zu 55% des Sozialprodukts (Argentinien) (152ff). Das sind natürlich Indikatoren für global public bads, die überzeugend die Notwendigkeit für den korrigierenden politischen Eingriff belegen. Dieser Einsicht haben sich inzwischen auch Repräsentanten von IWF und Weltbank geöfffnet. In der Rede vom „Post Washington consent„ kommt dies zum Ausdruck, und darin finden sich viele der Vorschläge wieder, die Wyplosz und andere Autoren des Bandes unterbreiten.

Doch hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Erstens ist nachzuweisen, daß global bads und die Unterversorgung mit global public goods eine Konsequenz der privaten profitorientierten Produktion sind. Mit dieser Art Ursachenforschung setzen sich die Autoren des Sammelbands leider nicht auseinander. Zweitens sind die Ursachen dafür zu benennen, daß public bads produziert oder public goods nicht produziert werden, obwohl doch alle, dies kann man ja in der Regel getrost unterstellen, nur das Beste für sich und die Menschheit wollen. Zur Lösung dieses Problems beziehen sich nicht nur die Editoren sondern auch die Autoren auf bekannte spieltheoretische Dilemmata. Sie weisen nach, daß Akteure unter gegebenen Konstellationen nicht das optimale Ergebnis für alle Teilnehmer am „Spiel„ erzielen. Aber die Schlußfolgerung, daß eine Veränderung der Spielregeln Abhilfe versprechen würde, ist doch zu einfach. Denn die Akteure sind in ökonomisch-soziale Strukturen eingebunden, die ihre Aktivitäten „strukturieren„, so wie die Strukturen Resultat des Handelns der Akteure sind. Dennoch zeigen die Beiträge von Barrett (ein Vergleich der Protokolle von Montreal zur Reduktion von FCKW-Emissionen und von Kyoto zur CO2-Reduktion) und von Heal (192-239), daß die Befragung individuell rationaler Entscheidungen auf ihre kollektive Rationalität (oder Irrationalität) Sinn machen kann, wenn man herauszufinden versucht, warum das Montreal-Protokoll recht gut, das Kyoto-Protokoll aber sehr schlecht funktioniert.

Eine tiefere Analyse des gesellschaftlichen Naturverhältnisses hätte möglicherweise zusätzliche Erkenntnisse verschafft, z.B. über die Gründe, weshalb unter Bedingungen fordistischer Massenproduktion und „post-fordistischer„ Mobilität und Flexibilität der Naturverbrauch über das Maß der Nachhaltigkeit steigt, vielleicht steigen muß. Eine kritische Analyse der ungleichen Machtverteilung zwischen den Akteuren der globalisierten Ökonomie und Politik hätte vielleicht Antworten auf die Fragen nach neuen Formen der „intrnationalen politischen Kooperation im 21. Jahrhundert„ (so der Untertitel des vorliegenden Bandes) präsentieren können und vielleicht zu zeigen vermocht, warum die internationale politische Kooperation in der „neuen Weltordnung„ so schwierig ist und kriegerische Auseinandersetzungen zugenommen haben. Da die härteste Form der Macht die strukturelle Macht ist, wird mit dem härtesten Widerstand zu rechnen sein, wenn die Machtstrukturen in Frage gestellt werden müssen, um Chancen für internationale Kooperation zu verbessern. Doch in dem Abschnitt über political implications wird man keine Reflexion dieser Fragen finden; statt dessen formal-mathematische Kalküle (insbesondere bei Jayaraman und Kanbur: 418-435), in denen Interessen und Macht nicht berücksichtigt sind. Dieser Abschnitt ist der schwächste des Sammelbandes.

Im Schlußteil resümieren die Herausgeber die Debatte. Sie entwickeln eine differenzierte Typologie von global public goods und sie weisen auf der Grundlage der Beiträge zum Sammelband Wege auf, die zu Beginn konstatierte gesetzgeberische, die Beteiligungs und die Anreizlücke zu schließen. Der Band ist – trotz der Kritik – ein gelungener Versuch, die Konzepte des UNDP, insbesondere die des human development und der human security, wissenschaftlich mit einer Theorie von „globalen öffentlichen Gütern„ zu fundieren. Es wird aber kein Wege daran vorbeigehen, die Fundierung zu verbessern – durch Radikalisierung. Die Verantwortung der Akteure und ihre Rationalitätsfallen sind unbezweifelbar bedeutsam. Doch die Strukturen, in denen sie sich bewegen, sind möglicherweise noch wichtiger: ökonomische Zwänge und Interessen in einer kapitalistischen Weltgesellschaft, auf die das Regelsystem globaler Kooperation antworten muß, um die für die menschliche Entwicklung notwendigen global public goods bereit zu stellen.

Elmar Altvater
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
Freie Universität Berlin

Gerhard Fuchs, Gerhard Krauss, Hans-Georg Wolf (Hrsg.):
Die Bindungen der Globalisierung. Interorganisationsbeziehungen im regionalen und globalen Wirtschaftsraum.
Marburg 1999
Metropolis-Verlag, 378 S.

Es ist nicht selbstverständlich, daß ein Sammelband kohärent ist und ein insgesamt hohes Niveau aufweist, insbesondere wenn es sich um einen Tagungsband handelt und erst recht, wenn der Titel zunächst eher Rätsel aufgibt. Dieser Band ist gleichwohl überwiegend lesenswert, und es liefert eine Reihe von Einsichten zu einer sehr aktuellen Frage: Was wird aus Regionen, und welche Handlungsoptionen gibt es noch in Regionen, in einer Zeit, die vom Phänomen der Globalisierung geprägt zu sein scheint?

Die Antwort, die sich durch viele Beiträge hindurchzieht: International agierende Unternehmen nehmen die Standortvorteile, die Regionen bieten, dankend entgegen, ohne daß man sich darauf verlassen kann, daß von ihnen etwas zurückkommt. Und selbst dann, wenn Akteure auf der regionalen Ebene versuchen, Neues aufzubauen, kommen ihnen häufig die alten Unternehmen und Strukturen in die Quere.

Die Mehrzahl der Beiträge fußt auf empirischer Forschung auf der regionalen Ebene. Dieter Läpple gelangt zu der auf den ersten Blick paradoxen These, daß Hamburgs Position als „Tor zur Welt„ durch die Globalisierung erodiert. Der Hafen ist nur noch Durchgangsstation in einer langen Logistikkette, und es gibt keinen spezifischen Grund dafür, daß diese Kette in Hamburg gesteuert werden sollte. Als Arbeitgeber ist der Logistikkomplex nur von nachgeordneter Bedeutung, genauso wie übrigens die Medienwirtschaft. Das Rückgrat des Arbeitsmarkts bilden „Großstadtdienstleistungen„, „Stadtteil-/ Quartiersbezogene Betriebe„ (die in der Stadtentwicklungspolitik häufig übersehen werden) und unternehmensbezogene Dienstleistungen. Klaus Dörre berichtet über die Anstrengungen lokaler Akteure im Raum Nürnberg, eine Entwicklungsstrategie für diese altindustrielle, unter einem massiven Beschäftigungsabbau leidende Region zu formulieren und implementieren. Dies ließ sich zunächst sehr vielversprechend an, steht mittlerweile aber vor massiven Hindernissen. Initiiert und vorangetrieben wurden diese Aktivitäten von der IG Metall-Verwaltungsstelle, die im Kontext von innerbetrieblichen Reorganisationsanstrengungen auch mit den Leitern der lokalen Konzernbetriebe – die Großbetriebe in den dominierenden Sektoren Fahrzeugbau und Elektroindustrie sind durchweg Filialen – konstruktive Beziehungen aufbauen konnte. Diese fußten jedoch auf persönlichen Beziehungen, die mit dem Wechsel sämtlicher Betriebsleiter hinfällig wurden, denn die neuen Leiter waren einseitig auf die kurzfristige Optimierung des Betriebsergebnisses orientiert und an lokaler Strukturpolitik desinteressiert. Die regionale Strategie setzte daraufhin stärker auf kleine und mittlere Unternehmen, und dies bislang offenbar mit Erfolg. Die Aktivitäten werden dadurch nicht einfacher, daß periodisch Querschüsse von der lokalen IHK, der IG Metall-Zentrale und der Landesregierung kommen. Martin Heidenreich schildert die Erfahrungen mit Versuchen einer grenzüberschreitenden Entwicklungskooperation im deutsch-polnisch-tschechischen Länderdreieck, die offenbar besser vorankommen, als man aufgrund des historischen Erbes vermuten würde. Ulrich Jürgens stellt aktuelle Tendenzen im Bereich der Produktentwicklung in der Automobilindustrie dar. Hier prägen neue Unternehmenskonzepte die regionalwirtschaftlichen Strukturen: Die Auslagerung von Entwicklungsaktivitäten zu Zulieferern und unabhängigen Ingenieurfirmen stärkt die Standorte von Unternehmenszentralen, aber auch von wichtigen Filialbetrieben. Parallel dazu läuft ein Prozeß der Internationalisierung von Entwicklung ab, und insgesamt erwecken die von Jürgens geschilderten Prozesse den Eindruck, daß die Automobilkonzerne in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in einem trial-and-error-Prozeß steckten und bislang nicht klar ist, welches die neue dominierende Struktur ist. Gerhard Fuchs und Hans-Georg Wolf diagnostizieren, daß die Entwicklung der Multimedia-Industrie in Baden-Württemberg kaum von den existierenden Unternehmen in verwandten Branchen (Computer, Telekommunikation) profitieren konnte (ohne daß sie dies explizit auf die Tatsache zurückführen, daß es sich auch hier durchweg um Filialen handelt); einer entsprechenden industriepolitischen Initiative war in der Mitte der 90er Jahre kein Erfolg beschieden. Rolf Sternberg und Christine Tamásy zeigen, daß für Unternehmensgründungen in Technologie- und Gründerzentren der regionale Kontext eine überraschend geringe Bedeutung hat; dies, so ihr Argument, gilt auch für die Zentren selber, deren Wirksamkeit sie als eher gering einschätzen. Gerhard Krauss kommt in seiner Analyse der Existenzgründungsdynamik in Baden-Württemberg zu dem Befund, daß die unterdurchschnittlichen Raten auf die Kombination von Branchenstruktur und Zutrittsbarrieren zurückzuführen sind. Die Barrieren sind in den vorherrschenden Branchen (KFZ, Elektro, Maschinenbau) niedrig, und die Gründungsraten sind für diese Branchen hoch – aber die Branchen weisen generell (auch in anderen Regionen) niedrige Gründungsraten auf. Umgekehrt sind in Branchen, in deren grundsätzlich eine hohe Gründungsdynamik aufweisen, im Ländle die Zutrittsbarrieren hoch. Frank Iwer und Frank Rehberg kommen vor dem Hintergrund von Erfahrungen in der Autoindustrie (am Beispiel des Smart-Werks) sowie in der Medienbranche zu der These, daß Regionalpolitik heute in Abhängigkeit von Entscheidungen großer Unternehmen steht und ihre Gestaltungspotential daher gering sind. Der Band enthält weitere vier Beiträge, die sich an einer Reinterpretation der vorliegenden Literatur versuchen und dabei zu keinen grundlegend neuen Erkenntnissen gelangen.

Insgesamt ist die Botschaft für regionale Akteure nicht sehr ermutigend. Sie steht durchaus im Kontrast zu der These, die heute der Regionalpolitik und lokaler Standortpolitik zugrunde liegt, daß nämlich auf der dezentralen Ebene beachtliche Gestaltungspotentiale existieren. Von Verfechtern wie auch Kritikern wird dabei häufig übersehen, daß erfolgreiche regionale Initiativen eine lange Reifezeit haben; dies zeigen Erfahrungen im Inland (z.B. die Region Aachen) wie im Ausland (z.B. Wales). Überdies wird man regionale Initiativen erst dann richtig verstehen, wenn man ihre Akteure versteht. Hier liegt das Defizit dieses Bandes: Es geht meist um Strukturen – Akteure kommen nur punktuell ins Bild. Insbesondere finden sich nur selten, und nicht systematisch, Hinweise auf einen wichtigen Typus von Akteuren, nämlich die allem Anschein nach entstehende internationale Managerkaste – Individuen mit ähnlichem Qualifikationshintergrund (MBA nach US-Vorbild), Karrieremustern (relativ kurze Verweildauern in Konzernbetrieben, die über den ganzen Globus verteilt sind) und Anreizstrukturen (hohe Grundgehälter und grotesk hohe, variable Entlohnung auf der Grundlage von Aktionoptionen). Ein Unternehmen ist nicht ein Akteur, sondern die Summe des Verhaltens Vieler; dies zeigt gerade der Beitrag von Dörre. Insofern ist es dringend nötig, die internen Strukturen von international agierenden Unternehmen besser zu verstehen – gerade um Handlungsmöglichkeiten auf der lokalen und regionalen Ebene besser einschätzen zu können.

Jörg Meyer-Stamer
Universität Duisburg

Asha Gupta:
Towards Privatization. Lessons from the United Kingdom, East Germany and India

Delhi 1999
BR Publishing Company, 298 S.

Die indische Ökonomin Asha Gupta beschäftigt sich seit Ende der 80er Jahre mit Fragen der Wirtschaftsreform und der Privatisierung. Sie hat die intensive Debatte in ihrem Heimatland, die den langsamen und vorsichtigen Öffnungsprozeß begleitete, immer wieder dadurch bereichert, daß sie die Erfahrungen anderer Länder analysierte und der indischen Öffentlichkeit zugänglich machte. Sie hat sich zunächst mit Kanada beschäftigt, bevor sie sich Großbritannien und Deutschland zuwandte. Daneben hat sie kontinuierlich an der Auseinandersetzung in Indien direkt mit Papieren und Artikeln zu unterschiedlichen Aspekten der Reformpolitik teilgenommen.

Das vorliegende Buch faßt ihre Überlegungen zu Großbritannien, Ostdeutschland und Indien zusammen. Die drei Länderstudien hat sie mit zwei einführenden und einem abschließenden Kapitel eingerahmt und kontextualisiert. Die beiden einführenden Kapitel geben einen guten Überblick über die internationale Privatisierungsdebatte und die verschiedenen Konzepte und Formen von Privatisierung. Gupta macht deutlich, wie vielfältig sowohl die Motive und Ziele, als auch die Wege der Privatisierung sind. Es verwundert nicht, wenn der reale Prozeß schließlich oft Wegen folgt, die an den Zielen vorbei führen.

Gupta legt die unerwünschten Folgen der Privatisierung schonungslos dar. Der Leser spürt deutlich ihre intellektuelle Herkunft aus der sozialistisch geprägten indischen Denkschule. In ihre Schlußfolgerungen mischen sich auch folgerichtig marktskeptische und reformerische Töne. Diese Grundhaltung hindert sie aber nicht, ja befähigt sie vielleicht gerade, die englischen und deutschen Erfahrungen mit großer Klarheit zu untersuchen und auszubreiten. Das Kapitel über Deutschland ist auch als Arbeitspapier des renommierten Kieler Instituts für Weltwirtschaft erschienen. Es kann jedem empfohlen werden, der die Probleme der Privatisierungspolitik der Treuhand und der deutschen Einigung knapp und präzise resümiert haben möchte.

Bei Kleinigkeiten kommt man aber auch schon mal ins Stutzen: Auf S. 2 läßt Gupta z.B. die „Revolution“ in Mittel- und Osteuropa mit dem Fall der Mauer beginnen, statt mit dem Wahlsieg von Solidarnosc in Polen im Sommer 1989. Auf S. 28 beschreibt sie die Beschäftigungseffekte der britischen Privatisierung als Transfer von einer Million Arbeitsplätze aus dem staatlichen in den privaten Sektor, belegt dies aber mit Zahlen zum Stellenabbau. Es wird aber nicht klar, wo alle diese nicht mehr in den Staatsunternehmen beschäftigten Kräfte geblieben sind. Das Argument müßte sich auf die Restbeschäftigten konzentrieren, die mit der Privatisierung ihrer Unternehmen in den Privatsektor wechseln.

Das Buch verfügt über umfangreiche Anhänge, deren Bedeutung etwas offen bleibt. Gupta hat nach jedem Kapitel eine Liste einschlägiger Literatur, aber trotzdem noch eine lange Bibliographie am Ende des Buches (die sich allerdings nicht überschneiden, soweit die Stichproben tragen). Außerdem gibt es fast 80 Seiten Anhang (Tabellen, Grafiken, etc.), auf den im Text nicht verwiesen wird. Schade, denn vieles im Anhang ist sehr informativ und gibt gut strukturierte Überblicke, die sich z.B. hervorragend als Folien für Vorträge eignen.

Insgesamt ist das Buch ein guter, kritischer Überblick zur Privatisierung. Mittel- und Osteuropa kommt sicher für den zu kurz, der die Privatisierung überwiegend als Teil der Transformation der ehemals kommunistischen Gesellschaften sieht. Aber für Leser aus anderen Ländern der Entwicklungswelt gibt es einen guten Einstieg, der hilft, pragmatische Lösungen in einem stark ideologisch geprägten Politikfeld zu finden.

Michael Dauderstädt
Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn

Sabine Lang; Margit Mayer; Christoph Scherrer (Hg.):
„Jobwunder USA – Modell für Deutschland?“
Münster 1999
Verlag Westfälisches Dampfboot, 326 S.

Die beeindruckende Dauerhaftigkeit des US-amerikanischen Konjunkturhochs, die manche Beobachter schon mit dem Entstehen einer „new economy„ oder mit nicht weniger als dem Anbrechen eines neuen „Goldenen Zeitalters„ in Zusammenhang bringen, löst in jüngster Zeit eine verstärkte Auseinandersetzung um Rahmenbedingungen und Ursachen dieses Phänomens aus. Nicht zuletzt die Tatsache, daß es sich bei diesem Prozeß nicht um ein „jobless growth„, also um Wachstum ohne Arbeitsplatzzuwachs handelt, sondern beständig Rekordmarken hinsichtlich der Schaffung neuer Arbeitsplätze und des Abbaus von Arbeitslosigkeit erreicht werden, läßt viele politische Akteure, aber auch Wissenschaftler nicht ohne einen Anflug von Neid über den „großen Teich„ blicken.Handelt es sich also wirklich um ein Wunder, dem wir uns gegenübersehen, oder haben die USA bewußt zu einem bestimmten Zeitpunkt politische Weichenstellung vorgenommen, die sich günstig auf die Arbeitsmarktlage ausgewirkt haben? Wäre eine solche Form der politischen Steuerung auf den deutschen Kontext übertragbar? Welche Kehrseite hat diese Entwicklung, wird sie durch Ausbreitung sozialer Disparitäten und Spannungen erkauft.

Die Diskussion dieser Fragen führte im Dezember 1998 europäische und amerikanische Wissenschaftler sowie Experten aus Gewerkschaften und sozialen Organisationen zu einer zweitägigen Konferenz in Berlin zusammen, die vom John F. Kennedy-Institut der Freien Universität konzipiert und veranstaltet wurde.* Die Beiträge der Teilnehmer liegen nunmehr gesammelt in Buchform vor und bieten dem wissenschaftlichem Publikum, aber auch der interessierten Öffentlichkeit einen überaus informativen und facettenreichen Überblick zu Forschungsansätzen und Analysen, die Erklärungen des amerikanischen „Jobwunders„ leisten können und sich mit der Frage der Modellfunktion der USA auseinandersetzen.

Die Autoren widmen sich insgesamt fünf übergeordneten Fragestellungen. Barry Bluestone, Thomas Palley und Heinz Werner gehen dem Stellenwert der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Beschäftigungszuwachs nach. Bluestone widerlegt zunächst die in den USA selbst und in der internationalen Finanzwelt gängigen Erklärungsversuch, wonach Geldwertstabilität, Liberalisierung des Außenhandels und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte als ausschlaggebend anzusehen seien. Vielmehr hätten technische Innovationen (Informationsverarbeitung), die Effektivierung von Produktionsabläufen und eine hohe Konsumneigung der amerikanischen Bevölkerung für den Aufschwung gesorgt, der ohne eine restriktive Geldpolitik und die forcierte Haushaltskonsolidierung noch weitaus kräftiger hätte ausfallen können. Palley setzt einen anderen Schwerpunkt, indem er der Geldpolitik der US-Notenbank einen durchaus mitentscheidenden Charakter zuschreibt. Deren Maßnahmen mit antizyklischer Ausrichtung seien Voraussetzungen für die wirtschaftliche Dynamik und das Beschäftigungswachstum gewesen. Einen Nachweis der Gültigkeit dieser Annahme sieht er in der entgegengesetzten Geldpolitik im europäischen Raum, die Währungsstabilität dem Abbau der Arbeitslosigkeit übergeordnet habe. Heinz Werners Hauptaugenmerk liegt auf der Wirkung des reinen Bevölkerungswachstums und der sich verschärfenden und mit Produktivitätsstagnation einhergehenden Einkommenspolarisierung, die er im Kern als Ursache für die Beschäftigungssteigerung ansieht. Aus dieser Einsicht die Konsequenz einer drastischen Lohnsenkung in Deutschland zu ziehen, geht für Werner angesichts der Gefahr sozialen Unfriedens zu weit. Eine Orientierung am holländischen Modell mit seinem Instrumenten-Mix verspräche bessere Erfolgsaussichten.

Suzanne M. Bianchi, Marlene Kim, Hartmut Häußermann und Sabine Lang gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, in welchem Ausmaß veränderte Erwerbsmuster des weiblichen Bevölkerungsteils für die Ausweitung des Arbeitsmarktes verantwortlich zeichnen. Bianchi weist nach, daß die Frauenerwerbstätigkeit in den USA (anders als in Deutschland) besonders seit den siebziger Jahren stark gestiegen ist, wofür ein verändertes gesellschaftliches Rollenbild der Frau und Mutter, ökonomische Zwänge und die Verbesserung der Ausbildungssituation von Frauen entscheidend gewesen seien. Auch die geschlechtsspezifischen Einkommensdifferenzen sind deutlich im Abnehmen begriffen, und dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren ungebrochen fortsetzen. Am allerwenigsten profitieren jedoch Frauen hispanischer Abstammung, die überproportional in den am schlechtesten bezahlten Dienstleistungsjobs vertreten sind. Diese Annahme bestätigt auch Marlene Kim und richtet ihren Blick hauptsächlich auf den Niedriglohnbereich. So würden 58% der Jobs in diesem Arbeitsmarktsegment von Frauen besetzt; 30% der weiblichen Arbeitskräfte arbeiten im Niedriglohnsektor. Ebenfalls überrepräsentiert sind unverheiratete, alleinerziehende Frauen mit Kindern, deren Situation sich insofern zuspitzt, daß Niedriglohnjobs selten mit einer ausreichenden Krankenversicherung verbunden sind. Als Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen schlägt sie die Anhebung des Mindestlohns, die Erhöhung von staatlichen Lohnsubventionen und die striktere Durchsetzung von Anti-Diskriminierungsprogrammen vor.

Hartmut Häußermann weist auf den Aspekt hin, daß Frauen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, auch selbst verstärkt Dienstleistungen nachfragen, die im Rahmen der früheren Hausarbeit erledigt wurden (z.B. Erziehung, Pflege, Reinigung). Dies ergebe einen Multiplikatoreffekt, wobei auf der Angebotsseite wiederum Frauen aufträten. Ambivalent steht Häußermann hier dem deutschen Modell gegenüber, daß durch die Orientierung auf einen Familienlohn für Männer und sozialstaatliche Maßnahmen Frauenerwerbsarbeit erschwert und unbezahlte Hausarbeit gefördert habe. Sabine Lang analysiert die Wirkungen aktiver Gleichstellungspolitik im Rahmen des „Affirmative-Action„-Programms, dessen Bedeutung bei der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit in der Diskussion zu wenig Beachtung finde. Sie gibt einen Überblick über die Geschichte des Programms und deren institutioneller Verankerung. Trotz personeller und finanzieller Unterfinanzierung der zuständigen Bundesbehörden ist es gelungen, mit Hilfe spektakulärer Diskriminierungsfälle bei Unternehmen einen Bewußtseinswandel zu erreichen. Das „Affirmative-Action„-Programm, das mittlerweile ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse umspannt, habe die materielle Inklusion der Frauen gefördert, wenn auch weiße Frauen im Verhältnis mehr davon profitiert haben als Angehörige von Minderheiten. Die habe allerdings nicht verhindern können, daß sich weiße Frauen bei einer vielbeachteten Volksabstimmung in Kalifornien gegen eine Fortsetzung dieses Programms ausgesprochen haben. Lang kritisiert diesbezüglich die Gleichstellungspolitik in Deutschland, vor allem was die Privatwirtschaft angehe, die von dieser Zielstellung nahezu unbehelligt agieren kann.

Die darauffolgenden Beiträge beschäftigen sich mit dem Fragenkomplex der Immigration und der Minderheiten in ihrem Verhältnis zu den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Die öffentliche Meinung in den USA zeigt sich stark abhängig von der unterschiedlichen Interpretation von Forschungsergebnissen, die von einer positiven bzw. schädlichen Auswirkung fortgesetzter Einwanderung auf einheimische Arbeitskräfte ausgehen. Für Guillermo J. Grenier und Peter Cattan stellen sich die Effekte der (legalen) Einwanderung von über 13 Millionen Menschen in den letzten 15 Jahren als widersprüchlich dar. Gesamtwirtschaftliche Studien gehen von einem positiven Wachstumssaldo aus, ohne daß Lohn und Beschäftigung der einheimischen Arbeitnehmer gefährdet würden. Andere Studien kämen zu dem Schluß, daß in Wirtschaftsbranchen mit hohem Anteil an immigrierten Arbeitskräften tendenziell niedrigere Löhne gezahlt werden als in Wirtschaftszweigen, wo dieser Anteil gering ist. Letztendlich hinge aber viel von den örtlichen Gegebenheiten ab. Auch böten lokale Immigranten-Ökonomien Neuankömmlingen zunächst Orientierung und dienten als Auffangbecken. Steve A. Caramota geht von einer tatsächlichen Zweiteilung des Arbeitsmarktes hinsichtlich des Immigrantenanteils aus. Beschäftigte in den sog. „High-Immigrant„-Berufen verdienten nur ca. 60% des Einkommens, das in den „Low-Immigrant„-Berufen gezahlt wird. Ebenfalls höher ist die Arbeitslosigkeit in den Sparten mit hohem Immigrantenanteil, in denen sich aber gleichzeitig auch viele Angehörige der schwarzen Minderheit in Beschäftigung befänden und als Arbeitsplatzkonkurrenten auftreten. Verschiedene Studien belegten dabei, daß Arbeitgeber häufig Immigranten gegenüber Schwarzen den Vorzug geben würden. Die Benachteiligung der afroamerikanischen Minderheit auf dem Arbeitsmarkt ist Gegenstand der Analyse von Troy Duster. Er kritisiert ökonomistische Herangehensweisen, die davon ausgehen, daß hohe Arbeitslosigkeit bei jüngeren Schwarzen in Großstädten vor allem industriellen Standortverlagerungen geschuldet sei. Vielmehr sei eine rassistische Einstellungspraxis und die bewußte Niedrighaltung des Bildungsniveaus von Schwarzen verantwortlich zu machen. Verschärft werde das Problem durch die sich rapide steigernde Verfolgung von Straftaten, insbesondere Drogendelikten, die vielen Schwarzen Jugendlichen den beruflichen Weg verbauen. Mittlerweile beträgt der Anteil von Schwarzen in den Gefängnissen der USA 45% aller Inhaftierten, der schwarze Bevölkerungsanteil lediglich 12%.

Die Beiträge von Jamie Peck, Michael Wiseman, Frances Fox Piven, Herbert J. Gans und Margit Mayer befassen sich mit einem Gebiet, das in jüngster Zeit für erhebliche Kontroversen in Politik und Wissenschaft gesorgt hat: „Workfare„. Umstritten sind vor allem die sozialen Auswirkungen der (Re-)Integration von ehemals sozialhilfeempfangenden, alleinerziehenden Müttern mit minderjährigen Kindern in den Arbeitsmarkt. Die Sozialhilfequote in den USA ist seit Mitte der neunziger Jahre um erstaunliche 50% zurückgegangen. Peck zeichnet zunächst die „Erfolgsgeschichte„ von Workfare als politischer Strategie nach, die aber lediglich auf der selektiven Interpretation der Ergebnisse von lokalen „welfare-to-work„-Programmen fußten. „Workfare„ diene der Erhaltung der Funktion flexibler Arbeitsmärkte, vernachlässige aber das sich verschärfende Problem der Dauerhaftigkeit von Armut trotz Beschäftigung. „Workfare„ fördere eher die Fluktuation in Niedriglohnsektor, als es in der Lage wäre, Arbeitsverhältnisse zu stabilisieren. Trotz dieser Defizite werde „Workfare„ internationale Ausstrahlung auf politische Konzepte in Ländern haben, die ihr Sozialhilfesystem verändern wollen. Michael Wiseman beurteilt Workfare-Programme deutlich positiver. Er zeigt sich überzeugt, daß der dynamische Arbeitsmarkt der USA diese ehemaligen Sozialhilfeempfängerinnen zusätzlich aufnehmen kann und dies in den letzten Jahren auch nachgewiesen hat. Zwischen 1996 und 1998 habe die Zahl von unverheirateten, alleinerziehenden Müttern, die eine Arbeit aufgenommen haben, um ein Drittel zugenommen, eine viermal so schnelle Anstiegsrate wie bei anderen Erwerbspersonen. Durch begleitende Maßnahmen wie die Erhöhung des Mindestlohns und Lohnzuschüsse aus Steueraufkommen seien die Einkommen für diese Gruppe substantiell gestiegen. Kritik übt Wiseman an fehlenden Qualifikationsmaßnahmen und der bislang unzulänglichen Evaluation von „Workfare„-Programmen.

Frances Fox Piven ordnet Workfare in einen größeren Kontext des Umbaus des amerikanischen Sozialstaats ein. Die USA habe entgegen landläufigen Meinungen ihren Sozialstaat nicht ab-, sondern, unter Inkaufnahme von Kostensteigerungen, umgebaut und zwar in eine Richtung, die neben der Erwerbsarbeit nahezu keine Alternative bietet. Der Entscheidung zur radikalen Umstrukturierung des Sozialhilfesystems sei eine massive Kampagne der Wirtschaft und ihr nahestehender Beratungsinstitute vorausgegangen. Erreicht wurde eine Re-Kommodifizierung der Arbeit, d.h. die Wiederherstellung ihrer Warenförmigkeit. In Herbert J. Gans‘ Beitrag findet sich eine polemische Abrechnung mit der Sozialhilfepolitik der Clinton-Administration. Die Abschaffung von Welfare im Jahre 1996 sei wahltaktisch motiviert gewesen, der Staat gebe seine Verantwortung für die wirtschaftlich „Überflüssigen„ auf. Workfare-Programme dienten der Erniedrigung der durch eigene „Schuld„ in Armut Geratenen und der Abschreckung anderer Anspruchsteller. Gans prophezeit für die Zeit nach Ende des Wirtschaftaufschwungs die Gefahr des Siechtums armer Bevölkerungsschichten durch Zunahme von Krankheiten, Drogengebrauch und Kriminalität, was von den politisch Verantwortlichen bewußt in Kauf genommen werde. Margit Mayer kommt zu einem differenzierten Ergebnis hinsichtlich der Frage, wie „Workfare„-Programme auf lokaler Ebene implementiert werden und den Kontext des Handelns von Stadteilorganisationen verändern. Von den unterschiedlichen Ressourcen hänge es ab, inwiefern mit Hilfe einer bestimmten Auslegung des Workfare-Prinzips und der gezielten Entwicklung wirtschaftlicher Selbsthilfe Potentiale erschlossen werden können, die tragfähig sind und die Konsequenzen fortgesetzter staatlicher Mittelkürzungen auffangen könnten. Die Abhängigkeit von der Stärke der lokalen Akteure ließe allerdings große Ungleichmäßigkeiten entstehen. Besonders kritisch sieht sie die in mehreren Großstädten zu beobachtende Konterkarierung von zunächst erfolgreichen Kampagnen zur Lohnsteigerung durch den erzwungenen Eintritt zusätzlicher, zumeist unqualifizierter Arbeitskräfte aus dem Sozialhilfebereich. Eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und die Nutzung von deren Organisationsfähigkeit auch für Workfare-Teilnehmerinnen sei aber eine vielversprechende und bereits praktizierte Strategie. Letztendlich sei die USA aber mit Workfare konsequent zu ihrem ursprünglichen Bürgerschaftskonzept zurückgekehrt, der die Verleihung dieses Status‘ untrennbar an die Erwerbsarbeit festschmiedet.

Jenseits der Spezifik der aktuellen Entwicklungen widmet sich der letzte Abschnitt des Sammelbandes der grundsätzlichen Fragestellung, ob und wie von anderen Gesellschaften gelernt werden kann und unter welchen Voraussetzungen sich Modelle auf andere Länder übertragen lassen. Zunächst bezweifeln Bob Hancke´ und Helen Callaghan, daß es unter dem Druck internationaler Konkurrenz zu einer Konvergenz institutioneller Arrangements im Sinne der neoklassischen Wirtschaftstheorie gekommen ist. Dies sei auch nicht wünschenswert, da das spezifische Institutionengefüge eines Wirtschaftssystems, z. B. dem der USA oder Deutschland, jeweilige komparative Vorteile bietet, deren Auflösung zu nicht akzeptablen gesellschaftlichen und wirtschaftsstrukturellen Folgekosten führen würde. Die Autoren erproben mit ihrem Ansatz eine sehr interessante Variante der Übertragung von David Ricardos, auf den Welthandel bezogenen „Theorie der komparativen Vorteile„, die auf die notwendige und sinnvolle Spezialisierung von Nationen und Regionen auf bestimmte Produktionsformen abstellt. Thomas Ertman geht vom Konzept der Pfadabhängigkeit in der Entwicklung einzelner Gesellschaften aus, die allerdings unterschiedlich weit interpretierbar ist. Gleichwohl schließe dieses Konzept, wie die Geschichte zeige, nicht aus, daß punktuell Innovationen aus anderen Gesellschaften übernommen werden können. Für das deutsche Modell stellt Ertman jedoch eine gewisse Labilität fest und hält es für möglich, daß man sich unmittelbar am Beginn einer Umbruchphase befinde. Als „Einfallstor„ für eine Aufweichung der Strukturen sieht er den Übergang zu einer Firmenpolitik des „shareholder value„ und die damit wachsende Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten. Christoph Scherrers Interesse gilt der Untersuchung von Bedingungen der wechselseitigen Beeinflussung zwischen den USA und Deutschland. Bilanziere man die letzten 150 Jahre, so falle zunächst auf, daß Lernprozesse und „Übernahme„-debatten von Interessengruppen und politischen Unternehmern angestoßen worden seien. Er geht für diesen historischen Zeitraum für die Wirkung von vier Faktoren aus, die für die Einführung des Modells des jeweils anderen Landes verantwortlich sind: 1) die institutionelle Kompatibililät, 2) die Macht der Befürworter der Übernahme des Modells im jeweiligen politischen System, 3) die Machtbeziehung zwischen dem als Vorbild geltenden Land zu dem Land, das die Maßnahme anwenden soll, 4) der weitere Erfolg des Modells. Scherrer stellt Tendenzen zu bestimmten arbeitsmarktpolitischen Übernahmepraktiken des Modells USA in Deutschland fest, z. B. hinsichtlich der zurückgedrängten Anwendung von Tarifverträgen oder der Kürzung von Lohnersatzleistungen.

Allen, die an einem vorurteilsfreien und kenntnisreichen Blick auf die möglichen Ursachen des amerikanischen Jobwunders und die Diskussion über seinen Modellcharakter gelegen ist, sei dieser Sammelband mit Nachdruck empfohlen. Die verschiedenen Perspektiven, die Autoren und Autorinnen eingebracht haben, verdeutlichen, daß es mit der Heranziehung von simplen Erklärungsansätzen nicht getan ist. Vielmehr gilt es, verschiedene Faktoren zu gewichten und ihre Wirkung über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Dieser Prozeß ist bei weitem nicht abgeschlossen, wie vor allem die Beiträge zu den Problemgebieten Immigration und Welfare-to-Work zeigen. Die Komplexität der Erscheinungen des amerikanischen Arbeitsmarktes geben jedenfalls für eine Blaupausenmentalität auf deutscher Seite keinen Anlaß.

Nichts spricht jedoch gegen die Forderung, daß Deutschland sich Modernisierungsimperativen stellen muß, auf die die USA, wie die Beiträge zeigen, durchaus reagiert hat. Die Stellung der Frauen in der Berufswelt, die Bedeutung der Immigration und auch in Verbindung damit der Umgang mit Menschen, die aufgrund ihrer niedrigen beruflichen Qualifikation und anderen Barrieren Schwierigkeiten haben, dauerhafte und armutsvermeidende Beschäftigungsverhältnisse zu finden, seien hier an oberster Stelle genannt. Gerade bei letzterem Punkt ist das Malen von Schwarz-Weiß-Bildern fehl am Platze. Es lassen sich in den USA, unter Einsatz beträchtlicher finanzieller Mittel, starke Tendenzen feststellen, die Situation dieser Bevölkerungsgruppe durch Lohnzuschüsse, Zugang zu Krankenfürsorge und Kinderbetreuung tatsächlich und substantiell zu verbessern. Ob dieser Trend zu einer veränderten Staatlichkeit, mithin also zu einer Modernisierung des „Modells USA„ selbst führen wird, bleibt eine offene Frage.

Uwe Wilke
Berlin


* Unterstützt von der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung.

 

Valeria Heuberger / Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hg.):
Das Bild vom Anderen
Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen
Frankurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1999
Verlag Peter Lang, 261 S.

Die internationale Öffentlichkeit hat nicht erst seit den Krisenherden Kosovo und Bosnien-Herzegowina ein gesteigertes Interesse an Fragen nationaler Identität und Mentalität im europaweiten Zusammenhang.

Ende Juni 1994 erörterte eine internationale und interdisziplinäre wissenschaftliche Konferenz Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen. “Das Bild vom Anderen” entpuppt sich als Tagungsband, der sich vorwiegend mit der Mentalitätsgeschichte folgender multinationaler europäischer Regionen auseinandersetzt: Böhmens, Schlesiens, der Slowakei, Ostgaliziens, der Bukowina, Siebenbürgens, der Vojvodina, Bosnien-Herzogowinas, des Kosovos, der Alpen-Adria-Region, Tirols und der Schweiz.

Das reizvolle daran ist, dass das östliche und südöstliche Europa und seine multiethnischen Regionen und Städte in wesentlich größerem Maße von nationalen Abgrenzungs- und Ausgrenzungsproblemen betroffen waren als westliche Länder. Seit 1900 sind gerade diese Regionen den oft gewaltsamen Weg der ethnischen Homogenisierung gegangen und die Identitäten der betroffenen Bevölkerungsgruppen erfuhren fundamentale Umwertungen. Diesem Umstand trägt der Tagungsband insofern Rechnung, als er in 18 Einzelbeiträgen die oben genannten Regionen vorstellt und das “Bild vom Anderen” aus historischer, ethnologischer, literaturwissenschaftlicher und religionswissenschaftlicher Sicht untersucht.

K. Roth schildert in einem eher grundsätzlichen Aufsatz, was Stereotypen und Mythen eigentlich sind und wie sie aus ethnologischer Sicht speziell bei der Begegnung zwischen Kulturen funktionieren. R. Lauer diskutiert in seinem kurzen Beitrag drei funktionale Varianten des Fremdenmotives in der Literatur, wo das Fremde grundsätzlich beherrschende Bedeutung hat, wenn es um die Funktion des Erkennens geht. Wahrnehmen und Erkennen kann durch das Fremde bzw. das Fremd-machen bewirkt werden. E. C. Suttner nähert sich aus religionswissenschaftlicher Sicht dem “Bild vom Anderen” und plädiert dafür, durch historisch-kritische Forschung festgefahrene Bilder aufzubrechen und darüberhinaus zu einer positiven Sicht von den Andern zu gelangen. Ein am Schluss plazierter Beitrag von M. Stier widmet sich der Stereotypenbildung in Lehrbüchern.

Den Kern des Buches machen 18 regionalspezifische Einzelbeiträge aus, die allerdings sehr heterogen sind. Nicht nur im Umfang - je zwischen 3 und 17 Seiten lang - unterschieden sie sich, es ist schwerlich ein gemeinsamer roter Faden erkennbar. Teilweise sind sie äußerst thesenhaft (J. Stritecky) oder mit sehr gedrängten historische Abrissen versehen (G. Kosellek, J. Daskevyc). Teilweise finden sich auch sehr differenzierte historische Präsentationen (L. Cybenko). Einerseits werden Mythen und Mentalitäten in Werken eines Schrifstellers nachgespürt (D. Roksandic), andererseits werden Mythisierung und Stereotypisierung in der politischen Behandlung der Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowinia ausgemacht (M. Geistlinger).

So sehr das geographisch breit gefächerte Gebiet der Einzelbeiträge besticht, so begrenzt ist der unmittelbare Gebrauchswert für den südosteuropäischen Regionalspezialisten. Denn bei allen Berichten bleibt ein grundsätzliches Unbehagen haften, weil sie nicht über den Zustand der Beschreibung von Identitäten und Stereotypen hinausreichen. Zu hoffen wäre, dass dieser Tagungsband den Auftakt bildet für eine erklärende Mentalitätsgeschichte der kriegs- und krisengeschüttelten südosteuropäischen Region, denn der interdisziplinäre Ansatz ist erfolgversprechend. Für ein breiteres Publikum sind über die reine Bestandsaufnahme hinaus jedoch Ursachenforschung und noch viel mehr friedfertige Strategien zum Umgang mit dem “Bild vom Anderen” von vorrangigem Interesse.

Claudia Schmidt-Rathjen
Wandlitz

 

Francois Jean / Jean-Christophe Rufin (Hg.):
Ökonomie der Bürgerkriege

Die weit überwiegende Zahl der Kriege in dieser Welt wird heute nicht mehr wie früher zwischen verschiedenen Staaten um die Eroberung oder Verteidigung von Territorien, Rohstoffen, Macht oder Prestige geführt. Fast alle Kriege der neunziger Jahre waren Bürgerkriege. Der Verlust gewohnter Denkschemata, die bis zum Ende des letzten Jahrzehnts die Welt in Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus aufteilten, führte zu einer Diskussion über die Ursachen der gehäuft auftretenden innerstaatlichen Kriege. Sich auflösende Ordnungen und ein Wirrwarr örtlich aufbrechender Kämpfe,  riefen und rufen sowohl bei Politikern, Diplomaten und Militärs als auch bei Analytikern aus der politischen Szene Ratlosigkeit und Beunruhigung hervor. Eine Reihe von Erklärungen für das Ausbrechen dieser Kriege wird heute angeboten: ethnische Konflikte, bedenkenlose Globalisierung und Mafiasysteme, bei denen es zumeist um wirtschaftliche Ressourcen geht, werden als die häufigsten Ursachen genannt. Die Herausgeber der ökonomischen Studien der Bürgerkriege äußern Zweifel an der Tauglichkeit solcher Erklärungen und meinen, daß man die Konflikte von gestern nicht als politisch und ideologisch motiviert und die heutigen als ökonomisch verursacht klassifizieren könne.

Um die Intention der Studien klar zu beschreiben, die nach dem Titel „Ökonomie der Bürgerkriege„ auch anders interpretiert werden könnte, betonen die Herausgeber in ihrem Vorwort, worum es ihnen geht: Sie wollen nicht eine weitere, eine ökonomisch orientierte Erklärung für die Ursachenmuster von Bürgerkriegen liefern, sondern in den Fallstudien zu aktuellen Bürgerkriegen wird beschrieben, wie die Bürgerkriegsparteien ihre materiellen Probleme – von der Versorgung mit Nahrungsmitteln bis zum Nachschub von Waffen und Munition – lösen. Denn diese materiellen Probleme stellen sich in den meisten Fällen den bewaffneten Bewegungen, egal welch ideologischer Couleur, als wirtschaftliche Zwänge dar, die so dominant sind, daß häufig die ursprünglichen Ziele der bewaffneten Auseinandersetzungen in den Hintergrund gedrängt werden oder ganz verloren gehen und lediglich die Versorgung und das Überleben der Bewegung als Ratio für den Kampf verbleibt.

Die wirtschaftliche Dimension gegenwärtiger Konflikte wird nicht hinsichtlich der möglichen  Ursachen untersucht, und die Autoren betonen ausdrücklich, daß Krieg in bestimmten Fällen als Mittel der Bereicherung dient oder gar zu einem „wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb„ wird. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen ökonomischen Strategien der politisch-militärischen Akteure zur Finanzierung ihrer Kämpfe, zur Kontrolle der Bevölkerung und zur Aneignung staatlicher Privilegien.

Interessant ist, daß die Initiative für die Studien nicht konflikt- oder wirtschaftstheoretischer Natur war, sondern von Mitgliedern internationaler Hilfsorganisationen ausging, die mit ihren humanitären Interventionen in Bürgerkriegen immer wieder die Grenzen ihres Handelns vor Augen geführt bekamen und oftmals ungewollt mit Hilfslieferungen in Katastrophengebiete kämpfende Parteien unterstützten, obwohl sie vor allem die Rettung unschuldiger Menschen und die Beendigung der Kämpfe im Sinn hatten.

Mit Länderstudien zum Libanon, Kurdistan, Afghanistan, Kambodscha, Bosnien, Liberia, Mosambik, Südsudan und Kolumbien sowie vier weiteren, übergreifenden Studien zur Funktion von Embargos, dem Drogengeschäft, der Diaspora als Konfliktfinanzierung und der Humanitären Hilfe in der Kriegsökonomie, ist es den Autoren gelungen, ein bislang weitgehend unbeackertes Feld gründlich zu bearbeiten. Nicht nur Länderspezialisten, Regionalexperten und Kenner der Hintergründe aktueller Konflikte können die Analysen mit Gewinn lesen. Die Analyse der einzelnen Studien ist zumeist klar und auch verständlich geschrieben. Den Herausgebern ist es weitgehend gelungen, die Autoren an dem vorgegebenen roten Faden – nämlich der Ökonomie der Bürgerkriege – zu orientieren und verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen. Eingänglich ist vor allem aber auch die vom Mitherausgeber Rufin verfaßte Zusammenfassung „Kriegswirtschaft in internen Konflikten„, die als Einführungskapitel erscheint. Hier werden die unterschiedlichen wirtschaftlichen Methoden zur Durchführung von Bürgerkriegen strukturiert dargestellt. Sie reichen von geschlossenen Kriegsökonomien, in denen ohne Kontakte zu externen Ressourcen Kriege geführt werden, bis zu den unterschiedlichen Formen offener Kriegsökonomien mit militärischen Rückzugsgebieten in Nachbarländern oder Raub und organisierter Kriminalität als Quelle zur Versorgung der Kämpfer. Schließlich wird auch die humanitäre Hilfe als Quelle zur Finanzierung von Kriegen untersucht.

Die Analysen erteilen einer zu Beginn der neunziger Jahre populären Annahme eine Absage, daß das Fehlen einer bestimmten Ressource die bewaffneten Bewegungen dazu zwingen werde, den Kampf aufzugeben, um Gnade zu bitten und sich wieder in das zivile Leben zu integrieren. Diese Annahme, vermutlich in der Hoffnung formuliert, nach dem Ende des Ost-Westkonfliktes durch Entzug externer Unterstützung, kämpfende Bewegungen unter Kontrolle bekommen zu können, hat sich als völlig illusorisch erwiesen. Vielmehr hat sich gezeigt, daß zum Kampf entschlossene Bewegungen häufig bei Versiegen einer Quelle (zum Beispiel der Hilfe von Verbündeten von außen) schnell auf andere „Finanzierungsformen„ umsteigen. Oftmals hat dies jedoch noch härtere Formen der Auseinandersetzung und Unterdrückung der Bevölkerung in den Kriegsgebieten zur Folge.

Herbert Wulf
Bonn

David Chandler:
Bosnia. Faking Democracy After Dayton
London, 1999
Pluto Press, 249 S.

The signing of the Dayton Peace Agreement in Paris on the 14th of December 1995 marked the official end of the war in Bosnia-Herzegovina. David Chandler points out the innovative character of this agreement: it not only establishes the terms for an ending of the hostilities, but also largely prefigures the post-war order in Bosnia. More importantly, however, the Dayton Treaty has granted the “international community” far-reaching competencies in the process of post-war settlement. Against this backdrop, Chandler focuses his research on one major aspect associated with the Dayton Agreement, namely, democratisation.

During the 1990s democratisation evolved, as Chandler points out in the first chapter of his book, to a highly ideological issue upon which the West could build its various interventionist schemes regarding the transformation process of post-socialist societies. The author stresses that there has been a shift in the semantics. That is to say, emphasis is no longer placed upon democracy as an institutional arrangement, but rather on democratisation as a process of democratic consolidation. At the same time, the criteria with which its progress is evaluated have shifted from the establishment of institutional procedures to the credible incorporation of democratic values. Chandler states that Western intellectuals and policy-makers have been highly suspicious upon the ability of Eastern European societies to actually achieve this aim, since democratic values were alleged to be alien to their culture. The West has drawn its political legitimacy to intervene in the affairs of these societies building upon the issue of democratisation, which throughout the nineties became a leading issue for the politics of the international organisations. For Bosnia in particular, the conflict was put in terms of an ethnic culture opposing liberal democracy, a conflict where democracy failed. The West was thus to assume a responsibility Bosnian political leaders, considered as defenders of this ethnic culture, were not able to assume.

In the second chapter Chandler details the content of the Dayton Peace Agreement and of its annexes regarding democratisation. The ensuing three chapters are devoted to its implementation. Chapter three more specifically looks at the process of institution building encompassing the division of power along ”ethnic lines”. Chapter four focuses on the establishment of political pluralism. Here Chandler analyses in particular the issue which was made of seeking to grant human and minority rights. Chapter five focuses on the international regulation of the media. Chapter six is devoted to civil society building, with a focus on the promotion of NGOs and citizens’ groups.

The author points out the mixed record of out-side imposed democratisation. International involvement which was actually conceived as transitional has become a permanent feature of the Bosnian reality. The mandates of the international bodies, like the OSCE and the Office of the High Representative, have been considerably extended and prolonged. The democratisation initiatives of the ”international community” have accordingly lead to less democracy as international bodies took non-compliance to their expectations as a legitimisation to simply impose more and more decisions. Self-government as a result today seems much further away from Bosnia than it was at the out-set.

As public reactions towards the military intervention of the Western alliance in the Kosovo conflict demonstrated the alleged humanitarian nature of international interventions is today barely questioned. Quite paradoxically it seems that, above all, the pacifist movement more and more become to indiscriminately perceive international institutions as defenders of universal moral values. There it is the merit in Chandler’s attempt not only to question the alleged disinterested character of this engagement, but also its seeming benefits. The author is basically critical about the role of the ”international community” in Bosnia, which is in itself an important contribution, since it is such a rarity. As a matter of fact, the views in democracy theory and international relations which he exposes in the first chapter have largely influenced Western thinking about international intervention. Reading his narratives, one will inevitably share his conclusion which is to basically query the Western approach. Not only does it quite often appear as highly deliberate as is to selectively promote groups within the Bosnian society which are broadly in favour of the Western project. One will further indeed doubt how an approach that withdraws itself from public accountability and public scrutiny might be suited to promote democratic values. Chandler furthermore challenges the common view of the Bosnian society as one which is exclusively dominated by an ”ethnic” thinking and inclined to nationalist resentments. He points out at the difficult economic situation characterised by dramatically high levels of unemployment as well as the slow progress of reconstruction as major reasons for the pre-existing tensions.

Regarding the accuracy with which Chandler retraces the different processes and procedures, there seems to be a limited scope of his analysis. To be sure, he confines to the Dayton Agreement and its implementation in the areas of democratisation and civil society building. Reference to the situation in Bosnia is made only occasionally, mostly in an implicit way. A reader who is not familiar with recent Bosnian developments will find it difficult to situate many issues of the book.

Rather than adding an encyclopaedic chapter this topic could have been addressed through documenting the views of the Bosnian population’s and its elites on the politics of the international bodies in their country. This would indeed go much in the sense of Chandler’s writings as he repeatedly points out that the interventions of the international community fail to take into account the concerns and opinion of the Bosnian population. However, which these might be, is left to speculation, as the issue is not dealt with in the book.

This leads to another question which is not addressed though implicitly raised: Is an international intervention necessary to secure political stability in Bosnia? Of course, to criticise the current practice as Chandler does, does not entail, that one has to provide alternative solutions. However, regarding statements such as, that an international engagement upon certain limits might turn out counterproductive or create a culture of dependency, a reader might wonder which these limits are. On one occasion Chandler asserts that the situation in the country would not justify the maintenance of an international presence. It is of course difficult to establish the counterfactual proof. However it is also clear that the factors which lead to the war are far from being removed. Above all the country’s integrity, perhaps more than ever, appears to be menaced. Though Chandler’s point of view remains vague one may, through his occasional remarks, find that he understates the conflictivity of the situation in Bosnia. This however does not a justify a carte blanche for international interference in the country’s affairs.

Arguably there are choices to be made and one may discuss to what extent these issues are essential to the theme of the book. Still it seems to me that Chandler fails to comprehensively address a central question which is, why does the international community maintain its engagement in Bosnia, if the results appear as that meagre. According to Chandler the representatives of the international institutions engaged in Bosnia have developed a two-fold argument: They acknowledge the limited character of the achieved progress, but at the same time warn, that it would completely fade, if efforts were not continuously pursued. After a confrontation of two basic positions in the international debate between opponents and proponents of an international engagement in chapter seven, it is only the last chapter where the author finally raises the motives for international intervention. Chandler proceeds from the standpoint of American foreign policy, ensuing however with its relevance for the European Community and for the NATO, to point out that international intervention in Bosnia has been essential for offering a framework for international co-operation. In the post-cold war era it would have permitted international institutions to redefine their role and thus relegitimate their existence. The alleged humanitarian character of the international mission in Bosnia would have been central to achieve this aim. A more careful development of this issue might have lead to more succinct conclusions upon the premises of the international presence in Bosnia. While the instability in the Balkan region has certainly offered an opportunity for the international actors to evaluate the new post-cold war power balance among themselves and in doing so has set the framework for further common undertakings, it nonetheless appears that for the EU and the NATO security concerns have been central to their engagement. Also is international intervention as the Kosovo conflict again proved a highly conflictive issue. As a matter of fact, pushed to the extremes, Chandler’s argument appears as circular: international intervention in Bosnia is to create the basis for future international intervention.

There is one aspect where Chandler has been obviously mistaken, a position which he has implicitly revised in a recent article in the May-June issue of the ”new left review”, and which is probably the very point from which his book might bow receive the biggest attention: Indeed in his book he assumed that the protectorate-like character of present day’s Bosnia would be rather a by-product of the high international presence and that it would not indicate that similar forms would be established in other countries of the region. Quite on contrary, the increased involvement Bosnia would make a comparable engagement in other countries or a direct intervention in the Kosovo more unlikely. As a matter of fact with the escalation of the Kosovo conflict the Bosnian experience has evolved to a precedent regarding numerous issues including democratisation and institution building. Drawing on ”lessons learned from Bosnia” the UN Security Council resolution on peace-settlement in Kosovo does not fix any term to the international mission in the province. A date for first elections to take place has not even been advanced. Critical observers moreover expect that whole Southeast Europe will be turned into an international de facto protectorate.

Despite its limited scope “Bosnia: Faking Democracy After Dayton” is a highly recommendable and urgent reading for anybody concerned about the recent developments in South-eastern Europe or interested in new forms of international policy-making. The present process of post-conflict settlement in Kosovo indeed indicates that Bosnia is about to loose its exceptionality. This only enhances the relevance of critical accounts of the Bosnian experience.

Karin Waringo
International Relations Department
University of Amsterdam

Peter Wittschorek (Hg.):
Agenda 2000. Herausforderung an die Europäische Union und an Deutschland
Baden-Baden 1999
Nomos Verlagsgesellschaft, 403 S.

Dieser Sammelband ist Produkt eines Diskussions- und Forschungsprozesses am Zentrum für Europäische Integrationsforschung in Bonn. Das Zentrum ist ein an die Universität Bonn angegliederter think tank, der zur Stärkung der internationalen Position Bonns nach dem Umzugsbeschluß von Parlament und Regierung eingerichtet wurde. Seit seiner Gründung hat er eine rege Veranstaltungs- und Publikationstätigkeit entfaltet, die sich häufig um Forschungsaufenthalte, Besuche und Vorträge ausländischer Gäste rankt.

Ähnlichen Quellen ist auch „Agenda 2000“ entsprungen. Die Beiträge reichen von wohlrecherchierten wissenschaftlichen Analysen mit Fußnotenapparat und Tabellen bis zu Redetexten von Politikern oder Verbandsvertretern. Dabei tummelt sich unter den Autoren allerlei Prominenz, vor allem aus der deutschen Politik. Neben und nach dem damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Santer sind u.a. Heidemarie Wieczorek-Zeul, Werner Hoyer, Markus Meckel, Ulrich Irmer vertreten. Auch die Akademiker zählen zu den bekanntesten auf dem Gebiet der Osterweiterung. Zwei der wissenschaftlichen Beiträge sind in Englisch, der Rest in deutsch. Im Anhang findet der Leser eine 120 Seiten starke Dokumentation einschließlich der gesamten Agenda 2000.

Diese Mischung analytischer und politischer Artikel hat ihre Vor- und Nachteile. Einerseits erhält der Leser eine vielseitige Information, bei der die Überlegungen der EU-Kommission von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet werden. Andererseits wiederholt sich auch vieles - vor allem im letzten Abschnitt, der sich der deutschen Sicht widmet. Was fehlt, wäre eine direkte Konfrontation der gegensätzlichen oder doch unterschiedlichen Positionen, die der Leser im Kopf vollziehen muß.

Dabei vertreten die Randgruppen oft die interessantesten Positionen. Die Beiträge aus dem deutschen Bauernverband (Helmut Born) und aus spanischer Sicht (Fernando Carderera Soler) legen den Finger auf die Wunden, die die Kommissionsvorschläge am corpus ihrer Interessen hinterlassen haben. Sie lassen den Leser ahnen, mit welchen Widerständen jede Reform der Agrar- und Strukturpolitik rechnen muß.

In der Gesamtschau erhält man einen guten, wenn auch etwas redundanten Überblick über die Probleme der Agenda 2000. Ein ganzer Abschnitt mit fünf Beiträgen zur institutionellen Reform geht sogar über den thematischen Bereich der Agenda hinaus, die diese Fragen ja einer Regierungskonferenz überlassen hat. Bei der Gliederung würde man erwarten, daß der Strukturpolitik der gleiche Stellenwert wie der Agrarpolitik eingeräumt wird. Sie versteckt sich jetzt hinter den wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. Aber ein Index erleichtert den Zugang auch zu Themen, die im Inhaltsverzeichnis nicht direkt ersichtlich sind.

Michael Dauderstädt
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

 

Patrick Ziltener
Strukturwandel der europäischen Integration.
Die Europäische Union und die Veränderung von Staatlichkeit
Münster 1999
Westfälisches Dampfboot 1999, 272 S.

Seit die Europäische Gemeinschaft mit dem Abschluß der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahr 1985 den Ausweg aus der Eurosklerose fand und sich fortan dynamisch fortentwickelte, wuchs das zunächst mäßige Interesse der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum an den Prozessen, die sich dort abspielten und immer deutlichere Spuren in den Mitgliedstaaten hinterließen. Selbst dem Spezialisten ist es mittlerweile unmöglich, den Überblick über die Literatur zum Thema „Europäische Integration„ zu behalten. In zahlreichen Integrationstheorien (z. B. neofunktional, föderal, intergovernmental, transaktional, flexibel, Fusionsthese, Mehrebenensystem, Triadenkonkurrenz) wird nach Erklärungen gesucht, welche Kräfte den Integrationsprozeß antreiben, in welche Richtung sie ihn lenken und welches Ergebnis an seinem Ende stehen könnte oder sollte.

Vor dem Hintergrund einer kundigen Darstellung dieser Theorien kommt Ziltener zu der Formulierung seiner These, „dass europäische Staatlichkeit nicht aus sich selbst heraus erklärt werden kann„ (78). Ihm geht es statt dessen um „eine Neuinterpretation des europäischen Integrationsprozesses, die an Theorien des diskontinuierlichen Wandels von Staatlichkeit anknüpft„, um „bisher zu wenig beachtete Voraussetzungen für den Integrationsschub der letzten 15 Jahre„ zu benennen. Diese erkennt Ziltener im „qualitativen Umbau der Integrationsweise in den 80er und 90er Jahren„ (Klappentext).

Ziltener beschreibt zutreffend, daß Begriffe der Allgemeinen Staatsrechtslehre ebensowenig auf die Europäische Gemeinschaft angewendet werden können, wie die des Internationalen Rechts oder der Internationalen Politik. Weil sie eigene Institutionen besitzt, die zu autonomen Handeln fähig sind, kommt der EG eine staatsähnliche Qualität zu (Kap. I).

Um nun, wie angedeutet, „Theorien des diskontinuierlichen Wandels an Staatlichkeit„ sinnvoll auf den europäischen Integrationsprozeß anwenden zu können, begründet Ziltener, warum die die Ökonomie betonenden Theorien insgesamt zu kurz greifen, insofern aber doch nützlich sind, als sie „das Theorem der notwendigen Deckungsgleichheit von Akkumulations- und Regulationsraum“ und das Denken von Staatlichkeit als ‚keynesianischer Staatlichkeit‘„ ermöglichen (44).

Dies bildet den Ausgangspunkt für die Beschreibung der Integration in zwei Phasen. In den fünfziger und sechziger Jahren habe sich die Gemeinschaft „komplementär zur nationalstaatlichen Regulation in Westeuropa„ verhalten (Monnetsche Integrationsweise (200)), in den achtziger und neunziger Jahren ihre Funktion aber grundlegend gewandelt (wettbewerbsstaatliche Integrationsweise (200)) und sich zur „strategisch wichtigen Ebene der Veränderung von Staatlichkeit in Europa„ entwickelt (44).

Staatlichkeit ist im Verständnis Zilteners Regulation: Korporatismus, Pluralismus, Fordismus, Keynesianismus, Wohlfahrtstaat etc. Es handelt sich um verschiedene Konzepte der Staatstätigkeit, die in den europäischen Staaten in unterschiedlichen Perioden, aber auch zeitgleich vorwaltend waren und den diskontinuierlichen Wandel von Staatlichkeit unter Beweis stellen, der auf europäischer Ebene als „Umbau der Integrationsweise„ (82) zu Tage tritt.

Die Krise 1965/66 sei nicht „‘Strukturbruch‘ europäischer Staatlichkeit„ gewesen, sondern im Hinblick auf die Ziele der Akteure eine folgerichtige Reaktion auf die Supranationalisierung und die Eigengesetzlichkeit des neo-funktionalen Integrationsprozesses. Somit sei die Krise „eigentlich der ‚Gipfelpunkt‘ der westeuropäischen Integration in der Zeit keynesianisch-korporatistischer Staatlichkeit in Westeuropa„ (125) gewesen.

Die siebziger Jahre waren dementsprechend eine Zeit der Renationalisierung, in der der Intergovernementalismus dominierte. Dieser Weg führt in die Sackgasse. Für das Überleben des europäischen Projekts war der „Umbau der Integrationsweise„ (132ff) daher unausweichlich.

Die Währungspolitiker übernahmen von den Wirtschaftspolitikern das Regiment, und zeitgleich übernahmen die Industriellen durch den Zusammenschluß in einem Roundtable of European Industrialists eine aktive Rolle in der Formulierung der politischen Agenda, die im Abschluß der EEA mündete. Die Methode der Wirtschaftspolitik änderte sich, indem a) die Harmonisierung mittels Schaffung europäischer Standards durch b) die Marktschaffung mittels gegenseitiger Anerkennung nationaler Standards abgelöst wurde. Zudem wurde sie auf andere Bereiche, insbesondere die Finanzmärkte, ausgedehnt (140). Die „regulatorische Konkurrenz„ wurde „normative Theorie und Verfassungsgrundsatz„ (160), der das Konzept einer kompetitiven Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik zugrundelag. Sie sollte die Strukturanpassung ermöglichen, die die interventionistische sektorale Politik der Vergangenheit nicht hatte leisten können (169ff). Das betreffe auch den Wohlfahrtsstaat. Dessen legitimitätsfördernde Maßnahmen würden, so Zilteners weitreichende Behauptung, dem Nationalstaat entzogen, so daß er in eine Legitimationskrise gerate (204). Dafür charakteristisch sei die Verbreitung „verhandlungsorientierter institutioneller Formen auf allen staatlichen Ebenen„, durch die die Ökonomie gegenüber der Politik gestärkt werde (205).

Auf diese Weise entwickelte sich die europäische Ebene zu einer eigenständig agierenden „zentralen Schnittstelle„, die „wichtige Funktionen ... bei der Veränderung von Staatlichkeit in Europa„ übernimmt (202). Dies wiederum hat die „Konvergenz staatlicher Formen und Regulierungen in Europa„ zur Folge (206), weil die „europäische Integration auch als strategische Ebene in den politischen Auseinandersetzungen um den Staatsumbau auf nationaler Ebene„ dient (208).

Strukturwandel der europäischen Integration erweist sich folglich als doppelgesichtig. Sie ist der Wandel in Europa und gleichzeitig in den Einzelstaaten.

Zilteners anspruchsvoller Untersuchung gelingt es, den europäischen Integrationsprozeß auf griffige Formeln zu bringen und auf ein einleuchtendes Konzept zurückzuführen. Um dies erreichen zu können, muß er den Primat der Ökonomie jedoch überpointieren.

Dies verweist auf eine wohl unvermeidliche Verengung des Blickwinkels solcher Untersuchungen. Bei Ziltener sind Europa und Staat nur Wirtschaft. Entlarvend ist die Formulierung, die „regulatorische Konkurrenz„ sei „normative Theorie und Verfassungsgrundsatz„ (160). Der Staat als Rechtsschutzinstanz und Arena des sozialen und politischen Interessenausgleichs kommt allenfalls als abgeleitete Funktion der Wirtschaft vor.

Juristische Vorstellungswelten können jedoch einen beträchtlichen Eigensinn entwickeln und den Integrationsprozeß entscheidend beeinflussen. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zeigt, daß nicht allein ökonomische Interessen über die Deckungsgleichheit von Regulations- und Akkumulationsraum entscheiden, sondern Fragen wie Volkssouveränität, Demokratieprinzip und Gewaltenteilung bei der Entwicklung zu einer politischen Union Europas ebenfalls zu lösen sind.

Stefan Schieren
Magdeburg

Marcus Höreth
Die Europäische Union im Legitimationstrilemma
Zur Rechtfertigung des Regierens jenseits der Staatlichkeit
Baden-Baden 1999
Nomos, 387 Seiten

Wie weitreichend die Politik der europäischen Ebene auf die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wirkt, ist nicht zuletzt durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Kreil vom 11. Januar 2000 schlagartig deutlich geworden. Auf der Grundlage einer europäischen Richtlinie müssen Frauen, so das Urteil der europäischen Richter, zum Dienst in der Bundeswehr zugelassen werden, obwohl deutsches Recht dem entgegensteht.

Diese auf jeden Bürger unmittelbar durchgreifende Wirkung der europäischen Normsetzung wirft eine Frage auf, die zu den Klassikern jeder politikwissenschaftlicher Beschäftigung gehört: Aufgrund welcher Legitimität agiert die Europäische Union in staatlicher Funktion, ohne über eine, zumindest eigene, Staatlichkeit zu verfügen?

Marcus Höreth hat sich in seiner Freiburger Dissertation von 1998 diesem Thema gewidmet und festgestellt, dass sich die EU in einem Legitimationstrilemma befinde. Eine Reihe von Stärken zeichnet das Buch aus:

Der interdisziplinäre Ansatz: Höreth bezieht sowohl Fragestellungen und Methoden der Rechts- als auch der Politikwissenschaft ein. Vor diesem Hintergrund wäre es ungerechtfertigt, den Autor mit Spitzfindigkeiten aus einer der beiden Wissenschaften zu konfrontieren. Sicher ist der Gebrauch des Souveränitätsbegriffs (S. 14) problematisch, doch bleibt zu bedenken, dass es sich dabei um „conceptually forbidden territory„ (Jonathan Clark) handelt, auf dem jeder, der sich auf ihm bewegt, verunglücken kann. Auch die Verwendung des Begriffs „Verfassung„ lieferte Grund für kontroverse Betrachtungen.

Der klare Aufbau der Arbeit: Der Autor klärt zunächst, ob die Legitimationsfrage im Zusammenhang mit Europa überhaupt relevant ist, was er bejaht. Darauf folgt eine ausführliche und kundige Erörterung der Frage, ob die EU an einem Demokratiedefizit leidet. Höreth gesteht zwar zu, dass diese These „in verschiedenen Varianten zu einem kanonisierten Faktum im Standardrepertoire der rechts- und politikwissenschaftlichen Integrationsforschung„ (41) geworden sei, erklärt aber gleichzeitig, dass dadurch die Relevanz der Frage keinerlei Beeinträchtigung erfahre. In der Tat sei ein erhebliches Legitimationsdefizit der EU zu beklagen.

Um diese zentrale Ausgangsvermutung zu begründen, unterscheidet Höreth in sinnvoller Weise zwischen politisch-institutioneller und struktureller/sozio-kultureller Legitimität. Jene wäre durch eine Anpassung der Institutionen an die gewandelten Bedingungen der europäischen Integration grundsätzlich herzustellen. Diese hingegen kann nur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sein, an dessen Ende die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit mit einem europäischen Staatsbürger steht. Allein diese Beschreibung macht das Ausmaß des Problems deutlich, das es zu bewältigen gilt, soll die Legitimität europäischer Politik gestärkt werden.

Um dem komplexen Geschehen Übersichtlichkeit zu verleihen, unterscheidet Höreth zwischen drei Modellen der Legitimationsbeschaffung: Legitimation durch Einbeziehung und Transparenz (Input), Legitimation durch Effizienz der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung (Output) und soziale Legitimation. In detaillierter Weise diskutiert Höreth die in der Diskussion befindlichen Konzepte zur Stärkung der Legitimation, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass keine der „drei gegenwärtig in Wissenschaft und Politik diskutierten ‚metapolitischen’ Reformansätze zur Stärkung der Legitimität der EU Erfolg„ verspreche (22). Höreth hat sich daher selbst die Aufgabe gestellt, ein leistungsfähigeres Konzept zu entwickeln. Dieses Versprechen löst er aber letztendlich nicht wirklich ein. Ungeachtet einer kenntnisreichen Darstellung der wissenschaftlichen Diskussion gelangt Höreth nicht wesentlich über die Aussage hinaus, dass kein grosser Entwurf, sondern allmähliche Anpassung die angemessene Herangehensweise sei. Dabei stehen Popper („piecemeal social engineering„) und Scharpfs Arbeiten Pate.

Eine weitere Beeinträchtigung ist, dass Höreth das Legitimationsproblem auf eine Weise diskutiert, als stelle es sich in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union unabhängig von der jeweiligen staats- und verfassungsrechtlichen Tradition in gleicher Weise dar, so dass es keiner weiteren Erörterung bedürfe, ob die deutsche Diskussion als allgemeingültiger Fall gelten könne.

Es würde ohne Zweifel eine Überforderung darstellen, von einem Einzelnen zu verlangen, die Probleme der Rechtfertigung des Regierens jenseits der Staatlichkeit im Vergleich der fünfzehn Mitgliedstaaten zu diskutieren. Doch hätte es eines Hinweises Höreths bedurft, dass seine Arbeit eine deutsche Perspektive hat. Weil er dies versäumt, entsteht, möglicherweise ungerechtfertigt, der Eindruck, dass Höreth eine allgemeingültige Darstellung der Legitimationsprobleme in der Europäischen Union vorgelegt habe, was nicht der Fall ist. In Großbritannien beispielsweise stellt sich die Frage nach der Legitimation europäischen Regierens anders als in Deutschland, was sowohl auf nationale Rechtstraditionen wie konkrete Verfassungskonstruktionen zurückzuführen ist. Rechtsstaatlichkeit und politische Verantwortlichkeit sind wichtige Faktoren zur Herstellung der Legitimation von Herrschaft in modernen demokratischen Verfassungsstaaten. Das gilt auch in Großbritannien hinsichtlich der „Rule of Law„ und der „accountability„. Doch sind diese in Großbritannien anders zu verstehen als im deutschen Diskussionszusammenhang die Begriffe „Rechtsstaatlichkeit„ und „Verantwortlichkeit„. Das bedeutet aber, dass in Großbritannien das Regieren jenseits der Staatlichkeit unter anderen Begriffen diskutiert wird als in Deutschland. Das hätte der Autor deutlich machen müssen.

Diese Einschränkungen sollten aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Höreth ein gut lesbares Buch geschrieben hat, das den Leser kenntnisreich an eine Kardinalfrage der europäischen Integration heranführt. Es ist daher als gelungener Beitrag in der Debatte zu verstehen

Stefan Schieren
Magdeburg

 

OECD
EMU - Facts, Challenges and Policies
Paris 1999
OECD, 212 S.

Die kurze Geschichte des Euro hat manche Befürchtungen seiner Gegner bestätigt. Der nach kurzem euphorischen Start im Januar dieses Jahres seit dem März deutlich gefallene Wechselkurs gegenüber dem Dollar wurde als Einstieg in eine Schwachwährung interpretiert. Der langsam einsetzende Aufschwung der europäischen Konjunktur hat zu divergierenden Wachstumsraten selbst zwischen den Kernstaaten des Euro-Gebiets geführt, die eine einheitliche Zinspolitik erschweren, ohne daß die Arbeitslosigkeit schon nennenswert gesunken wäre. In europaweiten Umfragen nach den Prioritäten der europäischen Politik rangiert die gemeinsame Währung auf den hinteren Plätzen. Die enttäuschende Beteiligung an der Europawahl wurde denn auch als Zeichen dafür gesehen, daß die unzureichend vorbereiteten Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten dem Euro die kalte Schulter zeigen.

Mit dem vorliegenden Buch hat die OECD im März 1999 eine kompakte Stellungnahme zur Einführung des Euro vorgelegt, die von den enormen Risiken dieses in der Tat historisch weitreichenden Schritts ausgeht, ohne in prinzipielle Skepsis über seine Erfolgschancen zu verfallen. Die Verknüpfung der einschlägigen theoretischen Literatur mit dem relevanten empirischen Material (bis November 1998) führt zu einer Reihe systematischer Überlegungen, die über kurzfristige Wechselkurs-Betrachtungen und politische Stimmungen hinausweisen.

Kapitel I bilanziert die enttäuschende wirtschaftliche Entwicklung des Euro-Raums seit Beginn des letzten Jahrzehnts: die fatalen Folgen des internen asymmetrischen Schocks der deutschen Einheit für das europäische Zinsniveau; auf ein historisches Tief gesunkene öffentliche Investitionen; ein durchschnittliches jährliches Wachstum zwischen 1990 und 1997 von nur 0,7 Prozent und den Verlust von 3,5 Mio. Arbeitsplätzen. Diese Bilanz wirkt umso ernüchternder, wenn man sie mit den im Cecchini-Report zu Anfang des Jahrzehnts prognostizierten Wachstums- und Beschäftigungseffekten des 1993 vollendeten Binnenmarkts kontrastiert.
Allein dies könnte allzu optimistische Hoffnungen in die Einführung der Gemeinschaftswährung dämpfen. Gleichwohl setzt die OECD die potentiellen dynamischen Effizienz-Gewinne aus der Einführung des Euro eher höher an als der 1990 erschienene Bericht der Europäischen Kommission ‚Ein Markt – eine Währung‘. Größere Preistransparenz, die Vertiefung der Kapitalmärkte und strukturelle Reformen könnten demnach eine erneute Wachstumsdynamik induzieren, sofern die existierenden Kanäle zur wirtschaftspolitischen Koordination nur entschieden genutzt werden.

Hier beginnt freilich das im II. Kapitel thematisierte, noch weitgehende unbekannte Terrain der künftigen europäischen Wirtschaftspolitik: Wie läßt sich eine gemeinschaftliche Geldpolitik mit weiterhin im nationalen Rahmen betriebenen Steuer- und Haushaltspolitiken vereinbaren? Angesichts der erfolgreichen Konvergenzpolitik im Vorfeld des Euro halten die Autoren den institutionellen Rahmen der Europäischen Zentralbank und den Verpflichtungscharakter des Stabilitäts- und Wachstumspakts für ausreichend. Eine Reihe von Problemen verlangten dagegen höhere Aufmerksamkeit: Zum ersten ist der Transmissionsmechanismus der europäischen Geldpolitik, über den sich Zinsentscheidungen der EZB in recht unterschiedlich funktionierende nationale Kontexte hinein umsetzen, noch weitgehend unbekannt. Zum zweiten müßte eine längerfristig angelegte Fiskalpolitik den anstehenden demographischen Veränderungen Rechnung tragen und zugleich konjunkturpolitische Spielräume gewinnen: Entgegen dem liberalistischen common sense könnte dies Steuererhöhungen erfordern (S. 80ff.). Zum dritten ist offen, wie verhindert werden könnte, daß die Steuerkonkurrenz zwischen den Ländern der Euro-Zone allein zu Lasten der Besteuerung von Arbeit ausgeht.

Die beiden folgenden Kapitel sind zwei weiteren Problemen gewidmet. Kapitel III klassifiziert verschiedene Arten asymmetrischer Schocks, die sich in den Regionen bzw. Ländern des Euro-Gebiets unterschiedlich auswirken können. Temporäre oder dauerhafte, nachfrage- oder angebotsseitige Schocks erfordern demnach spezifische wirtschaftspolitische Reaktionen. Die verbreitete Vorstellung, daß die zunehmende sektorale und regionale Integration der europäischen Wirtschaft die hier lauernden Gefahren von sich aus entschärfen könnte, wird zurückgewiesen. Auch wenn die Handelsverflechtungen, der intra-industrielle Handel, die Unternehmensfusionen und die Interaktion der Finanzmärkte im Europa der letzten 20 Jahre beträchtlich zugenommen haben, bestehen weiterhin beträchtliche nationale Unterschiede im Marktzugang, der Subventionspraxis und nicht zuletzt in der Umsetzung europäischen Rechts. Zudem könnte mit zunehmender Integration eine steigende regionale Spezialisierung einher gehen, welche die Anfälligkeit für asymmetrische Schocks eher erhöht.
Prinzipiell wäre es denkbar, solche Divergenzen durch die Aufstockung des gemeinsamen Haushalts der EU zu kompensieren – wie etwa im fiskalischen Föderalismus der USA oder Kanadas der Bundeshaushalt bedeutende Stabilisierungsfunktionen übernimmt. Die Autoren des Berichts zweifeln jedoch am einheitlichen politischen Willen der beteiligten europäischen Regierungen und halten einen höheren Dezentralisierungsgrad für wahrscheinlich und zugleich erstrebenswert. In dieser Hinsicht folgen sie dem orthodoxen Verständnis der Theorie optimaler Währungsräume und delegieren die Absorption von Schocks an flexibilisierte Produktionsfaktoren, insbesondere an die europäischen Arbeitsmärkte, denen das umfangreichste IV. Kapitel gilt.

Hierin werden zunächst die unterschiedlichen Dimensionen von Arbeitsmobilität begrifflich und empirisch untersucht - um das bekannte Ergebnis zu bestätigen, daß die regionale und erst recht die überstaatliche Wanderungsbereitschaft in der Euro-Zone geringer ist als in den angelsächsischen Ländern. Die Gründe sind schnell benannt: neben kulturellen und sprachlichen Barrieren sind dies unterschiedliche soziale Sicherungssysteme und Wohnungsmärkte. Das präsentierte empirische Material ist informativ, aber nicht überraschend. Aufschlußreicher sind die aus ihm begründeten Perspektiven für die von der OECD präferierte Lohn- und Einkommenspolitik (S. 156ff.). Anders als naive Marktliberalisten unterstellen, hängen beschäftigungspolitische Erfolge unter den Bedingungen des Euro nämlich nicht schlicht von der Deregulierung der Arbeitsmärkte ab, sondern von einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik, für deren Aushandlung eher starke als schwache gewerkschaftliche Akteure erforderlich sind
(S. 164). Diese These und die Übersicht über einkommenspolitische Maßnahmen und tripartistische Arrangements in den Euro-Ländern verweisen auf einen Kontext, der in der Regel von jenen vernachlässigt wird, die den Euro als Befreiungsschlag gegen die Gewerkschaften begrüßen.

Wie viele andere Themen wird auch dieser Zusammenhang im vorliegenden Bericht nur knapp angerissen. Trotz des knappen Raums hätte man sich allerdings gewünscht, daß die Kooperationserfordernisse der europäischen Wirtschaftspolitik nicht in erster Linie negativ, als solche der Markterweiterung bestimmt (z.B. S. 83ff. u. S. 115), sondern auch als political spillovers der Währungsunion in andere Politikbereiche ernst genommen werden.

Klaus Müller
Freie Universität Berlin

 

Shlomo Shafir:
Ambiguous Relations. The American Jewish Community and Germany since 1945
Detroit 1999
Wayne State University Press, 508 S.

Zwei Dinge frappieren den deutschen Leser bei der Lektüre dieses wichtigen Buches: Wie tief bei den amerikanischen Juden aufgrund des Holocaust die Abneigung gegen alles Deutsche sitzt und wie die Führung der verschiedenen jüdisch-amerikanischen Organisationen trotz allem sich zu einer realpolitisch begründeten Verständigung mit Deutschland sich schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt durchgerungen hat; und wie – quasi spiegelbildlich dazu – in Deutschland sich hartnäckig antisemitische Vorurteile halten, hingegen die politische Führung – ebenfalls aus Gründen der Realpolitik – sich schon frühzeitig um Kontakte zum amerikanischen Judentum bemühte und eine betont Israel-freundliche Politik betrieb. Denn von Anbeginn an spielte Israel im Verhältnis der Deutschen zum amerikanischen Judentum eine wichtige Rolle: für die amerikanischen Juden galt es, dem jungen Staat Anerkennung und Unterstützung zu verschaffen, wo und wie immer es ging, und sei es eben um den Preis der Akzeptierung desjenigen Staates in der internationalen Gemeinschaft, der die Nachfolge des verbrecherischen Nazi-Regimes angetreten hatte. Und für die Deutschen war eben jene Anerkennung wichtig, bedeutete sie doch in den Augen der Weltöffentlichkeit eine Art Persilschein für demokratische Gesinnung und zivile Normen, der die Aufnahme in die westliche Allianz voraussetzte und ermöglichte.

So simpel war es natürlich nicht und Shlomo Shafir zeigt im Detail und mit großem Sachwissen, dennoch das große Ganze nicht aus den Augen verlierend, auf welchen Saumpfaden und manchmal auch Irrwegen sich diese „zweideutige Beziehung„ entwickelte. Noch einmal für einen deutschen Leser beeindruckend und bedrückend zugleich, wie rasch sich der entwickelnde westdeutsche Staat aus seiner moralischen Verantwortung für die Vernichtung des europäischen Judentums stahl, wie wenig Interesse bis in die sechziger Jahre hinein an einer Auseinandersetzung mit diesem Verbrechen bestand und wie stark schon bald wieder die alten ökonomischen und sozialen Eliten die höchsten Ränge in Staat und Gesellschaft einnahmen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den kurz nach der deutschen Kapitulation ausgebrochenen „Kalten Krieg„, der in den USA die „realpolitischen„ Befürworter einer Integration Westdeutschlands in das westliche Verteidigungssystem schon bald die Oberhand gewinnen ließ über die Vertreter einer moralisch orientierten Außenpolitik, die zuerst die Bestrafung der Schuldigen, die Entschädigung der Opfer und die demokratische Erziehung der Deutschen forderten. Zu letzteren gehörten natürlich die amerikanisch-jüdischen Organisationen, die der Kalte Krieg und die nationalen Interessen ihres Landes, wie sie von der Regierung gesehen wurden, vor ein Dilemma stellten, das schließlich zu einer Spaltung des amerikanischen Judentums in „Realisten„ und „Moralisten„ führte (daß die amerikanischen Juden ohnehin in Zionisten und Anti-Zionisten gespalten waren, trug zu einer Verschärfung der Gegensätze bei).

Das einflußreiche „American Jewish Committee„ (AJC) stand an der Spitze derjenigen, die am frühestens zu Kontakten mit Deutschland bereit waren und die für den Aufbau eines demokratischen, von Nazis gesäuberten Staates eintraten, der zudem die jüdischen Opfer entschädigen und zugleich auch den neu gegründeten Staat Israel unterstützen sollte. Bei diesen Forderungen kam dem AJC und anderen jüdischen Organisationen eine Ironie der Geschichte zugute: die von den Nationalsozialisten verbreitete Mär von der Herrschaft des Weltjudentums steckte auch in den halbdemokratischen Nachkriegsköpfen und führte so zu einer zum Teil grotesken Überschätzung des Einflusses der amerikanischen Juden auf die amerikanische Außenpolitik. Dabei weist Shafir in seiner luziden Analyse nach, daß praktisch zu jeder Zeit und unter jeder Administration das nüchtern kalkulierte nationale Interesse der USA dominierte und jüdische Interessen nur insoweit Berücksichtigung fanden, wenn sie in das Bild paßten. Natürlich gab es unterschiedliche persönliche Neigungen und Bewertungen der jeweiligen Präsidenten und ihrer Berater, die einmal mehr, einmal weniger den jüdischen (und israelischen) Interessen entgegenkamen. Doch war die Wahrnehmung der westdeutschen Nachkriegsregierungen nun einmal so und dies führte zu einem starken Werben deutscher Diplomaten um das amerikanische Judentum und trug nicht wenig zu dem Luxemburger Abkommen von 1952 über die deutschen Wiedergutmachungszahlungen an Israel bei. Mit diesem Abkommen und der pro-israelischen Politik Adenauers wuchs die Bereitschaft vieler amerikanischer Juden, Deutschland in der westlichen Staatengemeinschaft zu akzeptieren, auch wenn die Kontakte noch spärlich blieben.

Einen tiefen Einschnitt für das amerikanische Judentum (etwas weniger stark für Israel und mit einiger Verzögerung schließlich auch für Deutschland) bedeutete der Eichmann-Prozeß von 1961. Er führte in der Folge geradezu zu einer „Amerikanisierung des Holocaust„ mit der Konsequenz, daß man sich im amerikanischen Judentum wieder kritischer mit der mangelhaften Vergangenheitsbewältigung der Deutschen auseinandersetzte, zumal die sozial-liberale Koalition in Bonn Israel nicht mehr so bedingungslos unterstützte wie die konservativen Vorgängerregierungen und auch schon einmal vom Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes sprach. Auch hier tut sich eine Ironie der Geschichte auf: den jüdisch-amerikanischen Unterhändlern waren vielfach durch ihre Vergangenheit belastete deutsche Diplomaten und Politiker lieber als durch eine klare anti-Nazi-Haltung ausgewiesene Partner, weil erstere den jüdischen Argumenten leichter zugänglich waren. Dieser von Shafir geschilderte Tatbestand findet seine Entsprechung auf der politischen Ebene, wo man ein durchgängiges, wenngleich vereinfachtes Muster deutscher Nachkriegspolitik gegenüber Israel und dem Judentum feststellen kann: die Konservativen waren vielfach persönlich in das Hitler-Regime verstrickt, wollten nichts von einer Beschäftigung mit der Vergangenheit wissen und lehnten beispielsweise in ihrer großen Mehrheit die Aussetzung der Verjährungsfrist für Nazi-Verbrecher ab; auf der anderen Seite unterstützten sie Israel (auch mit Waffenlieferungen) und leisteten Wiedergutmachungszahlungen, um vor allem von den USA akzeptiert zu werden, aber auch aus der Definition nationaler Interessen im Nahen Osten heraus. Die Sozialdemokraten wiederum hatten fast alle ein weiße Weste, waren sich der moralischen Verantwortung Deutschlands für die Nazi-Verbrechen bewußt und sicherten mit ihren Stimmen die Aussetzung der Verjährungsfrist; aber gleichzeitig waren sie z.B. gegenüber der israelischen Besetzung von Westbank und Gaza viel kritischer und waren auch nicht immer mit der amerikanischen Außenpolitik einverstanden, wie etwa im Golfkrieg.

Dies führt bei vielen Israelis und amerikanischen Juden zu einer etwas unausgewogenen Beurteilung beider politischer Lager in Deutschland, was unter dem Gesichtspunkt des nackten Eigeninteresses verständlich sein mag und dem sich auch Shlomo Shafir nicht ganz zu entziehen vermag, obwohl er selbst Sozialdemokrat und Verfasser eines Standardwerkes über die Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Israel ist. Seine Schilderung aus den Zeiten der sozial-liberalen Koalition erinnert frappierend an die jüngste Vergangenheit, als nach dem Wahlsieg Schröders besorgte Stimmen aus dem jüdischen Lager über das neue Selbstbewußtsein und das „Normalisierungsbestreben„ der rot-grünen Führung zu hören waren. Dem damaligen Bundeskanzler Kohl sah man den „Bitburg-Lapsus„ rasch nach, als er mit US-Präsident Reagan einen deutschen Soldatenfriedhof besuchte, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS bestattet waren; schließlich stand er ja sonst in unverbrüchlicher Treue zu Israel, ein realpolitischer Faktor, der den moralischen Impetus bei den meisten Führern des amerikanischen Judentums in den Hintergrund treten ließ.

Bei der Mehrzahl der breiteren jüdischen Gemeinde in den USA dürfte dies anders sein, wie Shafir schreibt. Dort überwiegt gegenüber Deutschland nach wie vor eine negative Haltung, trotz der in der Zwischenzeit angelaufenen zahlreichen Austauschprogramme, vor allem mittels der deutschen politischen Stiftungen. Die Führungsschicht ist bei allem Dialog bestenfalls ambivalent eingestellt, wobei Israels „praktische Nöte im allgemeinen als mäßigender Einfluß auf die moralische Haltung der amerikanischen Juden einwirkten„. Ähnlich verhält es sich allerdings auch in Deutschland, wie Shafir anhand von Umfrageergebnissen darstellt, wo die Führungsschicht jüdischen Interessen gegenüber weitaus aufgeschlossener ist als das „gemeine Volk„. Gibt es also keinen anderen Weg als die pragmatische Ambivalenz von moralischer Verachtung und realpolitischer Akzeptanz ? Shlomo Shafir, der Holocaust-Überlebende, glaubt, daß die Kluft zwischen amerikanischem Judentum und Deutschen noch mehrere Generationen andauern wird und er mahnt die Deutschen, ja nicht das Kapitel Holocaust schließen zu wollen, wie dies im konservativen Lager manchmal versucht wird, oder etwa den Holocaust lediglich als universales Beispiel für Völkermord hinzustellen, wie dies manche Linke versuchen. Und er erinnert an das Wort des früheren amerikanischen Hochkommissars in Deutschland, McCloy, der meinte, wenn die Deutschen Buchenwald und Auschwitz vergessen hätten, dann müßte man an jeglichem Fortschritt in Deutschland verzweifeln.

Gemessen werden wir Deutschen in jüdischen Augen demnach immer noch in erster Linie an unserem Verhältnis zu unserer jüngsten Vergangenheit. Und daß wir damit immer noch nicht klar kommen, hat die langjährige unselige Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin gezeigt. Shlomo Shafirs Buch ist auch ein Beitrag zu unserem Umgang mit unserer Vergangenheit; es ist zwar ernüchternd, aber allemal heilsam, von Zeit zu Zeit daran erinnert zu werden, daß unsere scheinbare Akzeptanz bei einem Großteil des Judentums in der Welt auf einer sehr brüchigen Grundlage beruht (in Israel dürfte dies etwas anders sein, auch wenn dort ebenfalls noch große Vorbehalte bestehen). Abgesehen davon dürfte Shafirs anregend geschriebenes Buch ein Standardwerk zu diesem Thema werden, dem eine deutsche Übersetzung zu wünschen wäre.

Winfried Veit
Friedrich-Ebert-Stiftung Tel Aviv

 

Pawelka, Peter / Wehling, Hans-Georg (Hrsg.):
Der Vordere Orient an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft
Wiesbaden 1999
Westdeutscher Verlag, 215 S.

Außen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Wandlungsprozesse im Nahen Osten und der Golfregion sind Themen der zehn Beiträge dieses Sammelbandes, der theoretischer Fokus wird im Vorwort mit den Begriffen Petrolismus und Rentierstaatlichkeit konkretisiert. „Petrolismus„ eignet sich zur Analyse der vom Erdölexport geprägten Staatenwelt des Vorderen Orients, deren politische Systeme sich zu einem hohen Prozentsatz nicht aus Steuern, sondern „Renten„ finanzieren: Regime typischer „Rentierstaaten„ stützen sich auf diese dank Ölreichtum zufließenden Einnahmen sowie strategisch bedingte Zuwen­dungen durch andere Staaten. Beispiele für solche „politischen Renten„ sind Militär- und Entwicklungshilfe. Im Ge­gensatz zu Staaten, die ihre Aktivitäten über Steueraufkommen finanzieren und auf die Zustimmung ihrer Bürger angewiesen sind, kann der reine „Rentier„ das Prinzip „no taxation without representation„ vernachlässigen. Rentierstaaten erfüllen gegenüber ihren Bevölkerungen in fürsorglicher Bevormundung eine Art „Sozialvertragsklausel„, wofür sie Legitimität empfangen und Partizipationsverzicht fordern (vgl. auch Pawelka, Peter: Der Vordere Orient und die Internationale Politik, Stuttgart 1993). Die vielfach zu beobachtende Stärkung gesellschaftlichen Protestpotentials in den 90er Jahren läßt sich mit dem Zurückdrängen rentierstaatlicher Wohlfahrtspolitik im Zuge der Strukturanpassungsprogramme erklären, zu denen den meisten Staaten der Region angesichts sinkender Ölexporteinnahmen bzw. Rückganges politischer Renten schließlich keine Alternative blieb.

Markus Loewe arbeitet  in seinem Beitrag „Sozialpolitik im Dienste des Machterhaltes„ heraus, wie sehr die Regierungen im Vorderen Orient Sozialpolitik als Mittel der Legitimationsbeschaffung verstehen, wirtschaftspolitische Erwägungen dagegen vernachlässigt werden. Zwar verfügen die Länder über ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen, doch haben der Rückgang der Ölrente sowie ein hohes Bevölkerungswachstum, verbunden mit aufgeblähten und korrupten Verwaltungsapparaten, Erfolge früherer Dekaden auf den Gebieten Armutsminderung und Gesundheitsverbesserung zunichte gemacht. Einzige Konstante scheint hier der Wille der Regierungen zu sein, sich selbst sowie die wichtigen Stützen Militär und Bürokratie mit Sondersystemen der sozialen Sicherung sowie der medizinischen Versorgung zu alimentieren. Für die meisten jedoch bleibt das reguläre Sicherungssystem ineffizient und intransparent: kein Wunder, daß die Nichtanmeldung zur Sozialversicherung z.B. in kleinen und mittleren Betrieben häufig zu einem gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird. Loewe möchte mehr aufzeigen als nur die sozialpolitischen Gemeinsamkeiten der Region. Mit Hilfe einer Einschätzung der Problemlösungsfähigkeit, die vor allem vom jeweiligen Ressourcenreichtum abhängt, sowie einer Abgrenzung der problemlösungsbereiten Gesellschaften, die noch von einer sozialrevolutionären Ideologie geprägt sind, von traditionellen Regimen (vor allem die Golfstaaten, aber auch Jordanien), entwirft Loewe eine Systematik der Sozialpolitiken im arabischen Vorderen Orient.

Weniger mit Erdölreichtum gesegnete Staaten sind durch Umverteilungsmechanismen und die Wahrnehmung politischer Funktionen in das vom Petrolismus geprägte Staatensystem integriert. Dazu gehören „Semi-Rentierstaaten„ wie z.B. Ägypten. Auch dort stammt ein Groß­teil staatlicher Einnahmen aus Ölexport sowie strategisch motivierten Zuwendungen. Daneben geht jedoch eine bedeutende „indirekte Rente„ an andere gesellschaftliche Kräfte, zum Beispiel in Form von Überweisungen der Gastarbeiter am Golf oder Entwicklungshilfe an nichtstaatliche Organisationen. Solche indirekten Renten können zur Herausbildung zivilgesellschaftlicher Akteure beitragen. - Ferhad Ibrahim befaßt sich mit dem Aufbau von Zivilgesellschaften im Vorderen Orient, in denen sich Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern gesellschaftlicher Probleme annehmen, Staatsdominanz damit zunehmend schwächen sollen. Diesbezügliche Hoffnungen werden nicht nur in westlichen Debatten aufrechterhalten, sondern auch in den betreffenden Ländern kontrovers diskutiert. Selbst ein Gutteil der Islamisten befürwortet eine „authentisch-islamische„ Variante der Zivilgesellschaft. Ob diese Tendenz mit den parallel zunehmenden säkularistischen Ansätzen versöhnt werden kann, ist angesichts der von Islamisten angestrengten Gerichtsverfahren oder gar Anschlägen gegen liberal orientierte Intellektuelle allerdings fraglich. Ibrahim weist zugleich darauf hin, daß sich die Zivilgesellschaft vor allem zu einem Betätigungsfeld für akademische Kreise mit internationalen Kontakten entwickelt hat und z.T. als Mittel der Geldbeschaffung mißbraucht wird.

Die Beiträge des Sammelbandes zeichnen Entstehung und Umbrüche der Rentenökonomien nach und wagen vorsichtige Prognosen. M. Beck und O. Schlumberger unterstreichen, daß die vor allem von den „Semi-Rentiers„ eher widerwillig aufgenommenen Liberalisierungsprozesse nicht zwangsläufig auf die Etablierung einer reinen Marktordnung nach westlichem Vorbild hinauslaufen müssen. Gleichwohl haben nach zunächst verzögerter Strukturanpassung namentlich die Volkswirtschaften Ägyptens und Tunesiens eine Dynamik gewonnen, die für eine mögliche Transformation rentengestützter Ökonomien zu Marktwirtschaften spricht. – Die Ölproduzenten am Golf könnten laut Henner Fürtig ihre Stellung am Ölexportmarkt wieder ausbauen. Angesichts mäßigen Erfolges des Golf-Kooperationsrates sowie steigenden innergesellschaftlichen Konfliktpotentials, u.a. aufgrund der Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften als „Bürgern zweiter Klasse„, bleibt jedoch offen, wie stark die Golfstaaten die weltwirtschaftlich durchaus günstigen Rahmenbedingungen zu ihrem Vorteil nutzen können. Besonders der Wille zu politischen Reformen endet nach wie vor dort, wo Herrschaftsverhältnisse ernstlich in Frage gestellt werden.

Spielen die Staaten des Vorderen Orients ihre „Sonderrolle„ – eine oft diskutierte Renitenz gegen politische Öffnung – eigentlich freiwillig, oder wird ihnen diese aufgrund westlicher Interesssen zumindest partiell nicht auch zugewiesen? An demokratischer Öffnung kann der „Westen„ kaum Interesse haben, wenn alle politischen Freiräume zuerst von islamistischen Bewegungen gefüllt werden (zu diesen findet sich ein lesenswerter Beitrag von Volker Perthes), die besonders im israelisch-palästinensischen Friedensprozeß eine unversöhnliche Haltung propagieren.

Peter Pawelka periodisiert in einem Beitrag die Außenpolitik der USA anhand einer Unterscheidung zwischen den strukturellen (normativen) sowie den direkten Kontrollmitteln, wie sie besonders im „Engagement„ während des zweiten Golfkrieges eingesetzt wurden. Die Hauptinteressen der Vereinigten Staaten blieben nach der Ablösung der Dominanzmacht Großbritannien bis zur heute etablierten „imperialen Hegemonie„ konstant: Sicherung der Erdölressourcen für die westlichen Industriestaaten, Sicherung der Existenz Israels sowie Garantie der Sicherheit des Westens selbst, zunächst durch Eindämmung sowjetischen Einflusses. Letzteres Ziel wurde in den 90er Jahren ersetzt durch das Projekt einer neuen Ordnung transregionaler Wirtschaftsstrukturen mit Israel als Hegemon. Nachdem die USA auf die drohende Destabilisierung der Golfregion mit wachsender Militärpräsenz reagierten, erwartet Pawelka, daß Washington in Zukunft wieder stärker auf normative Kontrollmechanismen setzt. Die USA werden demnach - soweit opportun - marktwirtschaftlich-bürgerliche Strukturen nach westlichem Vorbild im Vorderen Orient forcieren, um ihre hegemoniale Kontrolle wieder diskreter ausüben zu können.

Einiges ist gesagt und dem breit angelegten Buch doch nicht Genüge getan: so findet sich darin auch ein Beitrag zur Gesellschaft Israels, deren interne Konflikte sich verschärfen und deren Gründungsdogmen sich zunehmend auflösen (Sabine Hofmann), eine wohltuend kritische Bestandsaufnahme zum Nahost-Friedensprozeß (Helga Baumgarten), sowie eine Analyse geschlechterpolitischer Entwicklungen im Vorderen Orient (Renate Kreile), die zu dem Ergebnis kommt, daß islamistisch argumentierende Frauenrechtlerinnen weitaus erfolgreicher sind als laizistische Feministinnen. Je nach Interessenlage des Lesenden mögen noch Wünsche an den Sammelband offen bleiben. Doch abgesehen von dem Vorzug, daß die Mehrzahl der pointiert verfaßten Beiträge von AutorInnen stammen, die auf ihrem Gebiet anerkannt sind, bieten die Fußnoten jeweils eine anregende Forschungsübersicht, ohne überfrachtet zu wirken. Wer sich zügig über zentrale Entwicklungen in der Region informieren möchte, auf übersichtlich strukturierte, solide Analysen sowie weiterführende Literaturhinweise Wert legt, wird hier gut bedient - im Kontrast zu manchen anekdotischen Feldberichten aus dem Orient, wie sie immer wieder auf den Markt geworfen werden.

Jochen Möller
Berlin


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