HOME MAIL SEARCH HELP NEW



Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/1999

 

WIM KÖSTERS

Systemwettbewerb erzwingt effiziente Lösungen - Zentralisierung entfaltet exzessive Eigendynamik

Vorläufige Fassung / Preliminary version

In der Vergangenheit galt Wirtschaftspolitik, insbesondere Ordnungspolitik als rein nationale Angelegenheit. Im Schutze von tarifären und nicht-tarifären Barrieren für den Handel von Gütern und Dienstleistungen, nicht voll konvertiblen Währungen und dazu noch technisch bedingten hohen Transaktionskosten war der Gestaltungsspielraum in der nationalen Wirtschaftspolitik groß. Entsprechend unterschiedlich konnten zunächst die Konzeptionen von Land zu Land sein (z.B. Planifikation in Frankreich und Soziale Marktwirtschaft in Deutschland). Der weltweite, nicht auf die EU beschränkte stärkere Systemwettbewerb und die zunehmende Supranationalisierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses haben vor allem in den letzten ein bis zwei Dekaden zu einer deutlichen Verringerung nationaler Gestaltungsmöglichkeiten und zu einer stärkeren internationalen Konvergenz der Wirtschaftsordnungen geführt.

Dabei sollte stets bedacht werden, daß beide Entwicklungen erst ermöglicht wurden durch die politischen Entscheidungen zur Liberalisierung des Welthandels und der Kapitalströme besonders in den bisher acht GATT-Runden sowie zur Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der Europäischen Währungsunion. Allerdings kamen diese Vereinbarungen wohl eher durch eine "List der Vernunft" (Hegel) zustande. Denn heute beurteilen sie viele Politiker skeptisch bis ablehnend, weil sie sich über die Konsequenzen nicht voll im klaren waren: Durch den stärkeren Systemwettbewerb im Rahmen der Globalisierung, insbesondere durch die international hoch integrierten Kapitalmärkte werden die nationalen Wirtschaftspolitiken laufend überwacht und - wie die jüngsten Entwicklungen in Ostasien, Rußland und Lateinamerika zeigen - Fehler zwar nicht immer sofort aber schließlich doch hart sanktioniert. Dieselben, die sonntags ein Loblied der europäischen Integration, speziell des Binnenmarktes und der Währungsunion singen und in den Parlamenten vehement für ihre schnelle Realisierung plädiert haben, klagen alltags über die Folgen des gestiegenen Standortwettbewerbs in Europa und versuchen, ihn über Harmonisierungsmaßnahmen wieder einzudämmen bzw. auszuschalten. Es sollte aber allen Beteiligten klar sein, daß man die stärkere weltweite Integration der Märkte und den einmal erreichten Stand der europäischen Einigung nicht einfach wieder rückgängig machen kann. Nicht eine defensive Strategie ist geboten, sondern vielmehr eine offensive, die darauf setzt, die sich gerade auch für Deutschland bietenden Chancen durch adäquate Anpassungen in der nationalen Wirtschaftspolitik zu nutzen.

Die europäische Integration mit Binnenmarkt und Währungsunion wird nur dann bei den Bürgern Europas langfristig und dauerhaft Akzeptanz finden, wenn sie auch ökonomisch zu einem Erfolg wird. Dazu müssen zunächst die Implikationen des neuen europäischen wirtschaftspolitischen Rahmens der Bevölkerung vermittelt und muß deutlich gemacht werden, daß, wenn die vertraglichen Vereinbarungen ernst genommen werden, sie auf mehr Systemwettbewerb hinauslaufen, auf den sich die nationale Wirtschaftspolitik im Interesse der Wohlfahrt des Landes einzustellen hat. Bei garantierter Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital, bei dem sie durch den endgültigen Wegfall des Wechselkursrisikos in der EWU soeben noch weiter gesteigert worden ist, wird ein deutlich höheres Maß an Standortwettbewerb ermöglicht als zuvor.

Die Unternehmen im Euro-Raum werden bei ihren Entscheidungen über Investitionen und Ansiedlung von Firmensitzen durch den Wettbewerb auf den Produkt- und Faktormärkten in immer stärkerem Maße gezwungen, nach den für sie günstigsten Standortbedingungen zu suchen. Dabei werden gerade auch die durch die unterschiedlichen nationalen Steuersysteme, Sozialversicherungssysteme, öffentlichen Verwaltungssysteme, Arbeitsmarktsysteme und sonstige Regulierungen gesetzten Anreize und Belastungen eine wesentliche Rolle spielen. Die politische Antwort darauf kann nicht mehr Zentralisierung durch Harmonisierung von Steuersätzen etc. sein, um dadurch den Institutionenwettbewerb wieder einzudämmen. Zum einen dürften dafür die Mehrheiten in der EU sowieso nicht zu finden sein, da Mitgliedsländer mit niedrigen Sätzen sowie Regulierungsniveaus und solche, die schon Steuerreformen etc. durchgeführt haben und dadurch gegenüber den Nachzüglern (vor allem Deutschland und Frankreich) Standortvorteile gewonnen haben, nicht ohne weiteres bereit sein werden, diese wieder aufzugeben. Zum anderen könnte auf diesem Wege nur der Systemwettbewerb in der EU, nicht aber der gegenüber dem Rest der Welt (im Rahmen der Globalisierung) zurückgedrängt werden. Die Einschränkung des Standortwettbewerbs in der EU zum Zwecke der Erhaltung ineffizienter nationaler Regulierungen (Binnenprotektion) birgt die Gefahr, daß mit der gleichen Intention versucht werden könnte, die Außenprotektion gegenüber Drittländern zu erhöhen. Dies alles aber würde an die Wurzeln unseres Wohlstands gehen, der ganz wesentlich auf die Nutzung der Vorteile internationaler Arbeitsteilung gegründet ist. Die politische Antwort auf die durch den Binnenmarkt und die Währungsunion geschaffenen Herausforderungen kann daher nur ein Zulassen des Systemwettbewerbs und eine möglichst schnelle Anpassung der nationalen Wirtschaftspolitik sein. Daher ist gerade nicht die Harmonisierung der Sätze der direkten Steuern geboten, sondern vielmehr eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen, damit so bei mehr Transparenz der Wettbewerb über die Setzung der Steuersätze desto effizienter werden kann. Der oft gefürchtete "race to the bottom" und damit die mangelnde Finanzierbarkeit notwendiger Staatsausgaben wird nicht stattfinden, solange die Träger der Wirtschaftspolitik den Investoren die Vorteile des mit den Steuereinnahmen geschaffenen Infrastrukturkapitals etc. überzeugend vermitteln können.

Mit einer Ausschaltung des Systemwettbewerbs durch stärkere Harmonisierung ist auch eine Zentralisierung der Produktion öffentlicher Güter verbunden. Bei von Land zu Land unterschiedlichen Präferenzen sinkt dadurch aber die Zustimmung zu diesen Lösungen beim Wähler, was sich negativ auf die Akzeptanz der europäischen Integration insgesamt auswirken kann. Zentralisierung setzt immer die Kenntnis der optimalen Lösung durch die politischen Entscheidungsträger voraus, während ein funktionierender Systemwettbewerb das Finden einer solchen auf dezentralem Wege ermöglicht. Aus ökonomischer Sicht legen alle diese Argumente nahe, in der EU zunächst einmal auf Systemwettbewerb zu setzen.

Es gibt jedoch auch ökonomische Gründe für eine Zentralisierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen, die dann greifen, wenn der Wettbewerb auf den politischen Märkten versagt. Auf Europa bezogen wäre das der Fall, wenn durch rein nationale Wirtschaftspolitik die Integration der Märkte in der EU behindert wird oder diese externe Effekte in anderen Mitgliedsländern hervorruft oder steigende Skalenerträge bei der Produktion öffentlicher Güter nicht ausgeschöpft werden können.

Dies sind jedoch nur notwendige, keineswegs aber auch hinreichende Bedingungen für eine sinnvolle Supranationalisierung. Denn zum einen gibt es bei externen Effekten und steigenden Skalenerträgen in der Produktion öffentlicher Güter Alternativen zur Zentralisierung der Wirtschaftspolitik, und zum anderen müssen die dadurch entstehenden zusätzlichen Risiken für Politikversagen berücksichtigt werden. Wegen des oft beklagten Demokratiedefizits auf europäischer Ebene, der für Wähler unübersichtlichen Entscheidungsverfahren im Ministerrat sowie der fehlenden gemeinschaftseigenen Verwaltung (und des Gefälles in der Qualität der für die Administration europäischer Programme zuständigen nationalen Verwaltungen) sind nämlich die diskretionären Handlungsspielräume für Politiker größer als in der nationalen Wirtschaftspolitik.

Wendet man die zuvor genannten ökonomischen Kriterien strikt an zur Prüfung der Effizienz der in den Verträgen (einschließlich Maastricht) vorgesehenen wirtschaftspolitischen Kompetenzverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene, so dürfte in einer Reihe von Bereichen der optimale Grad der politischen Integration schon überschritten worden sein. Dies trifft nach Meinung der meisten Ökonomen sicherlich für die Agrar- und Regionalpolitik, aber auch für die geplante Harmonisierung in der Sozialpolitik zu. Über weitere Politikbereiche besteht unter Ökonomen keine Einigkeit und damit auch nicht über den optimalen Grad der Zentralisierung. Bei der tatsächlichen Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene spielten aber ökonomische Effizienzgesichtspunkte kaum eine Rolle, sondern es waren vielmehr allgemeinpolitische Überlegungen ausschlaggebend.

Es gibt eine Reihe von Anzeichen, die für eine zunehmende Zentralisierung seit Gründung der EGKS sprechen, was die föderale Balance in der EU gefährden könnte. Betrachtet man die Entwicklung vom EWG-Vertrag über die Einheitliche Europäische Akte bis hin zum Maastrichter Vertrag, so sind immer mehr Kompetenzen von den Mitgliedsstaaten auf die europäische Ebene verlagert worden. Dies geschah stets im Zusammenwirken und mit Billigung der Mitgliedsstaaten entweder in der offenen Form vertraglicher Abmachungen oder schleichend. Der Maastrichter Vertrag hat schließlich über die Schaffung einer Währungsunion hinaus nicht nur die schon bestehenden Kompetenzen der EU, wie z. B. im Bereich der Sozialpolitik erweitert, sondern auch eine Reihe neuer Gemeinschaftsaufgaben geschaffen, wie aus Art. 3 EGV hervorgeht. Dieser wurde gegenüber dem Art. 3 EWGV erweitert um Visapolitik, Industriepolitik, transeuropäische Netze, Gesundheitsschutz, Bildung und Kultur, Entwicklungszusammenarbeit, Verbraucherschutz, sowie Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr. Dies hat zur Folge, daß der EU nicht wie bisher vor allem Befugnisse gegeben werden, um das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, sondern ihr auch Kompetenzen für Regelungen und Interventionen allgemeinpolitischer Natur zur Verfolgung eigener Ziele zugestanden werden. Man kann dies als einen ersten, wenn auch kleinen Einstieg in eine Politische Union werten.

Kritikern, die auf diese Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen besorgt hinweisen, wird gern zur Beruhigung entgegengehalten, daß das in Art. 3 EGV niedergelegte Subsidiaritätsprinzip eine zu starke Zentralisierung verhindere. Es ist allerdings auf solche Kompetenzen beschränkt, bei denen die Gemeinschaft nicht die ausschließliche Zuständigkeit besitzt, obwohl das Subsidiaritätsprinzip bisher in der Praxis auch bei den Gemeinschaftsaufgaben angewendet wird. Mit Verweis auf den Vertrag könnte dies zurückgenommen werden, so daß dann die Zentralisierung sogar zunehmen würde.

Der gravierendste Einwand dagegen, daß das Subsidiaritätsprinzip eine wirksame Barriere gegen eine weitere Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene bilden könnte, ist jedoch seine mangelnde Justiziabilität. Da das Subsidiaritätsprinzip kein inhaltliches Kriterium für eine sachgerechte Kompetenzverteilung liefert, ist es auch kaum einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich.

Angesichts der in der Öffentlichkeit immer wieder geäußerten und oft durch den Maastrichter Vertrag hervorgerufenen Furcht vor einem zu stark steigenden Grad der Zentralisierung in der EU, der zu einem bürokratischen europäischen Superstaat führen und die Mitgliedsstaaten ihrer staatlichen Substanz berauben könne, muß zunächst festgestellt werden: Die Zentralisierung politischer Entscheidungen in der EU ist gegenwärtig noch weit geringer als z. B. in den großen Mitgliedsstaaten und in den USA. So beläuft sich der Personalbestand der gesamten EU auf nur etwa 7% desjenigen der deutschen Bundesverwaltung. Auch für die nächste Zukunft sind keine dramatischen Änderungen des Zentralisierungsgrades in der EU zu erwarten, der auch dann noch weit hinter dem der USA zurückbleiben dürfte.

Gleichwohl lassen sich schon jetzt Fehlentwicklungen beobachten, auf die zuvor hingewiesen wurde. Da eine übermäßige Politikintegration die Akzeptanz der europäischen Integration und damit auch ihre vorwiegend aus der Marktintegration folgenden positiven Wohlfahrtseffekte gefährden könnte, muß schon heute reagiert werden: Eine Überprüfung und Reform der bisher gewachsenen Kompetenzverteilung ist ebenso notwendig wie die sorgfältige weitere Beobachtung der Dynamik der Zentralisierung. Die Erstellung eines Kompetenzkataloges, der für mehr Transparenz sorgt, ist ein erster Schritt. Auf seiner Grundlage lassen sich leichter Fehlentwicklungen aufdecken und konkrete Reformschritte planen, bei denen die zuvor genannten ökonomischen Effizienzkriterien für eine Zentralisierung und das Subsidiaritätsprinzip wesentlich stärker beachtet werden müßten. Hierdurch könnte für eine klare und effiziente Zuteilung wirtschaftspolitischer Kompetenzen an die verschiedenen Ebenen gesorgt werden.

Wegen der zuvor aufgezeigten Dynamik ist die Verhinderung einer zu starken Supranationalisierung jedoch als eine Daueraufgabe anzusehen. In dieser Hinsicht ist es wichtig, die Anziehungskraft der europäischen Ebene nicht unnötig zu steigern. Hierzu sind einige bedenkenswerte Vorschläge von Ökonomen gemacht worden (Vaubel, Bernholz u.a.). So sollten die Gehälter und Arbeitsbedingungen für Mitglieder und Mitarbeiter der Europäischen Kommission nicht so attraktiv gestaltet werden, wie das bisher der Fall ist. Zudem sollte die Wiederwahl und Wiederernennung von Mitgliedern der Kommission und des Europäischen Parlaments sowie Richtern am EuGH ausgeschlossen werden, damit sich kein zentralistisches Eigeninteresse entwickeln kann. Ferner sollte das Wachstum des EU-Haushalts wirksam begrenzt werden. Die Gemeinschaft sollte keine Steuererhebungskompetenz bzw. Steuerhoheit erhalten und ihre Ausgaben nach dem Äquivalenzprinzip finanzieren. Schließlich wird ein Austrittsrecht für die Mitgliedsstaaten gefordert, wenn sich die betreffende Bevölkerung mehrheitlich dafür entscheiden sollte. Eine Umsetzung der Vorschläge würde z. T. weitreichende Vertragsänderungen erforderlich machen. Sie sind daher wohl politisch schwer durchsetzbar. Es bleibt zu hoffen, daß von ihnen genügend realisiert werden kann, um ineffiziente Supranationalisierungen politischer Entscheidungen in Zukunft zu verhindern und damit die föderale Balance in der EU zu halten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition juliag | April 1999