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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/1999

 

VOLKER PERTHES

Der Mittelmeerraum, der nahöstliche Friedensprozeß und die Europäische Union

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Wenn die politische Rolle der Europäischen Union (EU) im Mittelmeerraum und im Nahen Osten zur Debatte steht, dann geht es aus europäischer Sicht in erster Linie um Fragen gemeinsamer Sicherheit sowie um regionalen Frieden und politische Zusammenarbeit zwischen Arabern und Israelis. Die Frage europäischen Wirkens in der Region wird unter der deutschen EU-Präsidentschaft, im ersten Halbjahr 1999, weiterhin auf der Tagesordnung stehen, so wie sie schon seit einiger Zeit mit Washington strittig diskutiert wird. Die 1995 in Barcelona lancierte politische Initiative der EU für den Mittelmeerraum, der sogenannte Barcelona-Prozeß oder die Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP), wird nicht, wie überoptimistische europäische Entscheidungsträger dies anfänglich erwarteten, zum Nukleus gemeinsamer, kooperativer Sicherheit zwischen Europa und seinen Mittelmeernachbarn werden, und wird letztlich auch nicht den Frieden zwischen Israel und den arabischen Staaten herstellen können. Der nahöstliche Friedensprozeß ist allerdings eine Kernfrage des Barcelona-Prozesses, insbesondere seiner sicherheitspolitischen Dimension, und Barcelona könnte ein Beitrag sein, um eine Mindestdynamik im Friedensprozeß aufrechtzuerhalten und damit in Richtung gemeinsamer Sicherheit in der Region zu wirken.

Dieser Beitrag wird im folgenden drei Punkte ansprechen: den Zusammenhang zwischen dem Barcelona-Prozeß und den arabisch-israelischen Friedensbemühungen; die Hindernisse, die den Aufbau gemeinsamer euro-mediterraner Sicherheitsstrukturen erschweren; und einige der eher kurzfristigen mediterranen Herausforderungen deutscher und europäischer Politik.

Barcelona und der Frieden im Nahen Osten

In der europäischen Diskussion über Barcelona oder die Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP) wird gelegentlich vergessen, daß diese Initiative im Rahmen der mit der Madrid-Konferenz 1991 eingeleiteten Epoche des arabisch-israelischen Friedensprozesses steht und ohne Madrid und den Beginn bilateraler Verhandlungen zwischen Israel und allen seinen Nachbarn nicht denkbar gewesen wäre. Gleichzeitig vergessen US-amerikanische Kommentatoren manchmal, daß die EMP einen wesentlichen Beitrag zum Friedensprozeß leisten kann, indem sie diesen unterstützt und dadurch in Zeiten des Stillstands oder der Blockade bilateraler Verhandlungen zumindest eine Mindestdynamik arabisch-israelischer Kontakte aufrechterhält. Der Barcelona-Prozeß ist insofern ein sehr spezifisch europäischer Beitrag, nicht zuletzt zum Friedensprozeß, bei der die europäische Politik zeigen kann, was sie zu leisten vermag, während er andererseits auch deutlichen Beschränkungen unterliegt, denen US-amerikanische Politik weniger unterworfen ist.

Amerikanische und europäische Politik haben entsprechend der unterschiedlichen Struktur und Ausstattung der USA bzw. EU-Europas nicht nur verschiedene Fähigkeiten, sondern auch differierende Prioritäten. In der Debatte über eine europäische Rolle im Nahen Osten und die Bereitschaft der USA, Europa eine solche Rolle zuzugestehen, werden diese Unterschiede gelegentlich übersehen. So wäre es, um nur zwei Beispiele zu nennen, weder der Europäischen Kommission noch dem französischen Staatspräsidenten möglich gewesen, alle am Nahost-Konflikt beteiligten Parteien zu einer Friedenskonferenz wie der in Madrid zusammenzubringen. Dazu fehlte nicht nur der erforderliche Einfluß in der Region, sondern auch eine Diplomatietradition der Stärke. Andererseits wäre die amerikanische Administration kaum in der Lage und willens gewesen, einen so komplexen multilateralen und mehrdimensionalen Prozeß wie den von Barcelona einzuleiten und aufrechtzuerhalten – sie würde dazu wohl auch nicht die notwendige Ausdauer aufbringen.

Tatsächlich nimmt die Europäische Union über den Barcelona-Prozeß auf die Konfliktstruktur und den Friedensprozeß im Nahen Osten Einfluß, sowohl auf multilateraler wie auch auf bilateraler Ebene. Auf multilateraler Ebene geschieht dies erstens einfach dadurch, daß die Hohen Funktionäre aller 27 am Barcelona-Prozeß beteiligten Staaten sich regelmäßig zum politischen Dialog der sicherheitspolitischen Partnerschaft – des ersten der sogenannten drei Körbe der EMP – treffen; ferner dadurch, daß diverse Fachminister und Beamte der teilnehmenden Länder sich zu ähnlichen Veranstaltungen im Rahmen des zweiten und dritten der "Partnerschaftskörbe", des ökonomischen und sozio-kulturellen, treffen. Durch diese Treffen und ihre Regelmäßigkeit wird multilaterales Verhalten eingeübt. Die Euro-Mediterrane Partnerschaft wirkt dabei, da der Friedensprozeß bilateral und multilateral stagniert, auch insofern auf das arabisch-israelische Verhältnis ein, als sie ein Forum bietet, in dem sich Vertreter Syriens, Israels, der Palästinensischen Autorität (PA), des Libanon und anderer Staaten überhaupt regelmäßig treffen.

Zweitens schafft die EMP direkte finanzielle Anreize für subregionale Kooperationsprojekte. Angesichts eines insgesamt niedrigen Niveaus regionaler Kooperation im südlichen und östlichen Mittelmeerraum ist eine solche Anregung und Förderung der Zusammenarbeit zwischen einzelnen Ländern oder Ländergruppen von einiger Bedeutung: Das gilt für große Infrastrukturprojekte, wie den Zusammenschluß der Elektrizitätsnetze zwischen Syrien, Jordanien, Ägypten und der Türkei oder im Maghreb genauso wie für grenzüberschreitende Pipeline-Projekte, etwa zwischen Algerien, Marokko und Spanien. Das gilt aber auch für gemeinsame Wirtschaftsprojekte auf der Mikro-Ebene, wie die Förderung von Joint-Ventures im israelisch-palästinensisch-jordanischen Dreieck. Der Phantasie und den Förderungsmöglichkeiten sind hier wenig Grenzen gesetzt. Die EU selbst wird dabei allerdings in einigen Fällen noch lernen müssen, ihr Interesse an einer Förderung subregionaler Zusammenarbeit nahöstlicher oder nordafrikanischer Staaten nicht nur zu betonen, sondern auch konsequent ernstzunehmen. Das würde konkret bedeuten, daß die EU in den bilateralen Assoziationsabkommen, die sie im Rahmen der EMP mit einzelnen süd- bzw. ostmediterranen Partnerländern schließt, eine Addition von Ursprungsregeln zuläßt.

Auch bilateral, im direkten zweiseitigen Verhältnis zwischen der EU und einzelnen ihrer nahöstlichen Partnerstaaten, konnte und kann der Barcelona-Prozeß die Position und das Verhalten regionaler Akteure in bezug auf sicherheitspolitische Zusammenarbeit und den Friedensprozeß beeinflussen. Im Verhältnis zu Israel ist das vielleicht am schwierigsten. Die EU hat zwar über den Assoziationsvertrag, der mit Tel Aviv geschlossen wurde, bestimmte Druckmittel erhalten – verpflichtet dieser Vertrag Israel doch auf die Fortsetzung des Friedensprozesses mit seinen arabischen Nachbarn –, der politische Wille, Druck auf Israel auszuüben, ist allerdings gering.

Einwirkungsmöglichkeiten auf die Palästinenser und die Palästinensische Autorität (PA) sind da schon wesentlich größer. So hat sich die palästinensische Führung während der britischen EU-Präsidentschaft etwa in einem Abkommen zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der EU verpflichtet, europäische Hilfe bei der Terrorismus-Bekämpfung anzunehmen. Wichtiger ist jedoch, daß europäische finanzielle und technische Hilfe das palästinensische Gemeinwesen – den Quasi-Staat, der infolge der Oslo-Abkommen in Teilen der Westbank und des Gaza-Streifens entstanden ist – überhaupt erst überlebensfähig macht. Europäische Hilfe ist essentiell gewesen, um Institutionen aufzubauen und den palästinensischen Weg in eine eigene Staatlichkeit zu erleichtern – und sie wird in dieser Hinsicht noch wichtiger werden.

Ein drittes Beispiel für die Fähigkeit europäischer Politik, bilateral die Haltung einzelner nahöstlicher Akteure zum Friedensprozeß zu beeinflussen, ist die Veränderung der syrischen Haltung im und zum Friedensprozeß mit Israel. Ende 1995 gab die syrische Führung bestimmte Widerstände gegen die Aussicht auf Frieden mit Israel auf und begann, den Abschluß eines Friedensvertrags bis zum Herbst 1996 vorzusehen. Ohne hier in Einzelheiten zu gehen, läßt sich sagen, daß der Wandel der syrischen Haltung, die von 1991 bis 1994 von großer Skepsis gegenüber der Perspektive einer Kriegsbeendigung und der Errichtung normaler Beziehungen mit Israel geprägt war, mittelbar mit dem Beginn des Barcelona-Prozesses und den Perspektiven der euro-mediterranen Zusammenarbeit zusammenhing: So stellte die europäische Initiative Damaskus die notwendige Hilfestellung in Aussicht, um Syrien auf die neuen Formen wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz in einem nicht mehr durch den Nahost-Konflikt definierten, sondern durch eine neue Form regionaler Arbeitsteilung geprägten Nahen Osten vorzubereiten. Daß die syrisch-israelischen Verhandlungen heute blockiert sind, liegt nicht an der Führung in Damaskus, selbstverständlich auch nicht an den Europäern, sondern vielmehr an dem Regierungswechsel in Israel, durch den die Regierung der Arbeitspartei unter Shimon Peres abgelöst und der gesamte Friedensprozeß eingefroren wurde.

Mediterrane sicherheitspolitische Zusammenarbeit: Europäische Ambitionen und nahöstliche Realitäten

Europa – die EU und ihre einzelnen Mitgliedstaaten – hat lernen müssen, daß es neben den positiven Wirkungen der euro-mediterranen Partnerschaftsinitiative auf das arabisch-israelische Verhältnis umgekehrt auch negative Rückwirkungen dieses Verhältnisses und des Friedensprozesses auf den Barcelona-Prozeß und seinen Fortgang gibt. So haben und hatten die Europäer relativ ambitiöse Vorstellungen darüber, wie im Rahmen von Barcelona die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der Mittelmeeranrainer-Staaten vorangetrieben und institutionalisiert werden könnte. Dazu gehörte unter anderem das zuerst von Frankreich und Malta eingebrachte Projekt einer Euro-Mediterranen Sicherheitscharta – die im Laufe der Diskussion etwas moderater als Stabilitätscharta und heute als Euro-Mediterrane Charta firmiert. Dazu gehören auch Ideen über einen Verhaltenskodex der Staaten in der EMP. Ein solcher Verhaltenskodex hätte etwa eine Verpflichtung auf friedliche Konfliktbeilegung, auf Gewaltverzicht oder auf die Fortsetzung des politischen Dialogs auch im Konfliktfall enthalten.

Ferner ist das schon in der Barcelona-Erklärung erwähnte Konzept "ausreichender Verteidigungskraft" (defence sufficiency) dazuzuzählen, dessen Konkretisierung bedeutet hätte, gemeinsam Regeln darüber aufzustellen, was ein verteidigungspolitisch ausreichendes und deshalb für andere Staaten wenig bedrohliches Niveau von Rüstung sein würde. Darüber hinaus wurde ein Katalog von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (CBMs bzw. CSBMs) entworfen, der insbesondere die Herstellung von Transparenz in der nationalen Sicherheitspolitik einzelner Mitgliedstaaten sowie bestimmte "weiche" Formen sicherheitspolitischer Zusammenarbeit vorsah. Mehr Transparenz sollte durch die Offenlegung von Rüstungsbeschaffungsmaßnahmen und die umfassende Registrierung von Rüstungsim- und -exporten beim Waffenregister der Vereinten Nationen, durch die Ankündigung militärischer Übungen und Manöver, durch die Einladung von Manöverbeobachtern aus anderen Ländern der EMP oder durch die Öffnung militärischer Installationen für Beobachter aus anderen Staaten des Barcelona-Prozesses erzielt werden. Weiche Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit wären etwa gemeinsame Übungen von Polizei, Küstenschutz und Streitkräften in anfänglich nicht-militärischen Bereichen wie Katastrophenschutz und Seenotrettung. Bei der zweiten Außenministerkonferenz der Barcelona-Staaten, im Juni 1997 in Malta, zeigte sich jedoch, daß dieser Katalog von Vorhaben und Ideen den EU-Europäern und einigen Partnerstaaten zwar verabschiedungsreif schien, angesichts des Stillstandes im Friedensprozeß und des Vertrauensverlustes zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn aber nicht durchsetzbar war.

Die arabischen Staaten unter Führung Ägyptens, das hier in enger Abstimmung mit Algerien und Syrien handelte, machten sehr deutlich, daß das europäische Konzept der Stabilität – welches die europäische Mittelmeerpolitik wie ein Leitmotiv dominiert – und die Idee sicherheitspolitischer Zusammenarbeit und Vertrauensbildung sowie ihre Institutionalisierung im Mittelmeerraum inakzeptabel seien, solange im Nahen Osten eine Situation des strategischen Ungleichgewichts herrsche und territoriale Okkupation nicht beendet sei. In weniger abstrakter Form hieß das, daß die arabischen Parteien nicht bereit sein würden, über "defence sufficiency" oder ähnliche Konzepte der Rüstungsbegrenzung zu reden, solange Israel sein Atomwaffenmonopol nicht zur Diskussion stellt. Sie würden sich auch nicht auf eine Stabilisierung des regionalen Status quo verpflichten lassen, solange Israel arabisches Territorium besetzt halte, und auch keine weitergehenden vertrauensbildenden Maßnahmen beschließen, solange die grundlegende regionale vertrauensbildende Maßnahme – der Friedensprozeß als solcher – blockiert sei.

Spätestens mit der Malta-Konferenz mußten die Europäer so lernen, daß die Euro-Mediterrane Partnerschaft, insbesondere ihre sicherheitspolitischen Aspekte, entgegen den europäischen Vorstellungen nicht vom Friedensprozeß zu trennen sein würde. Dies bedeutete in der Konsequenz, daß der Barcelona-Prozeß zwar zeitweise eine gewisse Mindestdynamik arabisch-israelischer Interaktion aufrechterhalten konnte, daß er aber, so wie er angelegt war, nicht würde überleben können, falls der Friedensprozeß völlig zusammenbrechen sollte. Die EU zog hieraus einen prinzipiell richtigen Schluß: Wenn die beiden Prozesse – Barcelona und Madrid – so eng miteinander verknüpft sind und wenn sich Schritte in Richtung gemeinsamer Sicherheit im Mittelmeerraum nur bei Fortschritten im Friedensprozeß realisieren lassen können, dann muß die EU eine stärkere Verantwortung für diesen Friedensprozeß übernehmen – eine Verantwortung, die die amerikanische Rolle ergänzen und nicht nur finanzieller, sondern auch politischer Natur sein würde. Dieser Schluß war richtig, aber nicht hinreichend. Eine politische Rolle der EU im nahöstlichen Friedensprozeß, so wünschenswert sie ist, läßt sich nicht einfach beschließen. Es reicht auch nicht, sie zu fordern; sie läßt sich allenfalls über politische Praxis erreichen. Damit steht eine nahöstliche EU-Politik vor der Aufgabe, sich mit einigen Herausforderungen ganz praktisch-politischer Natur zu beschäftigen.

Praxistest: Einige Herausforderungen europäischer Mittelmeer- und Nahostpolitik

Eine ernsthafte politische Rolle der Europäischen Union im Mittelmeerraum und im Nahen Osten stellt Anforderungen an die eigene Struktur und die Kapazitäten der EU und dürfte in einigen Fällen verlangen, sich sehr viel deutlicher mit Partnerländern auseinanderzusetzen, als das bisher üblich war – und dabei auch politische Konflikte zu riskieren, die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen schaden könnten.

Die Notwendigkeit einheitlicher europäischer Positionen

Grundsätzlich muß sich die EU fragen lassen, ob sie im Mittelmeerraum und insbesondere dem Nahen Osten gegenüber tatsächlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt. Den Partnerländern im südlichen und östlichen Mittelmeerraum ist nicht verborgen geblieben, daß die EU hier nicht immer mit einer Stimme spricht. Das deutlichste und am heftigsten kritisierte Beispiel in dieser Hinsicht war das deutsche Verhalten bei zwei Abstimmungen, die 1997 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu Beschlüssen über die Siedlungstätigkeit Israels in den besetzten Gebieten stattfanden. Deutschland enthielt sich bei diesen Abstimmungen und verhinderte damit, daß die EU, deren übrige Mitglieder den Beschlüssen zustimmten, als einheitlicher Akteur auftrat.

Während davon auszugehen ist, daß deutsche Politik seitdem dazugelernt hat und daß ein ähnlich isoliertes Abstimmungsverhalten Deutschlands zukünftig nicht mehr vorkommen wird, bleibt auf weiteres fraglich, ob die EU-Staaten bezüglich des europäischen Engagements im Mittelmeerraum und im Nahen Osten allgemein – und bezüglich der EMP im besonderen – tatsächlich eine gemeinsame Philosophie verfolgen. Auf Fragen nach Hintergrund, Sinn und Zweck der europäischen Mittelmeerinitiative gibt es nach wie vor theoretisch und praktisch sehr unterschiedliche Antworten. So kann man das europäische Mittelmeerengagement als Ausdruck einer im weitesten Sinne humanitären und entwicklungspolitischen Verantwortung Europas für seine südlichen Nachbarn ansehen – dies ist eine Antwort, die man vor allem in Brüssel erhalten wird. Man kann Europas Mittelmeerinitiative auch als Ausdruck des Strebens nach gemeinsamer Sicherheit im weiteren europäischen Umfeld betrachten, wie etwa europäische Sozialdemokraten dies tun, wenn sie in der einen oder anderen Form versuchen, die Lehren und Ergebnisse des KSZE-Prozesses auf den Mittelmeerraum und den Nahen Osten anzuwenden. Schließlich gibt es eine traditionell-realpolitische und tendenziell konservative Antwort auf die Frage nach der Philosophie des europäischen Mittelmeerengagements: Dabei geht es implizit oder explizit um die geopolitische und wirtschaftliche Konkurrenz Europas mit den USA oder – wie gelegentliche Äußerungen aus Frankreich vermuten lassen – um eine Politik der Einflußzonen. Wenn Europa ernsthaft eine politische Rolle im Nahen Osten spielen und damit zu Frieden und Sicherheit in der Region beitragen will, wenn es ferner als politischer Akteur ernstgenommen werden möchte, dann wird es in Konfliktfragen auch eine einheitliche Position vertreten und wird Fragen nach dem Hintergrund seiner Politik und nach europäischen Interessen in der Region einheitlich beantworten müssen.

Festigkeit in der Unterstützung palästinensischer Unabhängigkeit

Unter den Herausforderungen europäischer Mittelmeer- und Nahostpolitik gibt es, zweitens, eine sehr konkrete, die vor allem Deutschland, wenn es im ersten Halbjahr 1999 die Präsidentschaft der EU innehat, beschäftigen wird. Der Zeitplan der israelisch-palästinensischen Oslo-Verträge und des ergänzenden Wye-Memorandums, das im Oktober 1998 unter amerikanischer Vermittlung vereinbart wurde, verlangen, daß Israel und die PLO bis Mai 1999 ein Abkommen über den endgültigen Status der israelisch besetzten palästinensischen Gebiete ("Final-Status"-Abkommen) aushandeln. Da es bei einem solchen Abkommen um nicht weniger gehen wird als die endgültige Aufteilung des Territoriums der Westbank, Jerusalems und des Gaza-Streifens, um die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen dem palästinensischen Gemeinwesen und seiner internationalen Umgebung, um den völkerrechtlichen Status dieses Gemeinwesens, um die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und um die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge, ist tatsächlich nicht zu erwarten, daß ein solches Abkommen bis zum Zieldatum zustandekommen wird. Auch nach dem Abschluß des Wye-Memorandums, das kurzzeitig Entspannung in das israelisch-palästinensische Verhältnis brachte, ist vielmehr davon auszugehen, daß es im Mai 1999 zu einseitigen politischen oder militärischen Maßnahmen der einen oder anderen Konfliktpartei kommen wird. Insbesondere die Frage der palästinensischen Staatlichkeit bzw. einer unilateralen palästinensischen Unabhängigkeitsproklamation wird dann auf der Tagesordnung stehen. Falls die Palästinenser ihre Unabhängigkeit und einen palästinensischen Staat in Westbank und Gazastreifen erklären, dürfte die Mehrheit der Staaten der Welt, darunter die meisten EU-Staaten, diesen Staat unmittelbar anerkennen. Die USA werden eine palästinensische Unabhängigkeitserklärung nicht unterstützen, Israel wird ihr Widerstand entgegensetzen, wird möglicherweise sogar durch militärische Aktionen versuchen, die faktische Etablierung palästinensischer Souveränität zu verhindern.

Eine solche Konfrontation über palästinensische Unabhängigkeit und Staatlichkeit wird auch ein Praxistest für die Fähigkeit Europas sein, im und gegenüber dem Nahen Osten gemeinsame Politik zu betreiben: Es wird sich dann zeigen, ob die Europäer in der Lage sind, ihr immer wieder betontes Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und ihre faktische Selbstverpflichtung auf die Unterstützung des palästinensischen Staatsbildungsprozesses auch in einer Krisensituation in politische Praxis zu übersetzen, ob sie ihre Position Israel gegenüber verständlich machen und einheitlich umsetzen können und ob sie die politische Stärke aufbringen, die USA zu einer gemeinsamen oder zumindest einer koordinierten Haltung mit Europa zu bewegen.

Konsistenz in der Frage der Menschenrechte

Während eine palästinensische Souveränität erst im Entstehen begriffen ist, sind einige der süd- und ostmediterranen Partnerländer Europas darüber besorgt, daß die Euro-Mediterrane Partnerschaft zu einer Aushöhlung ihrer Souveränität führen könnte. Das strikte Festhalten dieser Staaten an einem traditionellen und aus europäischer Sicht weitgehend überholten Souveränitätsbegriff bedeutet, in Kombination mit den politischen Verhältnissen dieser Länder, eine dritte, kurz- bis mittelfristige Herausforderung europäischer Mittelmeerpolitik. Der Barcelona-Prozeß hat einen Begriff von Partnerschaft in die internationalen Beziehungen eingeführt, der tendenziell die traditionelle Trennung des Inneren – der inneren Verhältnisse jedes einzelnen Staates – vom Äußeren durchbricht.

Implizit erlauben die Assoziationsverträge, die die süd- und ostmediterranen Partnerstaaten im Rahmen des Barcelona-Prozesses mit der EU geschlossen haben oder noch verhandeln, ein Recht auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Seite. So enthalten die Assoziationsabkommen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte, bei deren Bruch die EU, dem Text nach zumindest, ihrerseits Teile der Abkommen suspendieren kann. Auch hat sich die EU im Zusammenhang des Barcelona-Prozesses das Recht erwirkt, direkt mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihren süd- und ostmediterranen Partnerländern zusammenzuarbeiten und solche Organisationen auch dann zu fördern, wenn diese in deutlicher Opposition zu ihren jeweiligen Regierungen stehen – so etwa Menschenrechtsorganisationen in einigen arabischen Ländern oder "Peace Now" in Israel.

Insbesondere die nordafrikanischen Staaten reagieren zunehmend unwirsch, wenn Europäer heute versuchen, die in den Assoziationsabkommen festgelegten Menschenrechts- oder Demokratiestandards tatsächlich anzumahnen. Vertreter Tunesiens, Algeriens und anderer arabischer Staaten sprechen von einer Politik des Menschenrechtsimperialismus und verbitten sich jede Kritik an ihren inneren Verhältnissen. Zum Teil weigern sie sich sogar im Rahmen der politischen Dialoge, die mit solchen Assoziationsabkommen vereinbart worden sind oder werden, über Menschenrechtsfragen und Innenpolitik zu diskutieren. Schlechtestenfalls könnten sie diesen Dialog sogar aufkündigen, wenn Europa darauf besteht, Menschenrechts- und andere innenpolitische Fragen anzusprechen. Europäische Politik muß sich deshalb klar werden, wie ernst sie die Menschenrechtskomponente ihrer Mittelmeerpolitik nehmen will. Unterschiedliche Antworten sind möglich, keine ist aber problemlos. Wenn Europa auf arabisches oder israelisches Drängen hin darauf verzichtet, Menschenrechtsklauseln, die es selbst in die entsprechenden Assoziationsverträge hat schreiben lassen, auch einzufordern, dann stellt es sich als politischer Papiertiger bloß, dessen politische Forderungen auch in anderen Bereichen nicht unbedingt ernstgenommen werden müssen. Wenn die EU hingegen darauf besteht, den Menschenrechts- und Demokratiedialog anzumahnen und möglicherweise zur Grundlage einer Konditionierung von Entwicklungshilfe zu machen, läuft sie Gefahr, daß einzelne ihrer mediterranen Partnerstaaten – darunter so wichtige wie Tunesien oder Algerien – aus der Partnerschaft, mindestens jedoch aus dem politischen und sicherheitspolitischen Dialog, aussteigen.

Die Komplementarität der drei "Körbe" von Barcelona

Eine Chance, solch mögliche Krisen zu vermeiden, kann darin liegen, die Komplementarität der drei Körbe von Barcelona zu betonen und ernstzunehmen. Gleichzeitig beinhaltet diese Komplementarität allerdings eine weitere, vierte, Herausforderung deutscher und europäischer Mittelmeerpolitik. In allen Partnerländern der Euro-Mediterranen Partnerschaft – den europäischen wie den süd- und ostmediterranen – gibt es starke Stimmen, die mit dem Inhalt bestimmter Körbe unzufrieden oder im Grunde nicht einverstanden sind. Tunesien und Algerien etwa haben arge Probleme mit dem Menschenrechtsdialog und den entsprechenden Verpflichtungen der Barcelona-Erklärung und dem dazugehörigen Arbeitsprogramm; Syrien und Ägypten wehren sich, wie erwähnt, gegen eine aus ihrer Sicht vorzeitige Diskussion von vertrauensbildenden Maßnahmen, die Israel einschließen würden; Israel sieht die auch in der Barcelona-Erklärung verankerte Verpflichtung auf das Land-für-Frieden-Prinzip unter seiner derzeitigen Regierung mit großer Skepsis. In den europäischen Mitgliedsländern der EU, nicht zuletzt in Deutschland, besteht deutliches Unbehagen an der finanziellen Partnerschaft. Außerdem haben die Europäer ein eindeutiges Interesse am freien Waren- und Kapitalverkehr und bestehen insofern darauf, daß die süd- und ostmediterranen Partnerländer Zölle und andere Einfuhrschranken abbauen, sie haben aber kein Interesse an einem freien Personenverkehr oder gar an voller Freizügigkeit im euro-mediterranen Raum. So hat der Eintritt in die Euro-Mediterrane Partnerschaft bisher wenig daran geändert, daß es für einen marokkanischen oder syrischen Wissenschaftler nicht eben leicht ist, ein Visum zu erhalten, wenn er etwa Forschungen in einem EU-Land betreiben will – ein Fall, der in umgekehrter Richtung zur Normalität gehört. Von einem normalen Touristen aus einem dieser Länder, der sich entschlösse, seinen Jahresurlaub zur Abwechslung mal an der Ostsee zu verbringen, soll hier gar nicht geredet werden. Die, aus europäischer Sicht, sicherheitspolitisch motivierten und legitimierten Restriktionen bei der Erteilung von Visa für Bürger der EMP-Partnerstaaten stören nicht nur das offizielle Verhältnis zu diesen Staaten, sondern stellen auch eine faktische Behinderung des zivilgesellschaftlichen Dialogs dar, den die EMP explizit fördern will.

Wenn der Barcelona-Prozeß weitergeführt und vorwärts gebracht werden soll, ist es notwendig, mit einer Illusion aufzuräumen, die diesen Prozeß seit seiner Gründung begleitet hat: Barcelona und die EMP sind nicht, wie europapolitische Zweckoptimisten es gerne hätten, der Ausdruck gleicher oder gemeinsamer Interessen bei den EU-Staaten und ihren süd- und ostmediterranen Partnern, sondern der Ausdruck einer Interessenbalance, die sich in der Parallelität dreier inhaltlich unterschiedlich gefüllter Körbe spiegelt. Insofern ist die Metapher von den "Körben" des Barcelona-Prozesses irreleitend, und es wäre richtiger, von den drei "Säulen" zu sprechen, die den EMP-Prozeß tragen: Hier haben wir nicht drei Warenkörbe – einen sicherheitspolitischen, einen finanziellen und einen sozio-kulturellen – von denen wir einen, zwei oder drei aussuchen können, sondern drei komplementäre Bauelemente, die ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie gemeinsam errichtet und unterhalten werden. Die Aufkündigung der Zusammenarbeit in einem der drei Körbe bedeutet notwendig die Aufkündigung der gesamten Partnerschaft. Für Europa heißt das, daß es ohne die Bereitschaft zu wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe und ohne Bereitschaft zu einem offeneren Dialog mit den Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens keine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit diesen Staaten geben wird. Für die politischen Einwirkungsmöglichkeiten, die Europa in seiner südlichen Umgebung sucht, wird es vornehmlich finanziell einstehen müssen und wird sich auch den Ausbau zur "Festung" nicht leisten können, der tatsächliche oder vermeintliche Sicherheitsrisiken aus der Region durch Abschottung abzuwehren sucht.


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