Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2002

 

 
 
 

 


Anpassungszwänge und Legitimationsverlust: das europäische Dilemma

Michael Dauderstädt*

Die fortschreitende Integration Europas stellt die Mitgliedsländer vor immer stärkere Anpassungszwänge. Gleichzeitig engt sie ihren Handlungsspielraum ein. Die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen untergraben die politische Akzeptanz des Einigungsprojektes. Doch der Ausweg, den nationalen Regierungen mehr Autonomie zuzugestehen, ist nur bedingt gangbar.

(Europa droht nicht nur mehr Streit, sondern auch mehr Ungleichheit.)

Die Europäische Union (EU) hat sich viel aufgeladen: Seit Anfang 2002 zirkuliert der Euro. Damit ist die Währungsunion praktisch unumkehrbar. Ein Land, das aussteigen will, müsste eine neue/alte Währung mit prohibitiv hohem Zeit- und Kostenaufwand einführen. Gleichzeitig nähert sich dank der Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen und der politisch immer verbindlicheren Zusagen, die ohne massive Glaubwürdigkeitsverluste nicht mehr gebrochen werden können, die Osterweiterung. Schließlich versucht nun ein Europäischer Konvent, die „left overs“ der „left overs“ von Amsterdam und Nizza zu bereinigen, indem er der rechtlichen und institutionellen Struktur der Union ein Format gibt, das ihre Legitimität verbessern und ihre Handlungsfähigkeit auch nach der Erweiterung erhalten soll.

Die EU vertieft und erweitert sich gleichzeitig. Dabei setzt sie nicht nur auf die Liberalisierung der Märkte, die sie seit ihrer Gründung, aber beschleunigt mit dem Binnenmarkt (1985-92) und mit der Währungsunion (1992-2002) vorangetrieben hat, sondern auch auf deren Ordnung und Steuerung durch europäische Politiken, sowohl aus Brüssel, als auch national, aber immer öfter in Brüssel koordiniert. Der Binnenmarkt hat eine Fülle von Regelungen hervorgebracht, an deren Übernahme nun die Beitrittskandidaten zu arbeiten haben. Die Währungsunion hat mit der Europäischen Zentralbank eine eigene geldpolitische Institution geschaffen. In zentralen Politikfeldern wie Wettbewerbs-, Regional-, Beschäftigungspolitik hat die EU teils weitreichende Kompetenzen. Gerade das sozialdemokratische „Jahrzehnt“ (1992-2002) in der EU hat nach den liberalisierenden achtziger Jahren die Rolle der Union nicht nur als Marktgarant, sondern auch als Steuerungszentrum gestärkt, um mehr Beschäftigung und sozialen Ausgleich zu erzielen.

Diese Vertiefungsschritte im Sinne einer Liberalisierung der Märkte und Harmonisierung der Politiken haben das Spielfeld in Europa immer weiter eingeebnet, auf dem die Menschen, Unternehmen, Regionen, Länder um ihre Wohlstandschancen kämpfen. Nach und nach und immer schneller sind die Unebenheiten abgetragen worden, die vorher Wettbewerbsvorteile oder Schutz boten: erst die Zölle und quantitativen Beschränkungen sowie Subventionen (Römische Verträge), dann technische und fiskalische Barrieren (Binnenmarkt), schließlich zuletzt der Wechselkurs (Währungsunion). Jeder Schritt hat die Bedingungen nationaler Wohlstandserzeugung und –verteilung verändert. Damit verändert sich auch die Natur der Verteilungskonflikte und Anpassungsprozesse, die nicht mehr nur national, sondern auch europäisch wahrgenommen werden. Was in der Globalisierungsdebatte gern verschiedenen internationalen Organisationen, deren Einfluss die Kritiker eher überschätzen, angelastet wird, hat in Europa die Union zu tragen. Gern von nationalen Regierungen als Sündenbock benutzt, hat in den letzten Dutzend Jahren ihre Popularität gewaltig nachgelassen. Die Legitimität der Integration gerät in Gefahr.

Dazu kommt die Erweiterung. Mit ihr betreten noch deutlich heterogenere Spieler das eingeebnete Spielfeld. Sie sind sehr viel ärmer, vor allem in Wechselkursen gemessen, aber auch noch zu Kaufkraftparitäten. Sie haben teilweise massive Strukturprobleme, nicht zuletzt aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit. Was das im Extrem bedeuten kann, hat die erste postkommunistische Erweiterung um die DDR gezeigt: flächendeckender Zusammenbruch nicht mehr wettbewerbsfähiger Unternehmen, Massenarbeitslosigkeit und dauerhafte Transferabhängigkeit. So schlimm wird es wohl in Mittel- und Osteuropa nicht werden, dank schon seit 1990 vollzogener Transformation, angemessenem Wechselkurs und geringeren Transferaussichten. Aber eine erweiterte Union wird sich gestiegenen Einkommensdisparitäten gegen­übersehen, deren Auswirkungen sie bewältigen muss. Das deutsche Beispiel lässt nichts Gutes ahnen: Zwar hat der Einkommensunterschied im vereinigten Deutschland zwischen West und Ost von 1992 bis 1998 abgenommen, aber in jedem seiner beiden Teile hat er zugenommen[1] – mit dem Ergebnis wachsender Politikver­drossenheit. Europa droht also nicht nur mehr Streit, sondern auch mehr Ungleichheit.

Wie sind die Aussichten, dass die EU ihre entgrenzte Wirtschaft und Gesellschaft so gestalten und steuern kann, dass diese Entwicklung vermieden wird? Welche Risiken bergen die eingeschlagenen Wege? Wie können nationale zwischenstaatliche und soziale innergesellschaftliche Konflikte minimiert und in konsensualer und demokratischer Weise gelöst werden? Dies sei im folgenden an zwei Kernprobleme analysiert: erstens der regionalen und zweitens der nationalen Verteilung von Wohlstand. Dabei hängen beide immer mehr zusammen. Denn auf dem ebenen Spielfeld verändern die Aktionen aller Akteure, der Armen wie der Reichen, die Optionen des jeweils anderen, seine Verteilungsprobleme zu lösen.

 

Der Kohäsionsraum Europa: Aufholprozesse mit Hindernissen

(Während die wirklich großen Aufholerfolge der jüngeren Wirtschaftsgeschichte im geschützten Raum nationaler Akkumulationsregime stattfanden, erlaubt die europäische Integration nur noch das Aufholen durch Teilnahme am offenen, internationalen Akkumulationsprozess.)

(Die EU-Integration erlaubt durchaus die Entwicklung der armen Länder, ja sie unterstützt sie mit einer Reihe von Politiken. Im Ergebnis kann das allerdings ganz anders aussehen, nicht zuletzt, weil die armen Länder die Chancen nicht wahrnehmen, den Risiken der Integration jedoch erliegen.)

Die EU selbst hat sich das Ziel gesetzt, regionale Einkommensdisparitäten abzubauen (Art. 158-162 EUV). Dieses Ziel impliziert eine Angleichung der nationalen Entwicklungsunterschiede, geht aber darüber sogar hinaus. In der Tat ist es (in) der EU gelungen, die Abstände in den durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Mitgliedstaaten abzubauen, allerdings nur bedingt die zwischen den ärmsten und reichsten Regionen. Auch und gerade innerhalb der ärmeren Länder haben die regionalen Disparitäten weiter zugenommen, wie der zweite Kohäsionsbericht[2] der Kommission im Januar 2001 belegte (siehe Tabelle 1). Die Konvergenzerfolge fallen deutlich schwächer aus, wenn man das Einkommen zu Wechselkursen statt (wie in Tabelle 1) zu Kaufkraftparitäten vergleicht. Der ebenfalls für die gute Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten wichtige Aufholerfolg Irlands relativiert sich massiv, wenn man bei der Messung vom Bruttoinlandsprodukt zum Bruttosozialprodukt übergeht und wirklich nur das Einkommen der Iren berücksichtigt und die Gewinne der dort tätigen ausländischen Investoren ausklammert (vgl. unten).

Die Wachstumsergebnisse der ärmeren, peripheren Regionen ergeben ein uneinheitliches Bild[3]: Irland (seit 1993) und Portugal (seit 1985) wiesen hohe Wachstumsraten auf. Dagegen stagnierten Griechenland, die ehemalige DDR und Süditalien vergleichsweise, obwohl sie zwischen fünf und fünfzig Prozent ihres Bruttosozialproduktes (BSP) an Hilfe erhielten. Die neue Peripherie der assoziierten mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer weisen (trotz oder wegen der schon massiv vollzogenen wirtschaftlichen Integration?) nach der Transformationsrezession zwar wieder überwiegend positive Wachstumsraten auf, holen jedoch nur sehr langsam und unstetig auf. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens bzw. dessen Ausbleiben innerhalb der EU.

Tabelle 1: Einkommensdisparitäten in der EU (Standardabweichung von EU15=100)

 

EU-15 nach Regionen

EU-15 nach Regionen
ohne neue Bundesländer

EU-15 nach Mitgliedstaaten

EU-15 nach Mitgliedstaaten
ohne neue Bundesländer

EU-15 innerhalb Mitgliedstaaten

EU-15 innerhalb Mitgliedstaaten
ohne neue Bundesländer

1988

 

26,7

 

15,9

 

20,7

1989

 

26,4

 

15,3

 

20,7

1990

 

26,5

 

15,4

 

20,6

1991

29,4

26,4

13,1

15,5

24,5

21,0

1992

28,6

26,5

13,2

15,6

23,8

20,9

1993

27,7

26,3

12,5

14,6

23,4

21,3

1994

27,5

26,5

12,7

14,6

23,0

21,2

1995

28,5

28,1

12,5

14,1

24,5

23,5

1996

28,4

28,1

11,9

13,5

24,7

23,8

1997

28,3

27,9

11,5

13,0

24,8

24,0

1998

28,3

27,8

11,2

12,7

25,0

24,1

Quelle: EU-Kommission „Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Statistischer Anhang, Tabelle A.2, S.20

Die Aufholerfolge bestätigen die (neo-)klassische Wirtschaftstheorie, die einen Konvergenzprozess erwartet, weil das Kapital aus den kapitalreicheren Ländern wegen seines sinkenden Grenzertrages dort in die kapitalärmeren Länder der Peripherie fließt, die niedrigere Löhne mit steigender Produktivität verbinden. Die wachsenden regionalen Disparitäten und die anhaltenden Probleme einiger Regionen sprechen dagegen für eine Agglomerationstheorie, die wachsende Grenzerträge in hochentwickelten Zentren vermutet, während die schwachen Standorte (z.B. ex-DDR, Mezzogiorno, Alentejo) in einem Teufelskreis der Unterentwicklung stecken bleiben. [4] Dieses Auseinanderfallen von innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Konvergenz lässt für die Zukunft der Kohäsion nichts Gutes ahnen. Denn in Zukunft werden die Verhältnisse innerhalb der EU immer mehr denen innerhalb eines Mitgliedslandes ähneln.

Betrachtet man die Länder und Regionen der europäischen Peripherie im einzelnen, so scheint klar, dass Integration und Öffnung an sich weder Wachstum schaffen noch verhindern, sondern es die Interaktion der eigenen Strukturen und Wirtschaftspolitik mit der Außenwirtschaft ist, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Damit ist aber die europäische Politik nicht aus der Verantwortung entlassen, da unterschiedliche Integrationsmodelle unterschiedliche Risiken mit sich bringen, auf die im folgenden eingegangen wird. Während die wirklich großen Aufholerfolge der jüngeren Wirtschaftsgeschichte (Westeuropa, Japan, Ostasien) im durch die Bretton-Woods-Ordnung geschützten Rahmen nationaler Akkumulationsregime stattfanden, erlaubt die europäische Integration nur noch das Aufholen durch Teilnahme am offenen, internationalen Akkumulationsprozess.

Der Zwangs­verzicht auf eine selektive Handels- und Industriepolitik (Zölle und Subventionen) blockiert ein Entwicklungsmodell wie in Südostasien und verringert die Wettbewerbschancen einheimischer Produzenten. Der Abbau der wichtigsten „wettbewerbsverzerrenden“ Schutzmechanismen und nationalen (oder regionalen) Fördermöglichkeiten ist durch massive europäische Subventionen kaum zu ersetzen. So haben große Kapitaltransfers (typisch in der ex-DDR, aber auch in die übrige europäische Peripherie) eine reale Überbewertung der Währung bzw. Lohnerhöhungen jenseits des Produktivitätsfortschritts begünstigt, dadurch Arbeitsplätze vernichtet und Investoren abgeschreckt. Vielleicht wären ohne nationale und europäische Regionalpolitik die Einkommensunterschiede noch höher; aber einen Erfolg im Sinne eines raschen Abbaus der Disparitäten können sie nicht aufweisen. Im Gegenteil: Da, wo die Regionalpolitik am stärksten eingesetzt wird, innerhalb der Mitgliedstaaten, haben die Ungleichheiten noch zugenommen. Zwischen den Staaten behindert wiederum die Währungsunion mit ihrer Fixierung auf Preisstabilität und feste Wechselkurse die notwendigen überdurchschnittlichen nominalen Einkommenssteigerungen in den aufholenden Ländern.

Am ehesten würde man nach der klassischen Theorie einen Beitrag zum aufholenden Wachstum von ausländischen Investitionen erwarten, auch wenn sie keine notwendige Voraussetzung sind, wie die nachholende Entwicklung einer Reihe von erfolgreichen Ländern (z.B. Japan, Korea, Taiwan) belegt. Selbst Polen hatte in der ersten Hälfte der 90er Jahre – im Vergleich etwa zu Ungarn – ein deutlich höheres Wachstum bei geringen Auslandsinvestitionen. Portugal, Spanien und Irland stützten ihr Wachstum dagegen auf viele Investitionen. In dem Maße, wie nicht nur vorhandene Firmen (z.B. bei Privatisierung) aufgekauft wurden, sondern zusätzliche, moderne Produktionskapazität entstand, können ausländische Investoren zum langfristigen Wachstum beitragen, indem sie Technologie, Ausbildung, Management und Marketing mitbringen. Ausländisches Kapital gibt es allerdings nicht umsonst, wie vor allem das Beispiel Irland belegt.

Gerade im Erfolgsfall und bei kleinen Ländern kann der Abfluss von Gewinnen volkswirtschaftlich beachtliche Dimensionen erreichen. Irland, das zu den relativ erfolgreichsten Einwerbern von Auslandsinvestitionen (4,2 Prozent des BIP 1987-96[5]) zählt, hat dies nicht nur dank (mit EU-Mitteln finanzierter) guter Infrastruktur, niedriger Löhne und gut ausgebildeter Arbeitskräfte erreicht, sondern auch durch eine niedrige Unternehmens- und Gewinnbesteuerung. Diese Steuervorteile haben multinationale Konzerne nicht nur veranlasst, in Irland zu investieren, sondern dort auch in großem Umfang anderswo entstandene Gewinne buchhalterisch über Verrechnungspreise anfallen zu lassen. So ist in Irland die Lohnquote seit 1980 von 77 Prozent auf 53 Prozent des Volkseinkommens gesunken und das Bruttosozialprodukt (d.h. das Einkommen der Iren) liegt zwanzig Prozent unter dem Bruttoinlandsprodukt, das auch die in Irland entstandenen Gewinne der ausländischen Firmen umfasst, womit Irland in der Pro-Kopf-Einkom­mens­liga der EU von Platz fünf (BIP/Kopf) auf Platz zehn (BSP/Kopf) zurückfällt.[6] Die irischen Verhältnisse sind insofern untypisch, als für die EU insgesamt und auch in den meisten größeren Mitgliedstaaten Auslandsinvestitionen einen viel geringeren Stellenwert (gemessen im Anteil am BIP bzw. der gesamten Investitionen) haben. Grenzüberschreitende Investitionen innerhalb der EU machten zwischen 1987 und 1996 unter ein Prozent des Bruttosozialproduktes aus.[7]

Trotzdem tragen ausländische Investitionen oft zur Modernisierung ihrer Wirtswirtschaften bei. Sie nutzen die Wettbewerbsvorteile dieser Ökonomien, in armen Ländern häufig die niedrigen Löhne. Für die ausländischen Investoren (aber auch für einheimische Unternehmer, die mit Importen konkurrieren oder exportieren) kommt es dabei auf die zu Wechselkursen verglichenen Löhne an. Für die Beschäftigten sind diese niedrigen Löhne oft dadurch akzeptabel, dass ihre Kaufkraft deutlich höher liegt. Dieser Kaufkraftvorteil schmilzt aber in einem Binnenmarkt auf die Dauer in dem Maße ab, wie sich das Gesetz des einheitlichen Preises durchsetzt, was allerdings relativ langsam geschieht, wie Preisunterschiede auch in seit langem der EU angehörenden Ländern belegen.[8] Die in Kaufkraftparitäten gemessenen Einkommen konvergieren schneller als die in Wechselkursen. Aufwertungen waren in der Vergangenheit für den Löwenanteil der nominalen Einkommenskonvergenz zwischen den ärmeren und reicheren Ländern Europas verantwortlich.[9]

Im Euroland sind diese Aufwertungen nicht mehr möglich. Einkommenskonvergenz hängt dann von einem rascheren Anstieg der Löhne in den ärmeren Ländern ab. Das bedeutet höhere Inflation, da auch die Löhne in Branchen mit geringem Produktivitätswachstum (z.B. viele Dienstleistungen, vor allem im öffentlichen Sektor) steigen müssen (Balassa-Samuel­son-Effekt)[10]. Für die aufholenden Länder ist es daher wichtig, dass die Europäische Zentralbank und die EU diese höhere Inflationsrate toleriert. Sie müssen dabei ihre Wirtschaftspolitik so gestalten, dass die höhere Inflation nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Solange sie ihren Wechselkurs noch kontrollieren, ist das durch Kontrolle der Aufwertung bzw. Abwertung möglich. Entsprechende Schritte empfehlen sich bei starken Importanstiegen und Exporteinbrüchen, die ein nicht dauerhaft zu finanzierendes Handelsbilanzdefizit verursachen. Manche Kritiker[11] empfehlen daher den postkommunistischen Beitrittsländern eine – von der EU abgelehnte - einseitige Übernahme des Euro ohne Beitritt zur Währungsunion. Dies würde den Stabilitätsimport erlauben, ohne die geld- und fiskalpolitische Zwangsjacke anziehen zu müssen. Im durch Produktivitätsfortschritte ermöglichten Umfang könnten sie eine höhere Inflation als die EU haben und so ihr Einkommen an den EU-Durchschnitt heranführen.

Die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit – sei es durch Abwertung oder Kontrolle der Inflation – wird durch offene Kapitalmärkte erschwert. Gerade die erfolgreicheren ärmeren Länder sind oft Ziel starker Kapitalzuflüsse, die reale Aufwertungen auslösen, die nicht im gleichen Umfang durch Produktivitätsfortschritte gesichert sind. Die gleichen Finanzmärkte reagieren dann mit plötzlicher Kapitalflucht, wenn sich pessimistischere (oder realistische) Einschätzungen der Wirtschaftsentwicklung durchsetzen. Innerhalb Eurolands drohen dann aber nicht mehr Abwertungen und IWF-Programme. Stattdessen müssen sich Schuldner (Empfänger der Kapitalzuflüsse) durch Ausgabeneinschränkungen anpassen und die Gläubiger auch mit „normalen“ Konkursen oder Zahlungsverzögerungen rechnen. Portugal könnte das erste Beispiel für eine solche „nationale“ Anpassungskrise im Euroland sein, da es seit seinem Beitritt zur Währungsunion eine massive Schuldenposition aufgebaut hat[12], die in früheren Zeiten (vor dem EU-Beitritt) zu einer Verschuldungskrise mit IWF-Intervention geführt hätte. Jetzt drohen – partiell nach argentinischem Muster, wenn auch (zunächst) ohne Finanzkrise des Staates - Kollapse der überschuldeten portugiesischen Wirtschaftseinheiten (Banken, Unternehmen, Haushalte). Die Anpassungsmöglichkeiten (z.B. staatliche Hilfen für Banken) sind aber nicht mehr rein national entscheidbar.

Die EU-Politiken haben somit eine zwiespältige Wirkung auf die armen Regionen. Ähnliche Probleme sind auch für die noch ärmeren künftigen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa zu erwarten:

  • Handelspolitik: Der Abbau der Handelschranken im Innern setzt die ärmeren und schwächeren Ökonomien einem verstärkten Wettbewerbsdruck aus. Inwieweit ihre günstigeren Kosten qualitative Standortnachteile ausgleichen können, hängt auch von der Stärke verbleibender Barrieren (Sprache, Kultur, Transportkosten, weiter bestehende regulatorische Unterschiede) ab.[13] Der gemeinsame Außenzoll, den die ärmeren, später der EG/EU beigetretenen bzw. beitretenden Länder übernehmen müssen, spiegelt die Schutzinteressen (und Wettbewerbsstärken) der Altmitglieder wider. Der vergleichsweise hohe Schutz der Landwirtschaft und stagnierender Industriezweige ohne Zukunftsperspektiven (Stahl, Textil etc.) könnte den notwendigen Strukturwandel zur Modernisierung der Peripherie bremsen (ein Effekt, der im Kern erwünscht war!) und dort Ressourcen in ohnehin noch viel zu großen perspektivlosen Sektoren binden.
  • Kohäsionspolitik: Die Kohäsionspolitik verfolgt ebenfalls eine Vielfalt von Zielen, die nur indirekt etwas mit dem Ausgleich der Einkommensunterschiede zu tun haben. Meist haben jeweils neu der EG/EU beigetretene Länder(gruppen) neue Förderlinien (z.B. dünn besiedelte Regionen für die skandinavischen Länder) durchgesetzt. Grundsätzlich ist zwischen Nationen lediglich der Nettotransfer bedeutsam, der aber nur einen Teil des gesamten Transfers ausmacht, da viele relativ ärmere Regionen in reichen Ländern, d.h. auch Nettobeitragszahlern der EU, ebenfalls von der Förderung profitieren. Grundsätzlich könnte die Kohäsionspolitik jedoch in Verbindung mit klugen nationalen Politiken die Standortattraktivität ärmerer Länder durch bessere Infrastruktur und Bildung erhöhen. Der Fall Irland belegt am besten diese Option, mit EU-Hilfen spürbare Verbesserungen zu erzielen, die es erlaubt haben, als „keltischer Tiger“ interessante Segmente transnationaler Produktions- und Wertschöpfungsketten auf sein Territorium und in seinen Besteuerungsraum zu ziehen.
  • Migrationspolitik: Sieht man von den – allerdings nicht unbedeutenden – Risiken des „brain drain“ ab, so könnten die ärmeren Länder von der Freizügigkeit in der EU am
    ehesten profitieren, da dazu keine weiteren Investitionen notwendig sind. Vor allem im grenznahen Raum findet Migration in Form von Pendeln schon statt und trägt zu einem Abschliff der steilen Einkommensbruchkante bei, allerdings potentiell auch durch Senkung der Nominaleinkommen auf der reicheren Seite. Migranten erhöhen zwar nicht das BIP, aber das BSP ihrer Herkunftsländer. Sie entlasten dort den Arbeitsmarkt, belasten aber dafür den der Gastländer, wo sie in der Regel am unteren Ende der Lohnpyramide schlecht qualifizierten Einheimischen Konkurrenz machen.

Um zusammenzufassen: Die EU-Integration erlaubt durchaus die Entwicklung der armen Länder, ja sie unterstützt sie mit einer Reihe von Politiken. Im Ergebnis kann das allerdings ganz anders aussehen, nicht zuletzt, weil die armen Länder die Chancen nicht wahrnehmen, den ebenfalls durch die Integration ausgelösten Risiken jedoch erliegen. Einige EU-Politiken weisen deutlich mehr Risiken als Chancen auf und müssten umgestaltet werden, wenn das Ziel der aufholenden Entwicklung und Kohäsion Priorität haben soll.

Nur in Ausnahmefällen haben es arme Länder und Regionen in der EU geschafft, ihren Einkommensrückstand voll zu überwinden. Das irische Beispiel mit seinem außergewöhnlichen Erfolg in den 1990er Jahren belegt zwar diese Möglichkeit, legt aber auch die Befürchtung nahe, dass sie nur auf Kosten anderer Mitgliedstaaten und um den Preis wachsender Einkommensdisparitäten im aufholenden Land zu realisieren ist. Gerade in den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas mit ihren egalitären Traditionen und Erwartungen und sensiblen nationalen Befindlichkeiten drohen hier Konflikte.

Für die Demokratisierung der Integration schließlich impliziert dieser Befund, dass ärmere EU-Länder (nach einer Sammel-Erweiterung 2004 eventuell die Mehrheit) besondere Interessen an der Gestaltung der gemeinsamen Politiken einbringen sollten und werden. Sie betreffen nicht nur die unmittelbar wirksamen redistributiven Politiken der EU (Agrarpolitik, Struktur-, Regional- und Kohäsionsfonds), sondern auch die Währungspolitik, die Geldpolitik und die Wettbewerbspolitik. Angesichts verschärfter Einkommensdisparitäten erhält die Frage der Einkommensverteilung und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Korrekturmöglichkeiten, der der folgende Abschnitt gewidmet ist, besondere Bedeutung.

 

Der europäische Sozialraum: Opfer der Integration?

Europas Leistungen in punkto Beschäftigung und Verteilung haben sich mit wachsender Inte­gration keineswegs verbessert, wie die folgende Tabelle 2 zeigt. Inwieweit die Integration dafür verantwortlich ist oder ob durch sie Schlimmeres verhindert wurde, kann wahrscheinlich schon theoretisch nicht zweifelsfrei geklärt und erst recht nicht empirisch belegt werden. Die Tatsache, dass sich hinter dieser europäischen Entwicklung sehr unterschiedliche nationale Entwicklungen verbergen, spricht wieder für die Bedeutung nationaler Politiken und Strukturen. Aber einige mögliche Kausalketten zur Begründung globaler und europäischer Ursachen lassen sich aufweisen.

Tabelle 2: Beschäftigung und Verteilung in Europa 1960-2001

Jahr

1960

1961-70

1971-80

1981-90

1991-2000

2001

Lohnquote

72,5

69,8

70,0

68,7

67,0

66,2

Arbeitslosigkeit

2,3

2,2

4,0

9,0

9,9

7,7

Quelle: Eurostat

Die Interessen der sozial Schwachen in Europa und vor allem in den relativ reicheren Teilen der EU werden – zumindest potentiell – durch folgende Integrationsprozesse betroffen:

  • Handel: Freihandel führt dank der von ihm ausgelösten Produktivitätssteigerungen immer zu Beschäftigungseinbußen, wenn nicht die Gesamtnachfrage zunimmt. Speziell der Handel innerhalb der (demnächst um Niedriglohnländer erweiterten) Union, der Abbau fast aller Handelsbarrieren gegenüber vielen ärmeren assoziierten Ländern und die Handelsliberalisierung in der WTO haben den Markt der reicheren EU für Produkte geöffnet, die dank niedriger Löhne (oder anderer Arbeitskosten einschließlich der durch Arbeitsschutz- und Arbeitszeitbestimmungen, Mitbestimmungsrechte etc. bedingten Kosten) besonders mit jenen eigenen Produktionen konkurrieren, die relativ viel und weniger qualifizierte Arbeit benutzen. Im Ergebnis dürfte die Nachfrage nach dieser Arbeit in der EU sinken. Sinken ihre Kosten (vor allem Lohn) nicht ebenfalls, so steigt die Arbeitslosigkeit.
  • Kapitalströme: Kapitalbewegungen, vor allem in Form von Auslandsinvestitionen und damit verbundenen Produktionsverlagerungen, die durch ähnliche Kostengründe motiviert sind, wirken in die gleiche Richtung. Jedoch sind diese grenzüberschreitenden Investitionen für die meisten Länder relativ unbedeutend und umfassen einen hohen Anteil von anders motivierten Investitionen (z.B. Markterschließung, Fusionen, Übernahmen). Aber das oben betrachtete irische Beispiel belegt, dass Auslandsinvestitionen die Verteilungsverhältnisse vor allem in kleinen Volkswirtschaften massiv beeinflussen können.
  • Migration: Einwanderung aus Billiglohnländern hätte ebenfalls einen ähnlichen Effekt, indem sie die einheimischen, weniger qualifizierten Arbeitskräfte der Konkurrenz durch die Migranten aussetzt. Offiziell ist diese Einwanderung aber stark reglementiert und eingeschränkt, was allerdings eine große Zahl illegaler Einwanderer nicht ausschließt. Legale Einwanderung (im Gegensatz zu Pendlern oder illegalen Migranten) werden mittelfristig ähnlich hohe Reproduktionskosten haben und daher ähnlich hohe Löhne fordern. Grundsätzlich sind EU-interne Migrationsbewegungen relativ schwach ausgeprägt. Von insgesamt 8,2 Millionen ausländischen Erwerbspersonen in der EU kamen gerade 2,9 Millionen aus der EU selbst.[14] Das ist bei einer Bevölkerung von 377 Millionen kein allzu großer Anteil. Hinzu kommt eine mögliche Sozialmigration, die nicht durch Aussicht auf Beschäftigung, sondern auf Sozialhilfeleistungen motiviert ist. Sie belastet öffentliche Haushalte und schränkt deren Leistungsfähigkeit für die eigenen Bürger ein.
  • Steuerkonkurrenz: Alle drei wesentlichen Steuerquellen (Haushalte, Unternehmen, Güter und Dienstleistungen) sind – wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß – grenzüberschreitend mobil. Sie neigen naturgemäß dazu, sich an den Ort der niedrigsten Besteuerung zu bewegen, wenn dem keine die Steuerersparnis übersteigenden Kosten entgegenstehen. Sehen sich Staaten daher zur Steuersenkung gezwungen bzw. verlieren die stärker besteuernden Länder ihre „Steuersubjekte“, so verringert sich damit der Spielraum für staatliche Umverteilung. Haushalte bzw. Einkommensbezieher sind am wenigsten mobil. Nur wenige Reiche und auf internationalen Märkten operierende Selbständige können ohne größere Nachteile ihren Wohnsitz und damit ihren Steuerort frei wählen. Die direkte Besteuerung von Einkommen aus Arbeit ist daher keinem allzu großen Wettbewerb ausgesetzt und kann den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Die Besteuerung von Einkommen aus Vermögen, vor allem Zinsen, ist problematischer, da der Steuergegenstand häufig mobil ist. Damit stellt sich das Problem der Kontrolle und Steuergerechtigkeit, das auch nur teilweise auf europäischer Ebene zu lösen ist. Immobiles Vermögen ließe sich dagegen relativ leicht besteuern.
    Unternehmen sind kurzfristig ebenfalls wenig mobil, können aber eventuell mittel- bis langfristig ihren Standort verlagern, um einer hohen Besteuerung zu entgehen. Allerdings sind die Gewinne mobiler als die Unternehmen. Sie können - z.B. durch Verrechnungspreise – innerhalb eines multinationalen Unternehmens an den Ort der günstigsten Besteuerung verlagert werden. Umsatz- und Verbrauchssteuern belasten den Konsum. Soweit Waren und Dienst­lei­stungen ex- und importiert werden, waren schon seit Gründung der EWG vertragliche Vorkehrungen zu treffen, um den unterschiedlichen Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen Rechnung zu tragen. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sind bei den indirekten Steuern auch relativ am geringsten. Sie lagen 2000 zwischen 11,9 Prozent des BIP in Spanien und 17,3 Prozent in Dänemark. Die großen Unterschiede bei den Einnahmen (zwischen 34,7 Prozent des BIP in Irland und 57,5 Prozent in Schweden) resultieren daher überwiegend aus Unterschieden bei den direkten Steuern und Sozialabgabesätzen.

Wichtige Akteure wie Arbeitgeber oder Politiker benutzen den Verweis auf angebliche außenwirtschaftliche Zwänge, um bestimmte Verteilungsstrukturen (z.B. niedrigere Löhne oder andere Steuersätze und- gegenstände) oder Regeln wie etwa bzgl. der Gestaltung der industriellen Beziehungen (Streikrecht, Mitbestimmung etc.) durchzusetzen. Spiegelbildlich sehen sich dann die sozial Schwächeren, die Arbeitnehmer und ihre politischen Vertreter als Opfer der Integration. De facto sind die hausgemachten Strukturen und Politiken bedeutsamer. Das am ehesten mit der Öffnung verbundene Nachlassen der Nachfrage nach wenig qualifizierter Arbeit ist in hohem Maße auch durch technologische und betriebsorganisatorische Veränderungen bedingt, die aber letztlich nur einen anderen Weg zur Senkung der Lohnstückkosten darstellen. Gravierender wirkt sich das unterschiedliche Beschäftigungswachstum in den nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Sektoren (Dienstleistungen) aus, das stärker durch unterschiedliche Steuersysteme und Sozialpolitiken bedingt ist.[15]

Diese Marktwirkungen der Integration sind relativ wenig EU-spezifisch. Sie sind Teil der Globalisierung, zu der die EU aber durch eigene Entscheidungen kräftig beigetragen hat. In ihrem Inneren verstärkt und ergänzt sie diese Prozesse durch Gemeinschaftspolitiken, deren Auswirkung auf die Verteilung und den Wohlfahrtsstaat auch nicht unbedingt positiv ist:

  • Binnenmarkt: Der Binnenmarkt verschärft die oben beschriebenen Markteffekte und den Wettbewerb der Standorte, da er noch radikaler aller Barrieren für grenzüberschreitende Bewegungen von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen abschafft. Allerdings unterbinden seine Regelungen auch bestimmte Formen von Wettbewerbsvorteilen wie geringere Arbeitsschutz, schwächere Umweltauflagen oder schädliche Produktqualität.
  • Erweiterung: Die Assoziierung und (später) der Beitritt mehrerer postkommunistischer Länder integriert ein großes Angebot billiger, oft qualifizierter Arbeit in die europäische Wirtschaft mit Auswirkungen auf Beschäftigung, Wachstum und Einkommensverteilung durch Importkonkurrenz, Produktionsverlagerung und Migration.
  • Währungsunion: Die im Vertrag von Maastricht festgelegten Kriterien schränken die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten ein. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt begrenzt die Haushaltsdefizite und die Staatsverschuldung und erschwert so eine Beschäftigungspolitik nach Keynesianischem Muster. Sie kann also den Druck auf Konsolidierung der Staatshaushalte so verstärken, dass Sozialausgaben gekürzt werden müssen.
  • Koordination und Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Angesichts des offensichtlichen Einflusses, den nationale Politiken auf den Wettbewerb ausüben, hat die EU eine Reihe von Regelungen eingeführt um “unfairen” Wettbewerb zu verhindern. Diese Regeln führen häufig Standards ein, die höher sind als in schwach regulierten Volkswirtschaften. Aber in einigen Fällen könnte es auch zu einer de facto Harmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Standard führen. Der Vertrag von Amsterdam sowie eine Reihe von EU-Gipfeln (vor allem in Lissabon, aber auch in Luxemburg, Cardiff und Köln) haben Prozesse und Strukturen etabliert, die die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten abstimmen und reformieren sollen und so die Rolle der EU stärken. Obwohl die Kompetenzen meist bei den Nationalstaaten bleiben, nutzt die EU Instrumente wie die „offene Koordinierung“ oder „bench-marking“, um nationale Aktionspläne zu überwachen, Ziele zu vereinbaren und „best practice“ zu verbreiten.
  • Wettbewerbspolitik: Die Wettbewerbspolitik und die Lissabon-Strategie der EU zielen langfristig auf einen EU-weiten Markt für Dienstleistungen, der auch öffentliche Dienstleistungen (Daseinsvorsorge), die wichtig für den Wohlfahrtsstaat sind, umfassen könnte. In den Sektoren Energie, Transport und Telekommunikation hat der so verschärfte Wettbewerbsdruck auch schon gelegentlich zum Beschäftigungsabbau geführt. Gesundheit und Erziehung gehören zu den öffentlichen Dienstleistungen mit massivem Umverteilungscharakter. Ihre Marktorientierung und Privatisierung könnte “Kunden” mit niedrigem Einkommen benachteiligen.

Innerhalb der EU treffen also die Wirkung besonders weitgehend entgrenzter Märkte und gemeinsamer Politiken aufeinander und verändern die Handlungsspielräume der nationalen Akteure, insbesondere auch der Wohlfahrtsstaaten selbst.

 

Wohlfahrtsstaaten im Wettbewerb

(Die Gefährdungen des europäischen Sozialmodells gehen stärker von seiner inneren Struktur als von außen aus.)

(Die EU-Mitgliedschaft verändert die Konfliktlinien der Verteilungskämpfe und schränkt die der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlaubten Anpassungsmechanismen gegenüber veränderten Wettbewerbsverhältnissen ein.)

So plausibel die oben angedeuteten Wirkungszusammenhänge sein mögen, sie lassen eine zentrale Frage offen: Warum weisen angesichts gleicher Herausforderungen die Wohlfahrtsstaaten Europas so unterschiedliche Ergebnisse auf - zumal sich die Gemeinsamkeiten partiell auch durch gemeinsame säkulare Trends (Wachstumsabschwächung nach 1972, technologischer Wandel, Demographie) erklären lassen, die nicht direkt mit der außenwirtschaftlichen Öffnung zusammenhängen?

Die unterschiedlichen Ergebnisse sind einer Verschränkung nationaler Politiken und Strukturen mit dem internationalen Umfeld von Märkten und transnationalen Politiken geschuldet. Dabei spielen strukturelle Faktoren wie das Entwicklungsniveau, der Branchenmix einer Volkswirtschaft, die regionale Außenhandelsstruktur ebenso eine Rolle wie institutionelle Faktoren (politisches System, Typ des Wohlfahrtsstaates, Arbeitsbeziehungen, etc.), ganz zu schweigen von nationalen Umbrüchen wie der deutschen Einigung. Diese Faktoren schaffen spezifische Verwundbarkeiten und Stärken. Nicht zufällig haben bestimmte Länder bestimmte Integrationsschritte abgelehnt oder verzögert, da sie dadurch Nachteile erwarteten. Das tun nicht nur Beitrittskandidaten, die auf Ausnahme- und Übergangsregeln drängen, sondern auch Altmitglieder, etwa Großbritannien bei der Sozialcharta. Bei der Währungsunion taten dies neben Großbritannien auch Schweden und Dänemark, weil sie zur Sicherung von Beschäftigung und sozialem Ausgleich stärker auf Abwertungen und Haushaltsdefizite zurückgreifen, die im Euroland beide nicht oder nur sehr eingeschränkt erlaubt sind.

Konzentriert man sich auf die nationalen Ursachen der Unterschiede im Einkommen, in der Beschäftigung und im Wohlfahrtsniveau, so erweist sich der europäische Sozialraum weniger als Opfer der Integration, denn als Opfer nationaler gesellschaftlicher Prozesse. Im Grunde hängt das Volkseinkommen eines Landes von der Produktivität und vom Arbeitseinsatz ab. Viele der gerade von der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung erkämpften und geschätzten sozialen Fortschritte senken das potentielle Einkommen, indem sie z.B. die Arbeitszeit reduzieren oder die Produktivität durch Auflagen (Umweltschutz, Sicherheit am Arbeitsplatz, mehr Mitbestimmung etc.) senken[16]. Das mag zwar den nicht in Einkommen gemessenen Wohlstand in Form von Lebenserwartung, Gesundheit oder Freizeit erhöhen, aber es verschlechtert auch die Wettbewerbsposition wie umgekehrt eine Lockerung solcher Schutzregeln die Wettbewerbsfähigkeit verbessert.

Letztlich geht es auch um die Verteilung der Produktivitätsgewinne zwischen höheren Einkommen entweder der Arbeiter oder Kapitalgeber, niedrigeren Preisen, die allen Konsumenten zugute kommen und die Exporte erhöhen, oder den vorgenannten immateriellen Nutzen. Damit droht ein Unterbietungs­wettlauf, bei dem die Konsumenten im unterbotenen Land profitieren, die Produzenten jedoch potentiell aus dem Markt gedrängt werden, wenn nicht durch Abwertung, Zölle oder Subventionen wieder eine Rückverteilung von Konsumenten auf die Produzenten erfolgt. Diese Instrumente verbieten sich aber alle im Euroland. Damit stellt sich das Problem einheitlicher, auf EU-Ebene zu setzender Normen, deren Umverteilungseffekte zwangsläufig politische Konflikte auslösen, die durch eine demokratische Gestaltung der Integration zu lösen sind.

Die unterschiedliche Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials, die ihrerseits wieder von den Steuer- und Sozialsystemen abhängt, erklärt einen beachtlichen Teil der Einkommensunterschiede zwischen den EU-Ländern. So reduziert der hohe Teilzeitarbeitanteil bzw. die geringere Jahresarbeitszeit die Produktivität pro Arbeitnehmer (verstanden als Output pro Jahr) vor allem in den Niederlanden, Italien und Deutschland, während in Spanien der umgekehrte Effekt eintritt. Hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Partizipationsraten senken das Prokopfeinkommen überdurchschnittlich in Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland und Spanien, während Dänemark hier seine niedrigere Produktivität pro Arbeitsstunde ausgleichen kann (siehe Tabelle 3).[17]

Unterschiedlich hohe Einkommen erlauben wiederum unterschiedliche Umverteilungsspielräume. Mit dem Prokopfeinkommen steigt der Anteil der Sozialausgaben am BIP. Diese Korrelation ist für die Gesamtausgaben relativ eng, obwohl sie für einzelne Ausgabenkomponenten, die eher von den unterschiedlichen sozialen Sicherungssysteme in Europa abhängen, nicht nachzuweisen ist. Da Sozialausgaben die Wettbewerbsfähigkeit belasten können, wurde zur Vermeidung eines Unterbietungswettlaufs vorgeschlagen, den EU-Mitglieds­staaten einen Korridor (Busch[18]) vorzu­geben, indem sich die Sozialaus­gaben bewegen sollten, oder eine Untergrenze (Scharpf[19]). Korridor und Untergrenze würden mit dem BIP ansteigen, womit ärmere Länder vor Wettbewerbs­nachteilen geschützt werden, während den reicheren höheren Solidaritätspflichten nahegelegt werden. Zurecht werden Länder mit geringeren sozialen Problemen betonen, dass die geringen Ausgaben diesem Zustand entsprechen. Es ist kaum zu fordern, dass ein Land mit wenig Alten, Armen und Arbeitslosen ebensoviel ausgibt wie ein Land mit vielen.


Tabelle 4: Armut, Mindesteinkommensregelungen und Sozialausgaben in der EU

Land

Armut
(% der Bevölkerung mit einem Einkommen von unter 50% des nationalen Durchschnittseinkommens)
1996

Mindesteinkommen in % des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens

Sozialausgaben in %
des Bruttoinlandsproduktes
1997

Belgien

13,6

30,9

28,5

Dänemark

6,9

43,7

31,4

Deutschland

13,7

14,6

29,9

Finnland

8,0

20,7/21,7

29,9

Frankreich

14,1

19,3

30,8

Griechenland

20,1

k.A.

23,6

Großbritannien

19,9

20,7

26,8

Irland

20,5

29,9

17,5

Italien

18,2

k.A.

25,9

Luxemburg

12,9

29,8

24,8

Niederlande

11,8

38,7

30,3

Österreich

10,4

20,1

28,8

Portugal

22,7

15,4

22,5

Schweden

k.A.

24,7

33,7

Spanien

18,0

20,8-30,5

21,4

Quelle: Lydia Kocar „Armut in Europa. Eine Einführung“ in: Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften in Osnabrück (Hg.) „Forum für soziale Gerechtigkeit in Europa“ (KooperationsScripte 1), Osnabrück 2001, Pierre Guibentif/Denis Bouget: Mindesteinkommen in der Europäischen Union – ein sozialpolitischer Vergleich, Lissabon 1997; Göran Therborn: Die Gesellschaften Europas 1945-2000, ein sozialpolitischer Vergleich, Frankfurt a.M. 2000,

Das Niveau der Sozialausgaben ist dabei weniger wichtig als die Art ihrer Finanzierung und die Verwendung. So ist das Niveau nicht mit dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit korreliert - wie von liberalen Kritikern des Wohlfahrtsstaates gern unterstellt wird. Die Finanzierung durch einkommensbezogene Abgaben (wie in Deutschland) erhöht jedoch die Arbeitskosten, was vor allem die Nachfrage nach gering entlohnter und wenig produktiver Arbeit im Dienstleistungssektor verringert. Umgekehrt schaffen steuerfinanzierte öffentliche Sozialdienstleistungen Arbeitsplätze (z.B. in Skandinavien). Dienstleistungen sind derjenige Sektor, der die größten Beschäftigungspotentiale bietet, dessen Wachstum aber stark von steuerlichen, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Regelungen abhängt.[20]

Die Toleranz für die Übernahme der Kosten bezahlter Nichtarbeit sinkt mit den Wachstums­raten des Einkommens. In Zeiten starken Wachstums (1950-1973) war man bereit den Wohlfahrtsstaat auszubauen und immer weiteren Gruppen das Recht auf Transfereinkommen zuzugestehen. Arbeitslose, Behinderte, Alte wurden immer früher, leichter und länger dazu berechtigt. Dabei ist es besonders problematisch, wenn die Finanzierungslasten in Form von Beiträgen nur auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden. Weigern sich Lohnempfänger, diese Belastungen zu akzeptieren, und versuchen sie ihre Nettolöhne zu verteidigen, so können bei gleich bleibender Produktivität folgende Konsequenzen eintreten: Auch in einer geschlossenen Volkswirtschaft steigen die Preise und real sinken die Löhne wieder. In einer offenen Volkswirtschaft wäre die höhere Inflation durch Abwertung zu kompensieren, wodurch sich die Kosten je nach ihrer Beteiligung am Außenhandel anders zwischen Produzenten verschiedener Branchen und Konsumenten verteilen. Im EU-Binnenmarkt sind Preissteigerungen gegen die Konkurrenz im Euroland nicht durchzusetzen; die Unternehmen müssen sich auf die zu den höheren Löhnen noch wettbewerbsfähige Produktion beschränken - mit der Folge von Krisen in arbeitsintensiven Branchen und Entlassungen. In diesem Fall droht bei den Beschäftigten die Wahrnehmung, dass die internationale Konkurrenz („Globalisierung“ bzw. „der Euro“) ihnen wahlweise entweder ihre soziale Sicherung oder ihr Einkommen oder ihre Beschäftigung untergräbt.

Umgekehrt kann man Beschäftigung schaffen, wenn die potentiellen Arbeitnehmer ein niedriges Ein­kom­men akzeptieren. Dies gilt auch nach außen: Durch Abwertung kann man die Exporte und die Beschäftigung steigern, indem man die einheimische Arbeit im internationalen Wettbewerb verbilligt. Wenn Abwertung nicht mehr möglich ist, droht, solange in fast allen EU-Ländern Arbeitslosigkeit besteht, ein Unterbietungswettlauf, der versucht, Beschäftigung im eigenen Land durch Lohnsenkung zu schaffen. Dies wurde in der Vergangenheit durch „competitive disinflation“ (niedrigere Preissteigerungen als die Konkurrenten) versucht. [21] Die im Erfolgsfall drohende nominale Aufwertung käme in der Währungsunion nicht zustande. Real käme sie in Form von Lohn-, Kosten- und Preissteigerungen erst dann zum Tragen, wenn das vorhandene Arbeitsangebot ausgeschöpft wäre.

Will man gleichzeitig Vollbeschäftigung und sozialen Ausgleich, so verän­dern sich die Optionen der Beschäftigungspolitik. Die schmerzloseste Lösung ist, die Produktivität der Arbeitslosen durch Bildung so zu steigern, dass sie für die Arbeitgeber auch bei höheren Löhnen attraktiv sind. In den Fällen, wo dies nicht möglich ist, könnte man die Lage auch der zu einem (niedrigen) Markteinkommen Beschäftigten verbessern, indem man ihre Nettoeinkommen durch steuerliche Umverteilung oder Entlastung bei den Sozialabgaben (Kombilohn, negative Einkommenssteuer) oder durch Zugang zu Kapitaleinkommen (Vermögensbildung der Arbeitnehmer) aufstockt. Die oben betrachteten Integrationsmechanismen unterwerfen diese Optionen unterschiedlichen Beschränkungen und Risiken.

Zusammenfassend gilt, dass die Gefährdungen des europäischen  Sozialmodells stärker von seiner inneren Struktur als von außen ausgehen. Aber in der Tat sind manche, gerade spezifisch europäischen Elemente, insbesondere des „kontinentalen“ Modells[22], stärkeren Belastungen durch die Integration ausgesetzt als andere. Vor allem am unteren Ende der Produktivitätsskala kann Beschäftigung nicht zu den Löhnen stattfinden, die in Europa üblich und notwendig sind, um menschenwürdig zu leben und die Umverteilung zur Nichtarbeit zu finanzieren. Das Niveau dieser Umverteilung bestimmen aber weitgehend nationale politische Interessen und Prozesse. Die EU-Mitgliedschaft verändert jedoch die Konfliktlinien dieser Verteilungskämpfe und schränkt die der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlaubten Anpassungsmechanismen gegenüber veränderten Wettbewerbsverhältnissen ein. Die dadurch ausgelösten Legitimationskrisen nationaler Politik verlängern sich in die europäische Mehrebenendemokratie.

 

Die notwendige Demokratisierung der unpopulären Integration

(Lässt man mehr nationale Alleingänge und Sonderregelungen zu, so droht sich der Systemwettbewerb wieder zu verschärfen, der durch harmonisierte Bedingungen gerade in geregelte Bahnen gelenkt werden sollte. Setzt die EU jedoch harmonisierte Bedingungen durch, so betritt sie einen endlosen Sumpf immer weiterer Regulierungstatbestände.)

(Bei real sehr unterschiedlichen Strukturen bedeutet die Anwendung einheitlicher Normen naturgemäß sehr unterschiedliche Anpassungslasten.)

Der Preis traditioneller und „geliebter“ nationaler Politiken und Strukturen kann im Kontext der Vertiefung und Erweiterung schmerzhaft ansteigen. Bisher haben die EU-Mitgliedstaaten auf Teile ihrer nationalen Souveränität verzichtet, da sie sich davon Vorteile beim Management der realen Anpassungen erwarteten. Aber bleibt das so? Für Länder wie Luxemburg und Irland könnte etwa eine Steuerharmonisierung in der EU das Ende geliebter Einnahmequellen bedeuten. Im Euroland mögen harte Alternativen zwischen Einkommenseinbußen oder Beschäftigungsverlusten oder die erschwerte Finanzierbarkeit von wohlfahrtsstaatlichen Systemelementen die Bürger besonders irritieren, wenn sie als Auswirkung innereuropäischen Wettbe­werbs erlebt werden. Schon heute benutzen nationale Regierungen die EU als Sündenbock für „unpopuläre“ Politiken. Das hat vor allem seit den Beschlüssen von Maastricht mit ihren weitreichenden Folgen das Ansehen der EU gesenkt und die Zustimmung zur Integration untergraben (vgl. Tabelle 5). Die EU scheint damit das Schicksal der oft verschrieenen Globalisierung zu teilen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass für bestimmte Länder bzw. Zielgruppen (z.B. arme Regionen, Bauern) die EU selbst durch ihre redistributiven Politiken die Einkommenschancen bestimmt. Im Gegenteil: Die Aufrechterhaltung dieser Umverteilungsstrukturen ist Gegenstand massiver politischer Konflikte in der EU. Ihr Management ist eine weitere Aufgabe der europäischen Mehrebenen-Demokratie.

 

Tabelle 5: Zustimmung und Bewertung der EU-Mitgliedschaft

 

1983

1990

1996

2000

2001

EU Mitgliedschaft „gute Sache“

54

72

47

50

48

EU-Mitgliedschaft vorteilhaft für mein Land

52

59

44

47

45

Quelle: Eurobarometer

Die euroskeptischen EU-Bürger – ganz zu schweigen von den Regierungen einzelner Mitgliedstaaten - haben aber nur bedingt Anlass, sich über mangelnde demokratische Einwirkungsmöglichkeiten zu beschweren. Sie sind – wenn auch meist indirekt – an den wichtigsten Entscheidungen beteiligt:

  • Die erste und wichtigste Entscheidung ist der Beitritt eines Landes zu EU selbst. Er wird nicht nur vom Parlament beschlossen, sondern war in vielen Ländern auch Gegenstand eines Referendums, das gelegentlich (z.B. in Norwegen und der Schweiz) auch negativ ausging. Auch Parlamente haben sich schon gegen einen Beitritt bzw. die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens ausgesprochen (z.B. Malta Anfang der 90er Jahre).
  • Änderungen der konstitutionellen Grundlagen der Integration in Gestalt der Verträge sind jeweils von den nationalen Parlamenten zu verabschieden und unterliegen in einigen Mitgliedstaaten zusätzlich noch Volksabstimmungen, die keineswegs bedeutungslos sind, wie die dänische Ablehnung des Maastrichtvertrages und die irische Ablehnung des Vertrages von Nizza belegen.
  • Die Assoziierung und Erweiterung (vor allem auch um ärmere Kandidaten) ist im Sinne einer weiteren Globalisierung eine der kritischsten Entscheidungen, die die EU zu treffen hat. Sie ist ebenfalls in allen Altmitgliedern vom Parlament zu ratifizieren. Eine Gedankenspiel des Erweiterungskommissars Verheugen, auch Referenden dazu durchzuführen, stieß auf verbreitete Kritik. In der Tat hat jedoch Frankreich vor der Aufnahme Großbritanniens (und Irlands und Dänemarks) ein Referendum durchgeführt, das der Erweiterung zustimmte.
  • Die Handelspolitik ist Kompetenz der Kommission (ohne Mitwirkung des Parlaments) und daher der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen. Allerdings gibt es natürlich ein Lobbying sowohl der Regierungen als auch betroffener Industrien.
  • Der Binnenmarkt unterliegt dem „normalen“ Verfahren der Beschlussfassung durch den Rat auf Vorschlag der Kommission und unter Mitwirkung des Parlaments. Obwohl viele Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit fallen können, ist in wichtigen Bereichen (noch) Einstimmigkeit (z.B. Steuerharmonisierung) erforderlich.

Die Entscheidungsverfahren in der Mehrebenenpolitik der EU sind naturgemäß noch weiter vom Wahlbürger entfernt als nationale demokratische Prozesse. Allerdings haben sich mit der Direktwahl des europäischen Parlaments (EP) die Mitwirkungsmöglichkeiten verbessert. Aber das EP hat nur beschränkte Kompetenzen, die viele wichtige Bereiche ausklammern. Die Wahlbeteiligung ist notorisch gering, wenn es keine Wahlpflicht gibt oder die Wahl nicht mit nationalen Wahlen zusammenfällt. Das geringe Interesse der Wähler resultiert einmal aus der perzipierten Schwäche des Parlaments, zum andern aus der Struktur der europäischen Parteien. Trotz verbreiteter Euroskepsis (siehe oben Tabelle 5) gibt es kaum nennenswerte politische Kräfte, insbesondere Parteien, die eine euroskeptische oder gar Anti-Integrationspro­grammatik vertreten, mit der notorischen Ausnahme der britischen Konservativen. Dieses Fehlen eines politisch artikulierten Gegensatzes zwischen Integrationsgegnern und -befürwortern in den Gesellschaften der EU behindert eine demokratische Kontrolle der EU. Wenn die Integrationsverlierer zu Mehrheiten werden, könnte sich das aber rasch und dramatisch ändern.[23]

Am stärksten ist die europäische Geldpolitik einer demokratischen Kontrolle entzogen. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank übertrifft sogar noch ihr Vorbild, die deutsche Bundesbank. Wechselkurs- und Fiskalpolitik sind aber stärker intergouvernemental im Rahmen des ECOFIN-Rates organisiert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt schränkt hier die nationalen Handlungsspielräume weiter mit massiven Sanktionsandrohungen ein. Es bleibt abzuwarten, wie gut die Konfliktregelung bei stärkeren Unterschieden in Politikpräferenzen (z.B. angesichts assymetrischer Schocks) funktioniert.[24] Die Regierungen werden möglicherweise starkem gesellschaftlichem Druck ausgesetzt sein, wenn Anpassungslasten direkter in Form von Realeinkommenseinbußen bestimmter Gruppen anfallen.

Die eigene Regierung, die sich der Wiederwahl stellen muss, bleibt der wichtigste Ansprechpartner der Wähler bezüglich der Integrationspolitik. Die Regierungen haben den mächtigsten Einfluss auf die Gestaltung der EU-Politik und der Integration. Die europäische Einigung ist primär ein intergouvernementales Projekt. In vielen wichtigen Fragen bedarf es der Einstimmigkeit im Rat, nicht zuletzt bei wichtigen institutionellen Entscheidungen wie der Ernennung der Kommission. Ansonsten sichert die qualifizierte Mehrheit auch kleineren Ländern einen überproportionalen Einfluss zu – wie übrigens auch im Parlament. Die Regierungen unterliegen zwar prinzipiell in ihren jeweiligen Ländern der parlamentarischen Kontrolle, aber de facto ist ihr Verhalten im Rat bzw. den verschiedenen Räten und in den real fast wichtigeren vorgelagerten Treffen des Ausschusses der Ständigen Vertreter (COREPER) weitgehend der Aufsicht und Mitwirkung der Legislative entzogen. Es sind die verschiedenen, inzwischen sehr zahlreichen Ministerien (nicht nur das Außenministerium, sondern auch fast jedes andere hat heute Europaabteilungen oder -referate), die den Gesetz- und Verordnungsprozess der EU steuern.

Allerdings darf man sich diesen Prozess nicht als hermetisch gegen die Gesellschaft abgeschirmte Geheimdiplomatie vorstellen. Wichtige Interessengruppen (Unternehmer, Verbraucher, Umweltorganisationen etc.) nehmen auf ihn durch ihre Lobbyorganisationen, von denen es inzwischen in Brüssel ein große Anzahl gibt, Einfluss. Im Bereich der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen und der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern fördert und unterstützt die EU offiziell eine Art „Eurokorporatismus“. Aber es fehlt letztlich eine europäische Öffentlichkeit, die die Meinungsbildung eines europäischen „Demos“ strukturiert. Schon aus Sprachgründen dominiert nach wie vor die nationale Politik.

Nationale politische Erfahrungen, Strukturen und Kultur prägen auch die Erwartungen der jeweiligen Gesellschaften an die politische Gestaltung der europäischen Einigung. Für die Briten braucht Europa keine Verfassung, für die Deutschen wäre es am besten eine große Bundesrepublik, für die Franzosen steht eine effiziente Verwaltung im Vordergrund, deren parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle zweitrangig erscheint.[25] Derartige Unterschiede, die sich unter 15 oder demnächst 25 Mitgliedstaaten noch vermehren lassen, erschweren naturgemäß den Aufbau einer europäischen Staatlichkeit und produzieren Konflikte über Verfahren und Institutionen, auch wenn diese keine direkte Auswirkung auf den eigentlich wichtigeren sozioökonomischen Output der Integration haben.

Die Unzufriedenheit der Wähler sowie regionaler und nationaler Interessen mit dem Output der europäischen Politik artikuliert sich in immer wieder neuen Überlegungen und Vorschlägen zur Kompetenzverteilung, einer anderen Gewaltenteilung, eventuell gebündelt in einer Verfassung. Mehr Subsidiarität und Flexibilität sollen die Europapolitik den Bürgern und nationalen Wünschen näher bringen. Doch angesichts der realen Integration der Märkte wirft die Differenzierung der Politik stets neue Probleme auf. Lässt man mehr nationale Alleingänge, und Sonderregelungen zu, so droht sich der Systemwettbewerb wieder zu verschärfen, der durch harmonisierte Bedingungen gerade in geregelte Bahnen gelenkt werden sollte.

Man nehme etwa die Wettbewerbspolitik: Die Gestaltung des Binnenmarkts ist nach der Währungsunion der Bereich, in dem die EU besonders weit über die globalen Regime hinausgegangen ist, um in Europa Chancengleichheit für alle Produzenten herzustellen. Ließe die EU mehr Ausnahmen zu, so würden sich die Konkurrenten in anderen Länder in ihren Interessen bedroht fühlen. Die Konsumenten profitieren zwar von jeder Kostensenkung (durch Subventionen, öffentliche Vorleistungen etc.), aber die Regierungen reagieren im Namen der Produzenten und eventuell auch im langfristigen Interesse der Konsumenten. Denn durch unfairen Wettbewerb könnte die Produzentenvielfalt ausgedünnt werden und späteren Preiserhöhungen durch die überlebenden Oligopolisten ist vorzubeugen, wenn die Marktzugangsbarrieren für Neuanbieter hoch sind. Setzt die EU jedoch harmonisierte Bedingungen durch, so betritt sie einen endlosen Sumpf immer weiterer Regulierungstatbestände (Forschung, Infrastruktur, Bildung/Ausbildung, Arbeitsrecht Arbeitsbeziehungen, soziale Systeme, etc.), da sie alle die Kostenstruktur der Konkurrenten beeinflussen. Und diese Kostenstruktur wird im Euroland noch transparenter.

Hier vermengen sich alsbald zwei unterschiedliche Ansätze europäischer Politik. Der enge, realistische Ansatz würde nur die Tatbestände regulieren, die real grenzüberschreitende Märkte berühren. Supranational wäre demnach nur zu regeln, was national nicht mehr zu kontrollieren ist. Umgekehrt dürfte die EU sich nicht in nationale, „innere“ Angelegenheiten einmischen, die keine Außenwirkungen haben. Dieses Verbot entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Der zweite, normative Ansatz will gemeinsame europäische Werte durchsetzen. Das impliziert aber, dass diese gemeinsamen Normen demokratisch festzulegen sind, wobei der Grad der Zustimmung (qualifizierte Mehrheit, Einstimmigkeit) von der Tragweite der Normen abhinge. Bei real sehr unterschiedlichen Strukturen bedeutet die Anwendung einheitlicher Normen naturgemäß sehr unterschiedliche Anpassungslasten. Diese zutiefst politischen Entscheidungen fallen aber in der EU zu oft außerhalb demokratisch kontrollierter Gremien, nicht zuletzt im Europäischen Gerichtshof, dessen Rechtsprechung beim Binnenmarkt und in der Wettbewerbspolitik zunehmend das Spielfeld in einem Maße einzuebnen versucht, das wichtige gesellschaftliche Interessengruppen verstört.

So überzieht die reale Marktintegration Europa mit gegenseitigen Abhängigkeiten, die immer auch schon das Produkt politischer Entscheidungen sind und deren Regelung die Betroffenen von der Politik, und das heißt primär der ihnen jeweils zugänglichen, meist nationalen Politik, erwarten. Diese Regelung erfasst aber zwangsläufig kulturelle, gesellschaftliche und politische Strukturen und Interessen verschiedener Staaten und Regionen. Sie übersetzen sich in machtpolitische Konflikte, deren Austragung in institutionalisierten demokratischen Bahnen auch für den Frieden wichtig ist. Europa und die EU haben hier viel erreicht und könnten ein Vorbild sein. Aber sie zeigen auch deutlich die gewaltigen Probleme, die auf diesem Weg liegen, und deren Lösung auch in Europa noch lange nicht gelungen ist.

Die EU hat versucht und versucht weiter, Auswege aus diesem Dilemma zu finden. So hat sie in jüngster Zeit gerade im Bereich der schwierigen Reform der Sozial- und Beschäftigungspolitik die Methode der „offenen Koordinierung“ gewählt, die weniger verbindlich als etwa die Verabschiedung einer EU-Richtlinie ist, für die in einigen Bereichen auch die vertraglichen Grundlagen fehlen. Aber das Unbehagen der Mitgliedstaaten und auch der darunter befindliche Gebietskörperschaften (z.B. Bundesländer) bleibt stark. Sie sehen wichtige Interessen einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen gefährdet und verlangen eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen. Die beim EU-Gipfel in Laeken Mitte Dezember 2001 ins Auge gefasste Verfassung könnte und sollte hier Klarheit herbeiführen und die Grundlagen für eine demokratische Gestaltung der Integration schaffen.


[1] Vgl. BMAS, Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn 2001, Band 2, S.47.

[2] Vgl. EU-Kommission, Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Zusammenfassung, p.4

[3] Vgl. Michael Dauderstädt und Lothar Witte (Hg.), Cohesive Growth in the Enlarging Euroland, FES Bonn 2001.

[4] So die Annahme, die in klassischer Form von Paul Krugman und Anthony Venables in Integration and the Competitiveness of Peripheral Industry in Christopher Bliss and Braga de Macedo Unity with Diversity in the European Economy Cambridge et al. 1990, S. 56-75 vorgestellt wurde.

[5] Vgl. EU Kommissio, Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union, Brüssel 1999, S. 221

[6] Vgl. Michael Dauderstädt, „Irland, der "keltische Tiger" – Vorbild oder Warnung für ein wachsendes Europa?“ in: ifo Schnelldienst 6-2001

[7] Vgl. EU Kommission, Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union, Brüssel 1999.

[8] Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Europäische Wirtschaft Beiheft A, Wirtschaftsanalysen Nr.7, Juli 2001.

[9] Vgl. Annamaria Artner and Andras Inotai, Chances of Closing the Development Gap. A Statistical Approach, Institute for World Economics Working Papers Nr. 80, Budapest 1997

[10] Vgl. Europäische Zentralbank, Monatsbericht Oktober 1999 “Inflationsunterschied in einer Währungsunion”, pp. 39-49, und UN-ECE, Economic Survey of Europe 2001, No. 1, pp.227-241.

[11] So etwa der Vorschlag von Andrzej Bratkowsli and Jacek Rostowski “Unilateral adoption of the euro by EU applicant countries : the macroeconomic aspects” in: Lucjan T. Orlowski (ed.) Transition and Growth in Post-Communist Countries. The Ten-year Experience Cheltenham/Northampton 2001

[12] Vgl. Abel Mateus „Portugal’s Accession and Convergence Towards the European Union“ in Dauderstädt/Witte, a.a.O., S. 52-65.

[13] Vgl. Krugman und Venables, a.a.O..

[14] Vgl. Heinz Werner “Wirtschaftliche Integration und Arbeitskräftewanderungen in der EU” in: Aus Politik und Zeitgeschichte B8/2001 S.13.

[15] Vgl. Fritz W. Scharpf „Economic Changes, Vulnerabilities, and Institutional Capabilities“ in: Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt, Welfare and Work in the Open Economy (2 Bände), Oxford 2000, Vol. 1 From Vulnerability to Competitiveness, S.21-124.

[16] Steigt langfristig die Produktivität aufgrund besserer Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer (weniger Krankheit etc.) oder weniger Arbeitskonflikte, so löst sich das Dilemma ohnehin in Wohlgefallen auf.

[17] Vgl. Bert van Ark und Robert H. McGuckin „International comparisons of labor productivity and per capita income“ in Monthly Labor Review, July 1999, S. 33-41.

[18] Vgl. Klaus Busch „Das Korridormodell: ein Konzept zur Weiterentwicklung der EU-Sozialpolitik“ in Internationale Politik und Gesellschaft 2/98, S.147-156.

[19] Vgl. Fritz W. Scharpf, Governing in Europe: Effective and Democratic? Oxford 1999

[20] Vgl. Göran Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.

[21] Vgl. David P. Calleo, Rethinking Europe’s Future Princeton und Oxford 2001, S.154-175, sowie dort zitiert Jean-Paul Fitoussi, Competitive Disinflation: The Mark and Budgetary Policy in Europe Oxford 1993; ähnlich auch Scharpf/Schmidt a.a.O..

[22] Im Gegensatz zum angelsächsischen oder skandinavischen Modell (Vgl. Göran Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.).

[23] Vgl. Philippe C. Schmitter, How to Democratize the European Union And Why Bother? London, Boulder, New York, Oxford 2000.

[24] Vgl. kritisch dazu Christian Deubner, Währungsunion ohne Politische Union? SWP-Studie, Berlin 2001, der davon ausgeht, dass die vorhandenen Instrumente ausreichen.

[25] Vgl. Larry Siedentop, Democracy in Europe Harmondsworth 2000.

Michael Dauderstädt

* 1947;Volkswirt; Leiter, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn;

daudersm@fes.de


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