Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2001


Größere Berührungsflächen – mehr Reibungspunkte
Amerika und Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Ein Gespräch mit Karsten D. Voigt

Am 20. Januar 2001 wurde George W. Bush als 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in sein Amt eingeführt. Nach acht Jahren einer von den Demokraten geführten Clinton-Administration regieren damit in Washington wieder die Republikaner. Was vom neuen Präsidenten in der Außenpolitik zu erwarten ist, darüber sprach ipg-Redakteur Oliver Thränert mit Karsten D. Voigt, dem Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt und ehemaligen Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

Oliver Thränert: Herr Voigt, Ihr offizieller Titel lautet: „Koordinator für die deutsch-amerikanische zwischengesellschaftliche, kulturelle und informationspolitische Zusammenarbeit“. Erläutern Sie doch bitte einmal unseren Lesern, was dies konkret bedeutet und was auf Sie nun mit Antritt der neuen Regierung in Washington zukommt?

Karsten D. Voigt: Meine Aufgabe besteht in erster Linie darin, in den USA mit den Leuten, die ich besonders gut kenne, den Kontakt zu halten und zu intensivieren. Dabei handelt es sich um Mitglieder des Kongresses, um Wissenschaftler und Berater in den „Denkfabriken“ sowie um diejenigen Amerikaner, die sich entweder mit Deutschland beschäftigen oder die von deutschen Institutionen gefördert werden. Ziel ist es, das neue Deutschland - so wie es sich jetzt entwickelt und darstellt - zu erläutern. Zweitens versuche ich, umgekehrt in Deutschland die USA - so wie sie sich entwickeln in ihren Motiven, in ihren Interessen - darzustellen. Ansprechpartner hier in Deutschland sind Mitglieder der Regierung, Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie alle Einrichtungen, die sich in Deutschland mit den transatlantischen Beziehungen beschäftigen.

Oliver Thränert: Was bedeutet das für Sie, dass in Washington eine neue Regierung die Amtsgeschäfte übernimmt?

Karsten D. Voigt: Die meisten der Leute, die im außen- und sicherheitspolitischen Bereich in den USA jetzt in Funktionen gekommen sind oder noch kommen werden, sind mir aus den letzten zehn oder zwanzig Jahren schon aus persönlichen Gesprächen und Kontakten bekannt. Ich habe zum Beispiel Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin von Präsident Bush, zum ersten Mal bereits 1982 getroffen, auf einer Tagung in der evangelischen Akademie in Loccum. Und seitdem haben wir regelmäßig immer wieder miteinander gesprochen. Und so wird das mit den meisten Leuten sein, die im außen- und sicherheitspolitischen Bereich in der neuen Administration tätig sind. Das Netzwerk in den USA ist anders als in Deutschland. Wenn jemand aus der Regierung ausscheidet, dann wechselt er in die Wirtschaft oder in eine „Denkfabrik“ und wartet darauf, dass er beim nächsten Regierungswechsel wieder zum Zuge kommt. Daher ist man gut beraten, wenn man in den USA auch mit der jeweiligen Opposition, von nun an also mit den Demokraten, Kontakt hält. So wie wir uns während der Clinton-Jahre mit den Republikanern beschäftigt haben. Umgekehrt habe ich den Amerikanern auch immer geraten, SPD und Grüne nicht aus dem Blickfeld zu lassen. Und jetzt lege ich ihnen nahe, sich auch mit Christdemokraten und Liberalen zu befassen. Denn die spielen in der deutschen Politik eine Rolle, selbst wenn sie in der Opposition sind. In der Außen- und Sicherheitspolitik spielt Kontinuität eine große Rolle. Aber Demokratie hat mit demokratischem Wechsel zu tun. Insofern ist der demokratische Wechsel keine Krise, sondern ist ein ganz normaler Vorgang.

Oliver Thränert: Ein vor wenigen Wochen erschienener Sammelband zur amerikanischen Außenpolitik trägt den Titel „Weltmacht ohne Gegner“. Wie weit in das 21. Jahrhundert hinein werden die USA ihre jetzige Vormachtstellung tragen können?

Karten D. Voigt: Die USA bleiben auf absehbare Zeit die einzige Weltmacht. Aber sie sind kein Hegemon. Ein Hegemon ist in der Lage, allein seine Vorstellungen auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Dazu sind die USA nicht in der Lage. Die USA sind die einzig verbliebene Weltmacht. Aber selbst sie bleiben auf Partner angewiesen. Der Partner, der für die USA auf Grund der Parallelität der Interessen und der Wertvorstellungen der geeignetste ist, bleibt Europa. Das ist eine gesunde Basis für die transatlantischen Beziehungen. Nicht nur braucht Europa die USA, sondern auch die USA brauchen Europa.

Oliver Thränert: George W. Bush ist zwar nun gewählt, aber er hat nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich. Und im Kongress gibt es eine Pattsituation von 50:50 Senatoren und eine kleine Mehrheit im Repräsentantenhaus für die Republikaner. Man kann also davon ausgehen, dass Präsident Bush es in der Innenpolitik sehr schwer haben wird. Amerikanische Präsidenten neigen in einer solchen Situation dazu, das hat man auch in Clintons erster Amtszeit gesehen, dass sie das Feld der Außenpolitik suchen, um dort Stärke unter Beweis zu stellen. Erwarten Sie das auch von George W. Bush?

Karsten D. Voigt: Zunächst einmal, für uns ist der gewählte George W. Bush der legale und legitime Repräsentant der Vereinigten Staaten. Amerikanische Staatsbürger können selbstverständlich über die Umstände der Wahl streiten und über eine Reform des Wahlverfahrens diskutieren. Deutsche und Europäer dagegen akzeptieren den gewählten amerikanischen Präsidenten als den Repräsentanten der mächtigsten Nation der Welt. Er verfügt in der Außen- und Sicherheitspolitik über starke Vollmachten und dort ist er voll handlungsfähig. Deswegen scharen sich die Amerikaner in der Regel in Krisensituationen um ihren Präsidenten. Anders sieht das in der Innenpolitik aus. In der Innenpolitik glaube ich, weniger auf Grund der Umstände der Wahl, sondern mehr auf Grund des Patts im Senat und der knappen Mehrheiten im Kongress insgesamt, wird es Bush in den nächsten zwei Jahren sehr schwer haben, große Reformvorhaben durchzusetzen. Und wenn, dann überhaupt nur, wenn er über die Parteigrenzen hinaus Zustimmung erreichen kann. Insgesamt wird die Rolle des Kongresses wachsen, und zwar wegen der knappen Mehrheitssituation. Deshalb wird deutsche Politik gut beraten sein, wenn sie sich neben den guten Kontakten zur Administration eben auch um gute Kontakte zum Kongress bemüht.

Oliver Thränert: Es ist zu beobachten, dass es in der amerikanischen Politik und auch im Kongress zu einer gewissen Polarisierung gekommen ist, insbesondere was einige Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt. Am deutlichsten hat man das bei der Ablehnung der Ratifikation des nuklearen Teststoppabkommens gesehen. Wie sehen Sie die Situation jetzt? Welche Gründe sehen Sie für die Polarisierung in der amerikanischen Politik? Und wie wird sich das Ihrer Meinung nach fortsetzen?

Karsten Voigt: Ich glaube, dass die Rüstungskontrolle insgesamt, und zwar nicht nur auf Grund der ideologischen Polarisierung, sondern insgesamt im amerikanischen Kongress an Boden verloren hat. Das gilt sicherlich auch für einen Teil der Demokraten und nicht nur für Republikaner. Und das ist auch verständlich, weil Rüstungskontrolle während des Kalten Krieges in sehr starkem Maße auf dem Prinzip der Parität aufgebaut hat. Diese Parität als solche existiert nicht mehr und ist auch durch Rüstungskontrolle nicht mehr herstellbar. Zweitens war Rüstungskontrolle ein Thema, bei dem es darum ging, wie man andere bindet, also früher die Sowjetunion, und wie man selbst eingebunden wird. Heute herrscht bei vielen in den USA der Eindruck vor, dass der Vorteil, andere durch rüstungskontrollpolitische Verträge zu binden, geringer ist als der Nachteil, durch solche Verträge in seiner Handlungsfähigkeit selber gebunden zu werden. Was die von Ihnen angesprochene Polarisierung anbetrifft, so muss man sehen, dass die Demokraten mit ihren konservativen Parteigängern aus den Südstaaten, den „Dixi-Democrats“, die zu Beginn der achtziger Jahre zu den Republikanern von Ronald Reagan gewechselt sind, einen Teil ihrer konservativen Leute verloren haben. Und dass umgekehrt ein Teil der Leute, die früher liberale Republikaner waren, auch an Boden bei den Republikanern verloren haben. Insofern ist über einen längeren Zeitraum hinweg die Auseinandersetzung im US-Kongress ideologischer geworden, polarisierter geworden. Übrigens passierte dies interessanterweise in einer gegenläufigen Entwicklung zum Trend in Deutschland, wo die starke Ideologisierung, die ja definiert war durch die Teilung Deutschlands und den Ost-West-Konflikt, nach 1989 abgenommen hat. In den USA hat es auch eine zunehmende Polarisierung zwischen den Parteien gegeben. Aber es gibt immer noch die pragmatischen Leute und die Ideologie des Pragmatismus, aber der Trend zur stärkeren Unterscheidbarkeit der Parteien hat zugenommen.

Oliver Thränert: Sie hatten gesagt, Rüstungskontrolle im Kalten Krieg konzentrierte sich in starkem Maße auf vertraglich geregelte Maßnahmen, auf Verträge, die wiederum auf Parität beruhten. Das ist heute so nicht mehr möglich oder jedenfalls spielt es nicht mehr diese dominante Rolle. George W. Bush hat ja während seines Wahlkampfes einige Äußerungen zum Thema Rüstungskontrolle gemacht. Daraus konnte man ableiten, dass die Bush-Administration möglicherweise mehr auf einseitige Maßnahmen abheben wird und weniger auf vertraglich geregelte Elemente in ihrer Rüstungs- oder Abrüstungspolitik. Erwarten Sie das auch?

Karsten D. Voigt: Zwei Dinge sind auf jeden Fall erledigt mit 1989/90: Das Prinzip der Parität und das Prinzip der Bi-Polarität, was nicht unbedingt identisch ist. Damit stellt sich die Frage nach Vereinbarungen globalen Charakters und auch, wer wen mehr bindet. Ob die USA glauben, andere mehr binden zu können oder befürchten, durch Verträge selber stärker gebunden zu werden. Und das schlägt sich in allen Gebieten nieder. Das geht von Rüstungskontrollbereichen bis zum internationalen Strafgerichtshof. Die US-Administration wird nicht nach einem formalen Prinzip verfahren, sondern nach dem Prinzip des jeweiligen optimalen Nutzens. Ein Beispiel sind die Nuklearwaffen. Dort könnten die USA ein Interesse haben, parallel zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems ihre eigenen Rüstungspotentiale zu reduzieren. Ziel könnte es sein, die russische Seite dazu zu veranlassen, darauf in ähnlicher Weise zu reagieren. In anderen Politikfeldern kann eine vertragliche Form für die USA wichtig sein. Möglich ist auch, dass die USA manchmal gar keine Regelung anstreben. Das heißt, die neue Administration wird jeweils selektiv von Fall zu Fall entscheiden. Ausschlaggebend ist dabei der optimale Nutzen für die amerikanischen Interessen.

Oliver Thränert: Welche Rolle wird dabei das Verhältnis der Administration zum Kongress spielen? Verträge benötigen eine Ratifikation im Senat. Einseitige Aktivitäten, nicht-vertragliche fixierte Reduzierungen dagegen können ohne Zustimmung des Senats vorgenommen werden.

Karsten D. Voigt: Das spielt bestimmt eine große Rolle. Der amerikanische Kongress hat in zunehmendem Maße Probleme damit, eine Selbstbindung durch internationale Regelungen zu akzeptieren. Die Administration wird daher versuchen, diese Selbstverpflichtungen vertraglicher Art, die als Einschränkung der Souveränität wahrgenommen werden könnten, auf diejenigen Fälle zu beschränken, wo Institutionen, Verfahren, oder Regelungen absolut erforderlich sind.

Oliver Thränert: Was die strategischen und rüstungskontrollpolitischen Seiten der neuen Administration anbelangt, so meinen einige, dass dies in ihrer Denkweise eine altmodische Administration sein wird, weil die meisten ihrer Mitglieder ihre strategischen Konzepte während des Kalten Krieges entwickelt haben. Andere sind der Meinung, dass Bush eher ein Modernisierer sein wird, der mit den Überbleibseln des Kalten Krieges kurzen Prozess machen wird. So wird erwartet, dass Bush die strategischen Nukleararsenale stark reduzieren wird. Wie sehen Sie dies?

Karsten D. Voigt: Ich kann die Frage nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Das kann niemand; wahrscheinlich nicht einmal die agierenden Personen. Aber aus dem Tatbestand, dass Leute in den Zeiten des Kalten Krieges geprägt worden sind, abzuleiten, dass sie nicht dazulernen können, halte ich für falsch. In gewisser Weise ist die amerikanische sicherheitspolitische Diskussion sogar schneller voran gegangen und hat die neuen Konfliktlagen nach 1989/90 schneller verarbeitet, als dies in der europäischen Diskussion der Fall ist. Mein Eindruck ist eher, dass die Deutschen noch viel stärker in den Kategorien der früheren Ost-West-Konflikte verhaftet sind als die Amerikaner.

Oliver Thränert: Die Bush-Administration hat schon sehr frühzeitig gesagt, dass sie das Thema Raketenabwehr sehr wichtig nehmen würde. Ist zu erwarten, dass es bei den Amerikanern zu einem Paradigmawechsel kommt, was die Frage der Raketenabwehr, was die Frage des Verhältnisses von Offensiv- und Defensiv-Waffen anbelangt? Und wie sollte Europa darauf reagieren?

Karsten D. Voigt: Das erste ist, ich rechne damit, dass nicht nur das Thema der Raketenabwehr in den Vereinigten Staaten eine prominente Rolle spielen wird, sondern dass eine Debatte sich entwickeln wird über andere damit verbundene strategische und auch technische Konzepte. Ich glaube, dass diese Diskussion der „Boost Phase Defense“...

Oliver Thränert: Können Sie bitte „Boost Phase Defense“ kurz erklären?

Karsten D. Voigt: Das ist ein Verteidigungssystem, das sich auf die Abwehr von Raketen kurz nach dem Start beziehen würde. Wahrscheinlich wird man auch erwägen, Verteidigungssysteme zu nutzen, die nicht landgestützt, sondern seegestützt sind. Also werden wir uns hier auf eine Diskussion über militärische Optionen einstellen müssen, die jeweils unterschiedliche politische Implikationen haben. Und natürlich auch, wenn man so will, unterschiedliche stabilitätspolitische Implikationen. Insofern wird die Diskussion über die Raketenabwehr sehr viel intensiver werden. Als Europäer müssen wir zwischen zwei Diskussionen unterscheiden. Das eine ist, was die Amerikaner machen werden. Das können wir verfolgen, analysieren, aber im Kern nicht beeinflussen. Es ist vor allem eine Frage, ob der amerikanische Steuerzahler Willens ist, für bestimmte Projekte sein Geld zur Verfügung zu stellen. Dies ist erst einmal eine amerikanische Entscheidung. Unser Bezug ist, und das ist die zweite Diskussion: Wie beeinflusst eine Entscheidung über Raketenabwehrsysteme unsere außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Ein wichtiger Aspekt sind die Auswirkungen einer amerikanischen Entscheidung über Raketenabwehr auf die Beziehungen zu Russland. Wir sind daran interessiert, dass die Einführung von Raketenabwehrsystemen nicht zu einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland führt. Das ist unser eigenes, legitimes Interesse, und wir werden versuchen, es einzubringen. Darüber hinaus brauchen wir in Europa eine eigene Diskussion über Raketenabwehr, die keineswegs mit der amerikanischen Debatte über die nationale Raketenabwehr – was Verlauf und Ergebnis der Debatte angeht – identisch sein muss. Diese Debatte hat erst begonnen. Die Europäer verhalten sich im Prinzip gegenüber einer Abwehr von Raketen auf dem Gefechtsfeld völlig undogmatisch. Wir haben ja selbst solche Raketenabwehrsysteme mit der Patriot. Die Frage ist, wie passt Raketenabwehr in unsere außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten und auch unsere Finanzprioritäten. Diese Diskussion sehe ich erst am Beginn. Da sehe ich noch sehr wenig rationale Diskussion. Als Deutscher würde ich sagen, die wichtigste Priorität unseres Haushaltes ist zunächst einmal die Finanzierung der deutschen Einheit und der innenpolitischen Reformen. Die zweite ist die der Umstrukturierung der Bundeswehr und damit verbunden die Entwicklung einer handlungsfähigen europäischen Verteidigungspolitik. Ich würde diese Prioritäten nicht belasten wollen durch eine europäische Raketenabwehr. Aber das heißt ja nicht, dass man eine solche Diskussion von vornherein ausschließen muss. Man könnte sie aber in der Prioritätenskala und im politischen und strategischen Konzept anders einordnen als die USA.

Oliver Thränert: Werden die Amerikaner uns denn überhaupt erlauben, uns nach und nach erst mit diesem Thema vertraut zu machen und allmählich zu beginnen, rational damit umzugehen, oder wird es nicht vielmehr so sein, dass schon bald seitens der Amerikaner eine Erwartungshaltung an uns herangetragen wird?

Karsten D. Voigt: Ich glaube nicht nur, dass die Amerikaner darauf drängen werden, sondern ich glaube, dass auch die eigenen Erkenntnisse, die der Bundesnachrichtendienst hat, dazu führen werden, dass bei uns eine Diskussion über Raketenabwehr einsetzt. Zu welchen Entscheidungen das führt und zu welchen finanziellen Prioritäten man kommt, das ist eine ganz andere Frage. Aber eine solche Diskussion wird nicht nur auf Grund der Diskussion in Amerika, sondern auf Grund der Analysen des Bundesnachrichtendienstes auch bei uns stattfinden.

Oliver Thränert: Herr Voigt, Sie haben vor einiger Zeit in einem Beitrag für die Zeitschrift „Internationale Politik“ von einem neuen Atlantizismus gesprochen. Wie wird sich denn allgemein das Verhältnis zwischen den USA und Europa entwickeln? Gibt es Probleme kultureller Unterschiede zwischen Amerika und Europa? Ich nenne das berühmte Stichwort „Todesstrafe“, für die ja George W. Bush, als er noch Gouverneur in Texas war, besonders stand.

Karsten D. Voigt: Dass sich die Beziehungen ändern, ist ganz selbstverständlich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Während der vierzig Jahre des Kalten Krieges hatten Teile der deutschen Bevölkerung Angst, dass die Amerikaner uns nicht verteidigen werden gegen die sowjetische Bedrohung. Das war die Frage der Glaubwürdigkeit ihrer Verteidigung. Andererseits gab es die Friedensbewegung, die auf den Straßen gegen amerikanische Raketen demonstrierte, weil sie Angst vor dem Einsatz dieser Raketen hatte. In der deutschen Debatte war intellektuell das Verhältnis von Abschreckung und Selbstabschreckung zentral. Mit dem Abzug der russischen Truppen und der Reduktion der alliierten Truppen auf deutschem Boden sind die Ursachen dieser Angst, nicht geschützt zu werden, und der Angst, durch den Schutz selber bedroht zu werden, entschwunden. Deutschland hat heute auf Grund seiner geostrategischen Lage eine Situation, die besser ist als seit Hunderten von Jahren. Deshalb ist dieses Land nicht mehr geprägt durch Angst. Ein Begriff, der eine Kategorie für die amerikanische Wahrnehmung Deutschlands war. Wir haben heute eine Situation, dass die Europäer insgesamt, wenn ich es ironisch überspitzt sage, Schwierigkeiten haben, die Ursprünge der amerikanischen Angst zu verstehen, die durch die Bedrohung Amerikas durch Risikostaaten entsteht. Außerdem sind die sicherheitspolitischen Fragen in den Hintergrund gerückt gegenüber ökonomischen und kulturellen Fragen. Bei den ökonomischen Fragen ist es so, dass Europa und die USA die beiden Weltregionen sind, die am meisten durch Investition und Handel miteinander verflochten sind. Europa ist bei weitem der größte Investor in den USA. Und Europa ist bei weitem der größte Handelspartner der USA. Das heißt, die Verschränkung bleibt. Auf Grund dieser größeren Verschränkung im Investitionsbereich und im Handelsbereich entstehen aber auch neue Reibungspunkte. Dadurch werden plötzlich rein innenpolitische Fragen zu außenpolitischen Fragen. Ich beginne mit dem Datenschutz und komme später auf die Todesstrafe. Datenschutz haben die Europäer gemeinsam errichtet. Der elektronische Handel bedeutet die Übermittlung von großen Mengen von Daten über den Atlantik, sonst funktioniert er nicht. Also entstand die Frage, ob man die europäischen Datenschutzkriterien preisgibt, indem man sie in Amerika nicht anwendet, aber den Export von Daten erlaubt, oder indem man die europäischen Daten nicht exportieren lässt, womit man den elektronischen Handel einschränken würde. Also musste man eine Vereinbarung treffen. Damit wurde eine Frage, die früher rein innenpolitisch war, plötzlich regelungsbedürftig für den transatlantischen Bereich. Dies haben wir in einer Vielzahl von Fällen erlebt. Nehmen Sie das amerikanische Konzept der „Freiheit der Rede“ versus der europäischen Regelung zum Schutz vor rechtsradikaler Propaganda im Internet. Wir haben also Bereiche, wo wir durch neue Kommunikationsmittel, technische Mittel, durch die Intensivierung des Handels, der wechselseitigen Investitionen und durch die Globalisierungstrends ein quasi innenpolitisches Verhältnis bekommen haben. Innenpolitische Unterschiede etwa im Verständnis der Rolle des Staates werden daher stärker empfunden. Das kann erhebliche handelspolitische Probleme aufwerfen und damit auch zu außenpolitischen Problemen führen. Das kann aber auch zur Wahrnehmung von Wertunterschieden führen, etwa beim Thema der Todesstrafe. Denn das ist eine reine Wertfrage. Diese Differenz ist nicht neu. Nur was viele Europäer vergessen ist, dass es bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa noch Staaten gab, die die Todesstrafe praktiziert haben. Inzwischen aber empfinden wir in Europa die Todesstrafe nicht mehr als eine Frage des Rechtssystems, sondern als eine Frage des Menschenrechts. Damit haben die Europäer das Gefühl, dass die Amerikaner nicht ein anderes Rechtssystem haben, in dem sie die Todesstrafe praktizieren, also ein Rechtssystem, über das man strittig diskutieren kann. Sondern die Europäer haben das Gefühl, die Amerikaner verletzen die Menschenrechte und sind in Bezug auf Menschenrechte in dieser Frage auf einem Status, den sie als Demokratie nicht haben sollten. Die Mehrheit der Amerikaner würden die Todesstrafe nie unter Menschenrechtsfragen subsumieren. Die Europäer tun es. Und umgekehrt haben die Amerikaner das Gefühl, dass wir aus der Angst heraus, dass Rechtsradikale bei uns wieder dominieren könnten, die Redefreiheit einschränken, indem wir Rechtsradikalen nicht erst mit Sanktionen drohen, wenn sie Gewalttaten begehen, sondern bereits, wenn sie Gewalttaten propagieren. Ich habe immer Schwierigkeiten in den USA zu erläutern, dass das bei uns vielleicht nach dem Zweiten Weltkrieg so gewesen sein mag, dass aber inzwischen der Kampf gegen rechtsradikale Propaganda ein Teil unserer eigenen demokratischen Identität geworden ist. Wir kommen hier in einen Bereich, wo Wertunterschiede, die immer vorhanden waren, durch die stärkere Kommunikation stärken sichtbar werden. Das ändert aber nichts daran, um es insgesamt zu sagen, dass wir diese Stärken, diese Differenzen deshalb so stark empfinden, weil wir an sich von einer kulturellen Identität ausgehen. Wenn die Amerikaner über Fragen der Redefreiheit diskutieren, würden sie nie so anprangernd reden, sobald es um China geht. Wir würden über die Todesstrafe nie so anprangernd reden, so kritisch, wenn es Afrika wäre. Das heißt, die Voraussetzung der an sich vorhandenen Identität unserer Wertegemeinschaft führt zu einer noch stärkeren Empfindung der Differenzen.

Oliver Thränert: Ist es nicht so, dass es in Amerika beim Thema Todesstrafe auch eine Entwicklung gegeben hat?

Karsten D. Voigt: Diese Entwicklung hat es gegeben, aber weniger, weil man prinzipiell kritisch der Todesstrafe gegenüber steht, sondern weil es sich gezeigt hat, dass viele Angeklagte, die zum Tod verurteilt wurden, unschuldig waren. Und in zunehmendem Maße gibt es auch eine Diskussion darüber, dass die Todesstrafe in Wirklichkeit teurer ist als eine lebenslange Haftstrafe. Das Argument allerdings, dass Todesstrafe nicht abschreckend wirkt, ist nicht so weit verbreitet wie in Europa. Insofern ist der Abschreckungsgedanke im amerikanischen Strafsystem meiner Meinung nach insgesamt stärker verankert als im europäischen oder deutschen Rechtssystem. Das sehen wir auch bei der Verhängung von Jugendstrafen. Es werden in den USA längere Jugendstrafen verhängt. Umgekehrt spielt die Resozialisierung in unserem Rechtssystem eine größere Rolle.

Oliver Thränert: Zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung war George W. Bush Senior amerikanischer Präsident. Er hat einen großen Anteil daran gehabt, dass es zu dieser reibungslosen deutschen Vereinigung im Rahmen der 2+4-Verhandlungen gekommen ist. Nun, da sein Sohn im Weißen Haus sitzt, können wir Deutschen noch besondere Beziehungen erwarten?

Karsten D. Voigt: Die damalige Unterstützung der Amerikaner für die deutsche Vereinigung hat natürlich mit ihrer prinzipiellen Orientierung zu Gunsten der Demokratie und des Menschenrechts zu tun gehabt. Aber sie hat auch mit der Einschätzung zu tun gehabt, dass Amerika keine Angst zu haben braucht vor einem starken vereinigten Deutschland, wenn dieses demokratisch ist. Das ist eine Einstellung, die Amerika damals bereits unterschieden hat von manchem unserer Nachbarn. Und dass Amerika geglaubt hat, dass ein solches starkes, vereinigtes Deutschland aus Eigeninteresse ein guter Partner der Vereinigten Staaten sein würde. Beide Analysen von damals, von 1989/90, gelten heute weiterhin. Insofern glaube ich, dass Amerika mit einem demokratischen Deutschland nie Sorgen hat, wenn Deutschland Selbstvertrauen in seine demokratische Kraft hat. Amerika wird Deutschland eher drängen, die daraus resultierenden Energien stärker international als Partner der USA einzusetzen. Das heißt, wir werden bei manch einem unserer europäischen Partner mehr Vorbehalte gegenüber der neuen Rolle Deutschlands erleben als in den USA. Die USA werden eher diejenigen sein, die Deutschland drängen, die neue Rolle wahrzunehmen. Ich glaube, diesen Grundtenor werden wir weiterhin beobachten: Die drängenden Amerikaner, die wollen, dass Deutschland insgesamt und in Europa als Partner der USA seine neue Rolle wahrnimmt, als Partner in der Definition der Beziehungen zum Balkan oder gegenüber Ost-Mittel-Europa oder gegenüber Russland. Insofern ist hier eine Kontinuität der amerikanischen Politik, nicht nur von Bush-Senior zu Bush-Junior. In gewisser Weise haben die Amerikaner manchmal in den letzten zehn Jahren mehr Vertrauen zu Deutschland gehabt als die Deutschen zu sich selber.

Oliver Thränert: Also eine positive Entwicklung in den deutsch-amerikanischen Beziehungen?

Karsten D. Voigt: Was Konflikte nicht ausschließt, sondern impliziert. Ich gehe davon aus, das ist ganz normal, dass es nicht nur Auffassungsunterschiede geben wird bei der Todesstrafe oder beim Umweltschutz oder beim internationalen Strafgerichtshof. Ich könnte noch eine ganze Serie von solchen Konflikten nennen. Man muss darüber nicht nervös werden und muss selbstbewusst, wie das zwischen zwar nicht gleichstarken, aber gleichberechtigten Demokratien der Fall ist, Kompromisse aushandeln.

Oliver Thränert: Wie beurteilen Sie die Perspektiven zwischen NATO und Europäischer Union nun unter der Bush-Administration? Werden die USA bereit sein, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europa als gleichwertigen Partner zu akzeptieren?

Karsten D. Voigt: Das Hauptproblem wird zunächst sein, dass Europa ein gleichberechtigter Partner wird. Das ist nicht eine Frage der USA, sondern das ist eine Frage der Europäer selbst. Man muss neben den Strukturen, die man zur Handlungsfähigkeit braucht, auch Fähigkeiten militärischer Art entwickeln. Das planen die Europäer auch. Insofern dürften wir in den USA nur Ernst genommen werden, wenn man neben Strukturen auch militärische Fähigkeiten hat. Das ist der eigentliche Maßstab, an dem wir gemessen werden. Dann werden die Amerikaner diese europäischen Strukturen realistischerweise, so sie in enger Kooperation mit der NATO agieren werden, auch respektieren. Dass es immer ein amerikanisches Drängen auf größere europäische Handlungsfähigkeiten geben wird, es andererseits aber auch immer eine gewisse amerikanische Ambivalenz geben wird, wenn die Europäer drohen, autonom zu entscheiden, ist selbstverständlich. Ich glaube, das wird auch in Zukunft so bleiben. Aber das Kernproblem sehe ich eher darin, dass die Europäer ihre Handlungsfähigkeiten entwickeln müssen, und dann werden die Europäer auch aus Eigeninteresse ein kooperatives Verhältnis zwischen der EU und der NATO anstreben.

Oliver Thränert: Ist es zu erwarten, dass sich die Amerikaner aus dem Kosovo über kurz oder lang zurückziehen werden? Aber andererseits z.B. was den Irak anbelangt eher eine konsequentere Politik, vielleicht sogar unter Einmischung militärischer Mittel, vornehmen werden?

Karsten D. Voigt: Die zweite Frage kann ich nicht beantworten. Ich weiß es einfach nicht. Die erste Antwort ist relativ leicht zu geben. Es entspricht amerikanischen Interessen, auf dem Balkan präsent zu bleiben, weil nur mit einer Präsenz auch die amerikanische Mitsprache gewährleistet ist. Insofern glaube ich, dass man hier mehr über Veränderungen der Potenziale als über einen Rückzug reden sollte und auch reden muss.

Oliver Thränert: Kommen wir zur NATO-Öffnung nach Osten. In der zweiten Runde wird es insbesondere darum gehen, ob die baltischen Staaten aufgenommen werden. Wie werden die Amerikaner sich verhalten? Welches sind die amerikanischen und europäischen Interessen?

Karsten D. Voigt: Ich glaube, dass es zunächst einmal das Interesse der meisten Außenministerien und der Verteidigungsministerien der Welt und auch der NATO ist, eine solche Diskussion möglichst lange intern zu führen. Vielleicht wird die Debatte im zweiten Halbjahr 2001 auch öffentlich weitergeführt. Dabei wird das Thema der baltischen Staaten bestimmt eine Rolle spielen. Ich sehe jedoch in Europa nur wenige, die bereits bei der nächsten Runde der Erweiterung der NATO an die baltischen Staaten denken. Ich glaube, dass dort viele eher daran denken, dass die EU-Mitgliedschaft zuerst ansteht, vor einer eventuellen Mitgliedschaft in der NATO.

Oliver Thränert: Werden die Amerikaner weiterhin auf Russland so viel Rücksicht nehmen wie etwa in der Frage der NATO-Osterweiterung? Oder werden sie eher das kooperative Element etwas zurückfahren und weniger Rücksichten auf russische Interessen nehmen?

Karsten D. Voigt: Zunächst ist es einfach ein Tatbestand, dass Russland ein wichtiges Land bleibt, auch wenn es nicht mehr so mächtig ist wie früher. Ein weiterer Tatbestand ist aber, dass es aus globaler Sicht andere Länder wie China oder Indien gibt, die für Amerika deutlich an Bedeutung gewonnen haben. Für uns Europäer bleibt, bei allem Respekt vor anderen Regionen der Welt, Russland sehr wichtig. Insofern gibt es hier einen leichten Akzentunterschied, aber nicht unbedingt eine unterschiedliche Zielrichtung. Ich rechne damit, dass die Amerikaner zwar gleichermaßen unter der neuen Administration an einem demokratischen und rechtsstaatlichen Russland interessiert bleiben, dass sie aber ihr Engagement zur Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse zurückstellen werden. Dies könnte interessanterweise die Beziehung zu Russland in der einen oder anderen Weise sogar erleichtern.

Oliver Thränert: Vielen Dank Herr Voigt für dieses Gespräch.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 5/2001