Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2001

 

UWE LEONARDY

Kompetenzabgrenzung statt Zielvorgaben
Zur Weiterentwicklung der Europäischen Union*

Im Vorfeld der europäischen Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000 und auch danach war viel von Stimmengewichtung, von doppelten Mehrheiten, von Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip, von der Zahl der Kommissare sowie von anderen die Institutionen der EU unmittelbar betreffenden Verhandlungen die Rede. Trotz der Dominanz dieser Felder in der öffentlichen Diskussion stellt sich die Frage, ob damit wirklich die zentralen Probleme der EU sowohl in ihrer gegenwärtigen Gestalt wie auch im Hinblick auf ihre anstehende Osterweiterung bezeichnet sind. Für den institutionellen Bereich im engeren Sinne mag das zwar zutreffen. Aber die strukturelle Dimension der Machtverteilung innerhalb der Europäischen Union ist damit nicht erfasst.

Diese Dimension betrifft primär das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten selbst, danach aber auch das Verhältnis der EU zu den als Gebietskörperschaften verfassten Regionen. Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass es sich bei der Forderung nach einer klareren Abgrenzung der Kompetenzen nicht um eine Marotte der deutschen Bundesländer handeln kann, wie das sowohl außerhalb als auch innerhalb Deutschlands lange gesehen wurde: Die Bundesländer sind zwar - ebenso wie die anderen verfassten Regionen - mittelbar von der bisherigen Unklarheit in der Verteilung der Befugnisse massiv betroffen. Unmittelbarer Adressat mit dem Zwang zum Handlungsbedarf waren und sind aber nicht sie, sondern die Mitgliedstaaten selbst.

Das (Zwischen-)Ergebnis von Nizza

In der „Erklärung für die Schlussakte der Konferenz zur Zukunft der Union“ sind zu dem hier anstehenden Fragenbereich folgende Kernbeschlüsse gefasst worden: „Die Konferenz ... fordert nunmehr zu einer eingehenderen und breiter angelegten Diskussion über die künftige Entwicklung der Europäischen Union auf . Im Rahmen des Prozesses sollten u.a. folgende Fragen behandelt werden: Die Frage, wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union geschaffen und ihre Einhaltung überwacht werden kann. (...) Durch diese Themenstellung erkennt die Konferenz an, dass ... die Transparenz der Union und ihrer Organe verbessert und dauerhaft gesichert werden müssen, um diese den Bürgern der Mitgliedstaaten näher zu bringen. Die Konferenz kommt überein, dass nach ... Vorarbeiten 2004 wiederum eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten einberufen wird, die die oben erwähnten Fragen im Hinblick auf die entsprechenden Vertragsänderungen behandelt.“[1]

Damit ist immerhin ein Einstieg in die Lösung des Problems der Kompetenzabgrenzung vereinbart worden. Die Frage ist allerdings, ob das ausreicht. Dies betrifft zum einen begründete Zweifel an der hinreichenden rechtlichen Verbindlichkeit dieser Formulierungen. Die Bundesregierung hat zwar auf entsprechende ausdrückliche Frage dem Bundesrat gegenüber die Rechtsverbindlichkeit zugesichert.[2] Hierzu wird es aber nicht allein auf ihre, sondern auch auf die rechtliche Würdigung ihrer EU-Partner ankommen, und es bleibt insbesondere unklar, warum man bei einem (wohl doch zweifelhaften) Einvernehmen hierzu dann nicht eine unmissverständliche Revisionsklausel im Vertrag selbst wie seinerzeit den Artikel N im Vertrag von Maastricht erwirkt hat.

Die Frage, ob das (Zwischen-)Ergebnis von Nizza ausreicht, betrifft aber auch den Zeithorizont: Angesichts der parallel und mit Nachdruck weiter verlaufenden Verhandlungen über die Osterweiterung, dürfte es sich als sehr schwierig erweisen, hierbei von einem festen acquis communautaire als Ver­handlungsmaßstab auszugehen. Dieser wird sich jedenfalls bei einer substantiellen Kompetenzabgrenzung wesentlich verändern.[3] Ein Belassen des Status quo in den Kompetenzstrukturen der EU über die Osterweiterung hinaus aber würde die Handlungs- und Lebensfähigkeit der Union unmittelbar bedrohen.

 

Politische Zielvorgaben und Kompetenzsog

Völkerrechtliche Verträge und mithin auch diejenigen Rechtsquellen, auf denen sowohl die Europäische Gemeinschaft als auch die Union beruhen, weisen den Institutionen, die sie schaffen, oft weitreichende politische Ziele zu. Aber sie definieren keine nach Sachbereichen ausgewählten Kompetenzen für diese Institutionen.[4] Als Folge haben solche auf Völkerrecht beruhenden Institutionen die Tendenz, große Massen von Rechtsetzungsbefugnissen sowohl im Detail wie auch als “implied powers“ für sich zu beanspruchen. Sie leiten dies aus den ihnen zugewiesenen Aufgaben ab, den Zielen, die sie erreichen müssen. Der Konflikt mit den Kompetenzen, die in einem echten föderalen System den Ebenen der Mitgliedstaaten und ihrer subnationalen Einheiten zustehen, ist damit vorprogrammiert. Wenn man Subsidiarität ernst nimmt, muss es anders sein: An die Stelle der Zuweisung institutioneller Ziele müsste eine klar definierte Verteilung von Gesetzgebungskompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten und dadurch mittelbar auch zwischen föderalen Mitgliedstaaten und deren Regionen treten. Kompetenzkataloge statt Zielvorgaben!

Darauf habe ich bereits 1991 hingewiesen.[5] Die weitere Fachdiskussion und erst recht die Politik haben aber seither einen langen Anlauf gebraucht, um daraus konkrete Forderungskataloge abzuleiten. Der Kompetenzsog aus dem Zielsystem der supranationalen Organisation Europäische Gemeinschaft/Union führt zu zunehmendem und übermäßigem Kompetenzverlust zunächst für die Mitgliedstaaten und durch sie vermittelt für die körperschaftlich organisierten Regionen. Zugleich tendiert die Europäische Union dazu, sich in einer Fülle von Detailregelungen zu verzetteln. Die für die EU wirklich grenzüberschreitend wichtigen Felder wie Migration, internationale Verbrechensbekämpfung und auch Außenpolitik und Verteidigung werden hingegen vernachlässigt. Nicht selten bietet die Selbstbefassung mit der Detailfülle und das Mitnehmen von “implied powers“ ein Alibi für die Scheu der EU, solche Felder samt den zugehörigen Konflikten mit einigen oder auch allen Mitglied­staaten als echte Unionsaufgaben in Anspruch zu nehmen. Die konkreten Beispiele hierzu sind zahlreich. Sie können am deutlichsten nachgelesen werden in den seit einiger Zeit vom Bundesrat[6] jährlich erstellten Listen von Beschlüssen, in denen er die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips bei Vorlagen des Ministerrats oder der Kommission gerügt hat. Aus der über den deutschen Bereich hinausgehenden Debatte soll an dieser Stelle nur der Fall genannt werden, der mit der Verwerfung der Richtlinie zum Verbot der Tabakwerbung wegen mangelnder EU-Kompetenz am 5. Oktober 2000 sogar den sonst eher als übermäßig gemeinschaftsfreundlich bekannten Europäischen Gerichtshof auf den Plan rief.

Die Gefahr der schleichenden Entföderalisierung der Bundesrepublik Deutschland

Der Bundesrat und die in ihm vertretenen Länder waren aufgrund ihrer unmittelbaren Betroffenheit diejenigen Institutionen, die das Problem im politischen Raum zuerst benannten. Auch die Gründe hierfür sind einleuchtend. Der Bundesrat kann für sich in Anspruch nehmen, von Anfang an „Europa-bewusster“ als der Bundestag gewesen zu sein. Immerhin schuf er bereits 1957 einen eigenen Ausschuss für Gemeinschaftsfragen, während der Bundestag erst 1991 diesen Schritt vollzog.[7] Die Bundesregierung war aus naheliegenden Gründen des intergouvernementalen Vorrangs in den Strukturen von Gemeinschaft und Union an einer solchen institutionellen Verselbständigung und Hervorhebung europäischer Einwirkungen auf das deutsche Verfassungssystem wenig bis gar nicht interessiert.

Dies zeigte sich am deutlichsten im Diskussionsprozess um die Entstehung des inzwischen als „Europa-Artikel“ bekannt gewordenen neuen Artikels 23 im Grundgesetz. Dieser Artikel ging zwar aus einer von beiden gesetzgebenden Körperschaften gebildeten gemeinschaftlichen Einrichtung, der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat,[8] hervor. In ihr zeigte sich aber die Länderseite wegen ihrer unmittelbaren Betroffenheit während der gesamten Beratungen als die deutlich problembewusstere und dementsprechend auch die drängendere.

Das im Artikel 24 des Grundgesetzes niedergelegte Recht des Bundes, „durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen (zu) übertragen“, war und ist nicht auf die Übertragung von Bundeskompetenzen beschränkt. Es umschloss seit jeher auch die Befugnis zur Übertragung von bis dahin autonomen Länderfunktionen. Diese Möglichkeit des Bundes war gleichsam die „offene Flanke der bundesstaatlichen Ordnung“. Unabhängig von der Verteilung der Rechtsetzungsbefugnisse zwischen der damaligen Gemeinschaft und der Bundesrepublik einerseits und zwischen Bund und Ländern andererseits war der Einfluss europäischer Entscheidungsfindung auf die Strukturen des Föderalismus in Deutschland immer von grundlegender Bedeutung.

Da die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Wirtschaftsbereich immer sehr viel stärker waren als die der Länder, waren deren Verantwortlichkeiten im Gebiet der Verwaltung der vorrangige Grund für das von ihnen beanspruchte und schließlich auch erworbene Recht, über alle Schritte des europäischen Rechtsetzungsprozesses informiert zu werden. Dieses Recht war auf Drängen des Bundesrates bereits im Art. 2 des Ratifikationsgesetzes zu den Römischen Verträgen niedergelegt worden, durch welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 gegründet wurde.

Die unmittelbare Einwirkung des europäischen Entscheidungsprozesses auf das Bund-Länder-Verhältnis ist seither durch das weitere Anwachsen von Gesetzgebungsbefugnissen sowohl der Gemeinschaft als auch (mitverursacht durch die Gemeinschaftsentwicklung) des Bundes ständig verstärkt worden. Die Einbrüche der europäischen Ent­scheidungsfindung in die Gesetzgebungsdomänen der Länder fanden insbesondere in einer Vielzahl von gemeinschaftlichen Detailregelungen auf der Basis des damaligen Artikels 235 (jetzt Artikel 308) des EG-Vertrages statt. Er war und ist das sichtbarste Indiz für die Ausrichtung der Gemeinschaft - jetzt der Union - auf das ihr innewohnende Zielsystem. Er verleiht ihr die Befugnis, über „ein Tätigwerden der Gemeinschaft“ zu entscheiden, „um ... eines ihrer Ziele zu verwirklichen“. Die Einbrüche erreichten ihren Höhepunkt mit der Übertragung von weiteren substantiellen Befugnissen auf die Gemeinschaft durch die Einheitliche Akte. Besonders galt das für so länderrelevante Felder wie Regionalpolitik, Umwelt und Forschung.

Auf Druck besonders, aber nicht nur, der Länder bildete sich schließlich in der Gemeinsamen Verfassungskommission 1992 ein Konsens darüber heraus, dass durch einen neuen Artikel 23 des Grundgesetzes nicht nur der Vertrag über die Europäische Union, sondern auch alle seine künftigen Änderungen der Zustimmung von Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat unterworfen sein sollten, so wie dies auch für unmittelbare Änderungen des Grundgesetzes gilt.

Auch wenn die überwiegende Geräuschkulisse in der öffentlichen Diskussion sowohl bei der Beratung des Arti­kels 23 wie auch im Vorfeld von Nizza zur Problematik der Kompetenzabgrenzung den gegenteiligen Eindruck erweckt hat, ging und geht es eben nicht nur und noch nicht einmal vorrangig um Beteiligungsrechte der Länder und des Bundesrats in europäischen Angelegenheiten. Es ging und geht um den Versuch, wirksame Schutzmauern zu errichten gegen den schweigenden Prozess der Verfassungsänderung von außen im Wege des Unterlaufens der internen Kompetenzordnung des Grundgesetzes sowie der Grenzmarkierungen für die Politik- und Rechtsetzungsbereiche der Union und der Bundesrepublik. Dies berührt mithin sowohl das Verfassungsgebot, dass keine Verfassungsänderung ohne Verfassungstextänderung vorgenommen werden darf, wie auch den Schutz der bundesstaatlichen Ordnung als einer der drei Verfassungssäulen Deutschlands.

Artikel 23 enthält eine Strukturentwicklungsklausel, die eine Reihe von Anforderungen an die Europäische Union postuliert und dabei deren Verpflichtung auf den Grundsatz der Subsidiarität mitenthält. Diese Entwicklungsklausel ist mit einer Struktursicherungsklausel rechtlich verbunden, die sich auf die Gewährleistung der deutschen zentralen Verfassungswerte einschließlich der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb der EU richtet. Zum Schutz der Verfassungssubstanz bedürfen nicht nur der Vertrag über die Europäische Union, sondern auch alle seine künftigen Änderungen „und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, der Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern. Ferner erfordert Artikel 23, dass neue Hoheitsrechtsübertragungen stets nur „durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates“ erfolgen können. Solche Neuübertragungen von Hoheitsrechten erfolgen in aller Regel im Zusammenhang mit Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU.[9]

Angesichts der damit durch Artikel 23 unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten Intention des Grundgesetzes, seinen Bestand - und mit ihm die bundesstaatliche Ordnung - gegen vertragsrechtlich nicht ausdrücklich statuierte Inanspruchnahmen von Kompetenzen durch die EU zu schützen, ist darauf hinzuweisen, dass das Zielsystem der Europäischen Union mit seiner Sogwirkung auf die Kompetenzgefüge der Mitgliedstaaten diese Sicherungsversuche fortgesetzt unterläuft.

Nun sind die Sogwirkungen des Zielsystems nicht neu. Es gab sie auch schon bei der Einfügung des neuen Artikels 23 in das Grundgesetz im Jahre 1992. Warum hat man damals keine Artikel-23-konforme Ablösung des Zielsystems der EU durch einen Kompetenzkatalog als Forderung mit in das Gesetz aufgenommen? Die Antwort ist, dass man sich mit einem solchen Versuch, eine präzise inhaltlich benannte strukturelle EU-Reform zu verlangen, politisch „überhoben“ hätte. Die Beratungen über den Artikel 23 wären überfrachtet worden. Immerhin kam aber die Forderung nach Kompetenzabgrenzung mittelbar in der Formulierung der Strukturentwicklungsklausel zum Ausdruck; denn sie richtet sich u.a. auch darauf, dass die Entwicklung der Europäischen Union „föderativen Grundsätzen ... verpflichtet ist“. Mehr als das war im Jahre 1992 nicht zu erreichen.[10] Es wurde aber jedenfalls ein Ansatz geschaffen, auf den sich die heute EU-weite Diskus­sion zur Kompetenzabgrenzung von Deutschland aus mit stützen kann.

Wenn die Notwendigkeit einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten so unmittelbar relevant war für die anstehenden deutschen Verfassungsfragen, wäre dann nicht eine Äußerung des Bundesverfassungsgerichts dazu in seinem Urteil über das Ratifizierungsgesetz zu diesem Vertrag zu erwarten gewesen? Das Bundesverfassungsgericht sah sich ganz offensichtlich sowohl unter verfassungs- wie auch außenpolitischem Zwang zur „Rettung“ der Ratifikationsfähigkeit des Maastrichter Vertrages. Es entsprach diesem Zwang durch eine Argumentation, die durchaus Anlass zu legitimen Zweifeln gibt. Es nahm Rekurs auf den Souveränitätsansatz, der besagt, dass die Bundes­republik Deutschland ihre „Staatlichkeit“ nicht durch Aufgehen in einer europäischen Föderation aufgegeben hat. Die Fragwürdigkeit dieses Ansatzes ergibt sich allerdings schon aus der Summe der bereits erfolgten und durch den Vertrag von Maastricht noch weiter anstehenden Übertragungen von Hoheitsrechten. Diese sind nichts anderes als partielle Souveränitätsübertragungen, und solche Übertragungen waren schon seit 1949 mit dem Artikel 24 des Grundgesetzes bewusst intendiert.[11] Ebenso fragwürdig war die Leugnung eines zumindest bereits entstehenden europäischen Bundesstaats angesichts der vollauf ernstzunehmenden Qualifikation der Europäischen Gemeinschaft und der aus ihr hervorgegangenen Union als einer schon existenten und funktional determinierten Föderation. Wie sonst wäre eine supranationale Organisation einzustufen, der unmittelbare Rechtsetzungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten und deren Bürgern zustehen? Statt realitätsnah die EG/EU als eine funktionale Föderation zu würdigen, trat das Gericht die Flucht in den Begriff des „Staatenverbundes“ an, der nichts aussagt und nichts weiter brachte.

All dies wurde ermöglicht durch ein ebenfalls der Realität nicht mehr entsprechendes Festhalten an der Theorie der „begrenzten Einzelermächtigung“, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Struktur der Rechtsetzungsbefugnisse der EG/EU auch weiterhin beherrscht. Der Umstand, den das Gericht hierbei verkannte (oder verkennen wollte), hat mittlerweile die Debatte über die Kompetenzabgrenzung auch unionsweit eröffnet: Das Netz aus solchen Einzelermächtigungen ist durch die Sogwirkung des Zielsystems in seiner Summe kaum noch begrenzt und vorausschauend auch kaum noch begrenzbar.

 

Der Kampf um Kompetenzabgrenzung vor und nach Nizza

Natürlich erlosch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aber weder die Notwendigkeit noch die Forderung nach einer solchen Kompetenzabgrenzung. Seit der Schaffung des Artikels 23 und bis ins Vorfeld der Regierungskonferenz von Nizza im Jahre 2000 waren es allein die deutschen Bundesländer, die sich diese Forderung zu eigen machten und in mehreren Schritten mit erheblicher Präzision ausformulierten.[12] Das mag dann auch den Eindruck geschaffen haben, es handle sich um eine „Marotte“, die nur von ihnen gepflegt werde. Dieses Bild änderte sich erst dadurch, daß die Thematik schließlich auch im Bundestag durch einen Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion vom 16.Mai 2000[13] aufgegriffen wurde, der intern besonders durch Insistieren des bayerischen Ministerpräsidenten und der Landesgruppe der CSU zustande gekommen war. Außerdem gab es wiederholte öffentliche Äußerungen von anderen Landespolitikern, insbesondere des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement.[14] Auch die wissenschaftliche Aufbereitung des Themenfeldes ist in den letzten Jahren intensiver in Gang gekommen.[15]

Am 14. März 2000 forderten die Vertreter der sogenannten A-Länder in einer Präsidiumssitzung der SPD von Bundeskanzler Gerhard Schröder die Herbeiführung einer zufriedenstellenden Regelung in Nizza. Der Bundeskanzler wies das hierbei noch als eine „unerfüllbare Forderung“ zurück mit dem Bemerken, die Länder stünden „mit ihren Positionen in Europa ziemlich allein da“. Daraufhin beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz Ende März 2000 einstimmig ein Junktim zwischen der Erfüllung ihrer Forderungen und ihrer Zustimmung zur Ratifizierung des in Nizza auszuhandelnden EU-Reformvertrages im Bundesrat. Am 11. Mai 2000 milderte Ministerpräsident Stoiber in einer Rede in Brüssel dieses Junktim zwar ab, erklärte aber, er gehe von einer neuen Regierungskonfe­renz „unmittelbar nach Nizza“ aus. Am 25. Mai konfrontierte die Ministerpräsidentenkonferenz den zu ihrem Treffen mit eingeladenen Kommissionspräsidenten Romano Prodi mit der Erklärung, die Länder erwarteten „Entscheidungen bis Nizza“. Zur nicht geringen Überraschung mancher Beobachter stimmte Präsident Prodi den Ländern in der Sache zu und räumte ein, die Zuständigkeiten in der EU befänden sich in einer „unentwirrbaren Gemengelage“. Wohl darauf­hin schloss sich nun auch die Bundesregierung den Forderungen der Länder an und drängte die EU-Partner zu einer Terminvorgabe in dem zu reformierenden EU-Vertrag darüber, wann spätestens über eine „verfassungsähnliche Aufgabenteilung“ verhandelt werden müsse. Am 4. Juni drohte der Bundesrat im Anschluss an den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von Ende März nun auch seinerseits mit einem Junktim im Ratifizierungsverfahren über den Vertrag von Nizza bei einer Nichterfüllung der Länderforderungen.

Am 21. Juni rückte jedoch Ministerpräsident Siegmar Gabriel in einer Regierungserklärung vor dem Niedersächsischen Landtag von dem Junktim ab, da Nizza andernfalls „überfrachtet“ werde. Zugleich erhob er aber die Forderung nach einer „rechtlich verbindlichen“ Vereinbarung in Nizza zu einer weiteren Regierungskonferenz über diese Thematik. Diesem Abrücken von einem offenen Konfrontationskurs war eine Beistandszusicherung des Bundeskanzlers gegenüber den Ländern im Streit um die Stellung der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute in der EU vorausgegangen. Die Bundesregierung begrüßte dementsprechend die Äußerun­gen des niedersächsischen Mini­sterpräsidenten und ergänzte, sie werde in Nizza für eine Terminierung auf das Jahr „2004 oder auch früher“ eintreten.

Am 29. September sah sich der Bundesrat veranlasst, sich gegen eine neue Methode der Kommission zur schrittweisen Vereinnahmung von mit den Gemeinschaftszielen nur noch mittelbar verwandten Politikbereichen in Gestalt der sogenannten „offenen Koordinierung“ (hier im Forschungs- und Bildungsbereich) zu verwahren.[16] Am 1. Dezember warnte er nachdrücklich vor Kompetenzausweitungen im Zusammenhang mit der von ihm inhaltlich gebilligten EU-Charta der Grundrechte,[17] nachdem er zuvor festgestellt hatte, „dass der Reformprozess mit dem Vertrag von Nizza keineswegs abgeschlossen“ sei.[18]

In der Tat ist Nizza nur der Anfang des seit langem notwendigen Reformprozesses. Die „Erklärung für die Schlussakte der Konferenz zur Zukunft der Union“ hat mit dem Beschluss zu Regelungen bis oder im Jahre 2004 in der Substanz noch nichts vorangebracht. U.a. stellt sich jetzt die Frage, welche Druckmittel es denn für die Länder gibt, um angesichts des verbal erklärten Konsenses der Bundesregierung auf der EU-Ebene auch zu in der Sache befriedigenden Lösungen zu kommen. Hierzu könnte es notwendig sein, ein Konzept wieder aufzugreifen, das im Zuge der Beratungen über das Ratifizierungsgesetz zum Vertrag von Amsterdam zwischen Ende 1997 und Mitte 1998 zwischen zwei Ländern (Niedersachsen und Bayern) auf informellen Wegen entwickelt wurde.[19] Es richtete sich auf die Einbringung einer Initiative zur Änderung des Grundgesetzes, mit der in den Artikel 23 ein neuer Absatz 1 a wie folgt eingefügt werden sollte: „Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist nur zulässig, wenn sichergestellt ist, dass die aus ihr folgenden Befugnisse zur Rechtsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten oder ihren Einwohnern auf der Grundlage abgegrenzter Unterscheidungen zwischen ausschließlicher, vorrangiger und rahmenrechtlicher (evtl. alternativ: ausschließlicher, nicht ausschließlicher und ergänzender oder: ausschließlicher und anderer) Rechtsetzung ausgeübt werden. Die Festlegung von Zielen der Europäischen Union genügt hierfür nicht." Dieses Konzept könnte sich - ohne den Vertrag von Nizza zu gefährden - vor der Ratifizierung des post-Nizza-Vertrages von 2004 als wirksames Druckmittel zur Durchsetzung substantieller Kompetenzabgrenzung erweisen.

 

Die Bedeutung der Kompetenzabgrenzung für das europäische Verfassungsprojekt

Was jetzt ansteht, ist die Beendigung des Zielsystems der EU und sein Ersatz durch ein Kompetenzsystem spätestens bis zu der für die Osterweiterung notwendigen Reform der Verträge. Sollte dies nicht gelingen, ist nach den Neubeitritten –angesichts der Entwicklungsunterschiede - mit einem erheblichen weiteren Anwachsen von Zentra­lismus in der EU zu rechnen. Nicht von ungefähr war dies im föderalen System Deutschlands gerade zu dem Zeitpunkt die Sorge, als die Bundesrepublik mit dem Beitritt der neuen und wirtschaftlich extrem schwachen Länder bis dahin nicht gekannte Disparitäten zu verkraften hatte. Man stelle sich auch in diesem Zusammenhang einmal vor, was denn damals mit unserem Staatssystem geschehen wäre, wenn es statt einer Kompetenzverteilung im Grundgesetz lediglich vom Bund zu realisierende Staatsziele gegeben hätte. Von einer Bundesrepublik Deutschland wäre dann inzwischen nicht mehr viel übriggeblieben.

Angesichts der bereits gegenwärtig bedrohlichen Intransparenz von Politik und Rechtsetzungsvorgängen in der Europäischen Union würde die Zustimmung der Bevölkerung zur europäischen Integration rapide abnehmen. Die fast unausweichliche Folge wäre mangels hinreichender politischer Unterstüt­zung das Scheitern aller Verfassungsprojekte für Europa in welcher Form auch immer. Dies wäre umso fataler, als die sich jetzt mit der anwachsenden Diskussion endlich eröffnende Chance hierzu kaum wiederkehren würde.

Was aber wären die Wirkungen bei einem Gelingen von Kompetenzdefinition und einem Verlassen des Zielsystems? Eine angemessene Bewältigung der anstehenden Reformnotwendigkeiten würde zur endgültigen Anpassung der institutionellen und Machtstrukturen der EU an die einer föderalen Verfassungsordnung führen. Denn die rechtlich definierte Verteilung von gesetzgebenden Befugnissen zwischen verschiedenen Ebenen der öffentlichen Gewalt ist das Warenzeichen eines föderalen Systems.[20]

Ein der Realität verbunden bleibendes Konzept von Europas Staatlichkeit in Verfassungsqualität kann dabei nie auf eine „europäische Nationalstaatlichkeit“ abzielen. Die Debatte darüber im Zuge der in Gang geratenen Verfassungsdiskussion kann nur von denen betrieben und unterstützt werden, die in Wirklichkeit gar kein wie auch immer verfasstes Europa wollen. Statt eines Nationalstaates wird und wird dieses Europa aufgrund seiner Geschichte, seines kulturellen und ethnischen Reichtums und anderer Faktoren zu keiner Zeit etwas anderes sein wollen und können als ein „Staat der Nationen“. Diesen allerdings gilt es herbeizuführen, und das wird mit auf Zentralisierung hinauslaufenden Strukturelementen wie einer weiteren Beibehaltung des Zielsystems der EU nicht möglich sein.

Würde dieses System beseitigt und durch eine einvernehmlich akzeptierte Kompetenzordnung ersetzt, dann wären damit die Grundlagen für eine strukturell klare europäische Verfassungsgebung gelegt – in welchem Verfahren auch immer diese sich vollziehen wird. Zu diesem Verfahren wird man sich im Zusammenhang mit dem hier anstehenden Problembereich allerdings einer Tatsache bewusst sein müssen: Wesentlich realitätsnäher als die Erwartung, dass es dazu einen mit ausreichenden Befugnissen ausgestatteten Verfassungskonvent geben wird, dürfte die Annahme sein, dass es auch in diesem Bereich die traditionellen intergouvernementalen Strukturen der EU sein werden, die sowohl Verfahren wie Ergebnisse bestimmen. Letztlich wird es also trotz allen Mangelerfahrungen, die man zuletzt auch in Nizza hat machen müssen, wiederum der Europäische Rat sein, der über die Weichenstellungen sowohl in der Prozedur wie in den Inhalten zu bestimmen haben wird.

Da dies so ist, wird es auch nicht schwer sein, die ohnehin zu erwartenden Widerstände gegen eine Ablösung des Zielsystems zugunsten einer Kompetenzordnung zu lokalisieren. Sie werden wie schon bisher aus den durch die jeweiligen Ressorts definierten und in ihnen nach Einzelbereichen noch weiter untergliederten „Fachbruderschaften“ in den zahlreichen Kooperationsgremien sowohl auf der innerstaatlichen wie auf der EU-Ebene kommen. Diese zwar überaus notwendigen, aber eben deshalb auch nicht minder mächtigen intergouvernementalen Gremien sind es, die gegenüber den Parlamenten und Regionen ein handfestes Interesse daran haben, über eine Beibehaltung des Zielsystems und der Ableitbarkeit immer neuer Detail- und Zusatzbefugnisse aus benachbarten Bereichen Regelungszuständigkeiten auf der europäischen Ebene zu behaupten – allen europäischen Mitwirkungsrechten des Bundesrats bzw. regionaler Institutionen anderer Mitgliedstaaten zum Trotz.

Mit alledem ist überhaupt nichts gegen die unbestreitbare Notwendigkeit intergouvernementaler Kooperation sowohl innerhalb von Bundesstaaten als auch auf der Ebene supranationaler Orga­nisationen wie der EU gesagt. Das Zielsystem und die aus ihm ableitbare Selbstausstattung der Gemeinschaftsinstitutionen mit Kompetenzen mag zum Aufbau des acquis communautaire in dem Zeitraum erforderlich gewesen sein, in dem die Europäische Gemeinschaft noch überwiegend die Züge einer internationalen Organisation trug. Spätestens seit dem Zeitpunkt, mit dem sie durch den Schritt in die Europäische Union klare Züge einer „überstaatlichen Staatlichkeit“ im Sinne eines sich entwickelnden föderalen Systems angenommen hat, ist das aber nicht mehr tragbar. Die „Fachbruderschaften“ wird man deshalb im Zuge der Umsetzung der Beschlüsse von Nizza zur Kompetenzabgrenzung besonders im Auge haben müssen. Ob das nach dem Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ ausreichen wird, werden die Parlamente und die Regionen bis 2004 selbst zu steuern haben.

Es wäre zu wünschen, dass sie es schaffen, den Prozess so zu beschleunigen, dass er schon bei den ersten Ostbeitritten wirksam werden kann.



* Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 12.12.2000 in der Europadialog-Reihe des Zentrums für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn gehalten hat. Er ist auf dem Stand vom 1.1.2001 aktualisiert.

 

[1] Auszüge aus der Anlage IV (Ziffern 3 und 5 – 7) zum Vertragswerk von Nizza.

 

[2] Erklärung von Bundesminister Joseph Fischer; PlenProt. BR 21.12.2000 S. 631 (A)

 

[3] Der Bundesrat hat deshalb auch mit Recht gefordert, die „Reform der Kompetenzabgren­zung sollte so beschleunigt werden, dass weitere Beitritte nicht behindert werden“; BR-Drs. 680/00 (Beschluß) dort Nr. 2 und PlenProt. BR 10.11.2000 S. 465/66. Die Bundesre­gierung sieht eine Gefahr der Behinderung der Beitritte zwar nicht, führt aber zur Be­gründung wenig stichhaltig nur an, „dass die Regierungskonferenz 2004 keine Vorbedin­gung für die Erweiterung darstellt“; PlenProt. BR 21.12.2000 S. 631 (B)

 

[4] So insbesondere Art. 2 EUV und Art. 3 – 5 EGV

 

[5] Uwe Leonardy, Costs and Benefits of Federalization: The Political Dimension, Discus­sion Paper No. 10, Centre for European Studies, Nuffield College Oxford 1991, S. 17 – 19; auf dem Stand von Ende 1992 aktualisierte Fassung in: Joachim Jens Hesse/Vincent Wright (Hg.), Federalizing Europe? Oxford 1996, S. 73 – 100, S. 85 f.

 

[6] Durch seinen Ausschuss für Fragen der Europäischen Union

 

[7] Zu dessen schon weit davor bestehender Notwendigkeit und zu den Vorläuferversuchen vgl. Uwe Leonardy, „Bundestag und Europäische Gemeinschaft: Notwendigkeit und Um­feld eines Europa-Ausschusses“, in: ZParl. 1989 S. 527 – 544

 

[8] Bericht: Deutscher Bundestag (Hg.), Zur Sache Nr. 5/93; dort S. 31 – 59

 

[9] Zu Näherem s. Wolfgang Fischer, „Die Europäische Union im Grundgesetz: Der neue Ar­tikel 23“, in: ZParl. 1993 S. 32 – 49

 

[10] Immerhin brachte aber der Bundesrat bereits in seiner Entschließung zur Ratifizierung des Vertrages von Maastricht vom 18.12.1992 (BR-Drs. 81/92 Beschluss) bereits die Forde­rung zum Ausdruck, eine „klare Aufgabentrennung zwischen EG und Mitgliedstaaten“ herbeizuführen.

 

[11] Dem entspricht wesentlich logischer und realitätsnäher die Äußerung von Bundesaußen­minister Fischer in der Debatte des Bundesrats über das Ergebnis von Nizza, es werde „letztendlich die Souveränitätsteilung zwischen Nationalstaat und Europa“ geklärt werden müssen; PlenProt. BR 21.12.2000 S. 583 (A)

 

[12] BR-Drs. 169/95 (Beschluss); Niedersächsischer Landtag, Drs. 13/1110, S. 3 – 6; BR-Drs. 667/95 (Beschluss); BR-Drs. 784/97 (Beschluss); BR-Drs. 61/00 (Beschluss).

[13] BT-Drs. 14/3377

 

[14] U.a. Referat im Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn am 29. April 1999 (ZEI Discussion Paper C 48/1999: S. 10/11) und in einer Grundsatzrede zu Europa an der Berliner Humboldt-Universität am 12. Februar 2001.

[15] Vgl. insbesondere Thomas Fischer/Nicole Schley, Europa föderal organisieren – Ein neues Kompetenz- und Vertragsgefüge für die Europäische Union; Europa Union Verlag, Bonn 1999 (336 S.) und Projektarbeiten der Bertelsmann-Stiftung (Tätigkeitsbericht 1998/99 S. 59)

 

[16] BR-Drs. 274/00 (Beschluss) und PlenProt. BR 29.09.2000 S. 375 und 402/3

 

[17] BR-Drs. 666/00 (Beschluss) und PlenProt. BR 01.12.2000 S. 565 - 560 und 572 – 574

 

[18] BR-Drs. 680/00 (Beschluss) und PlenProt. BR 10.11.2000 S. 465/66; der Beschluss des Bundesrates entsprach einem der Ministerpräsidentenkonferenz von Ende Oktober.

 

[19] Durch den Verfasser nach landesinterner Abstimmung in der Vertretung von Niedersach­sen beim Bund im Kontakt mit der Vertretung von Bayern.

 

[20] So auch bereits der im Anm. 5 zitierte Aufsatz


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