Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2001

Claus Leggewie

Gibt es eine transnationale Bürgergesellschaft?

„Me velle civis totius mundi non civis oppidi“: Nicht Bürger dieser Stadt, sondern Bürger der ganzen Welt wolle er sein, beschied der Philosoph Erasmus von Rotterdam den Reformator Zwingli, als ihm die Bürgerschaft der Stadt Zürich angetragen wurde. Weltbürger zu sein, dieser uralte Menschheitstraum der Kosmopolis, gilt also ebenso nobler wie blauäugiger Wunsch. Für „Realisten“ hat der nationale Staat Ewigkeitswert; er stellt eine Grenze dar, jenseits derer die Anarchie beginnt und bürgerliche Betätigung unmöglich wird. Die Einheit von Nation und Demokratie ist ein modernes Axiom[1].

Aber die Moderne hatte stets eine offene Flanke. „Ultramontan“ waren bereits die katholische Kirche und die Latein sprechende Gelehrtenrepublik, auch die Vaterlandslosigkeit des Kapitals war vorbereitet durch den Wirtschaftsverbund der Hansestädte oder chinesische Familienbetriebe quer durch Südasien. Das moderne Denken definierte sich dann selbst in den weltumspannenden Dimensionen von Rationalität und Bürokratie, doch der National-Staat wurde und blieb die zentrale Denkfigur und Analyseeinheit des Politischen. Und bei aller Welt-Offenheit war auch der Raum der „civil society“ verfassungspatriotisch borniert[2].

Die unverkennbare Empirie grenzüberschreitender Interaktionen scheint den überkommenen Begriffsrahmen nun aber zu sprengen. Fernverkehr und Tele-Kommunikation, Wirtschaft und Wanderung haben „transnationale soziale Räume“[3] und Lebenswelten eröffnet, deren Akteure, oftmals vorrangig, Interessen verfolgen, die sie selbstverständlich über Staats- und Kulturgrenzen hinausführen. Exemplarisch sind die Nicht-Regierungs-Organisationen, deren Zahl und Themenvielfalt seit einigen Jahren exponentiell steigt. Erfüllen solche raumgreifenden Organisationen und Bewegungen den alten Traum des Erasmus von Rotterdam, Bürger der ganzen Welt zu sein? Gibt es eine transnationale Bürgergesellschaft?Um diese Frage wenigstens ansatzweise beantworten zu können, muss ich im folgenden etwas ausholen und einen scheinbaren Umweg machen. Ich gehe davon aus, dass die unterstellte Kongruenz von Nation und Demokratie und damit die üblichen Analyseeinheiten der Politik- und Sozialwissenschaften kritisch zu befragen sind. Dazu beginne ich mit einem begriffsgeschichtlichen Exkurs zum Terminus „transnational“, lasse dann einige Facetten der „Weltgesellschaft“ Revue passieren und wende mich schließlich neuen Akteuren der transnationalen Politik „von unten“ zu.

Transnationales Amerika

Die Begriffsgeschichte weist bekanntlich auf sozialhistorische Brüche und „Sattelzeiten“ hin: ‘Transnational’ ist bereits ein „Plastikwort“ geworden, für das man in Wörterbüchern wie in den meisten sozial- und politikwissenschaftlichen Fachlexika vergeblich nach Erklärung sucht. Die jüngste Ausgabe des Oxford Dictionary verlegt seine Entstehung auf die Zeit um 1920 und zitiert eine nationalökonomische Abhandlung, die Europa nach dem Kriege von seiner „internationalen oder korrekter: transnationalen Wirtschaft“ geprägt sieht. Eine weitere Belegstelle ist interessanterweise eine Abhandlung zu Religionsfragen, wonach die christliche Kirche die einzige Kraft sei, die Bedingungen für ein „transnationales, nicht-rassengebundenes demokratisches Gemeinwesen“ schaffen könne.[4]

Nicht erwähnt wird Randolph Bourne, der 1916 das „transnationale Amerika“ vor Augen hatte. Während in Europa die Nationen feindlich aufeinander schlugen, strich der New Yorker Publizist eine besondere Entwicklungspotenz der Vereinigten Staaten von Amerika heraus, die seiner Meinung nach den Kern und Keim der künftigen Weltgesellschaft darstellten. Die USA, als erste Nation von Einwanderern und Nationalstaat neuen Typs, konnten nicht auf ethnisch-kulturelle oder staatlich-bürokratische Vorlagen kollektiver Identität zurückgreifen, und genau wie sein Mitstreiter Horace Kellen lehnte Bourne auch die gängige Vorstellung vom „Schmelztiegel“ ab, in dem sich angeblich die aus allen Himmelsrichtungen eingewanderten Amerikaner zu einer Quasi-Ethnie assimilieren sollten. „Wir sind allesamt im Ausland geboren oder Kinder von Ausländern; wenn man also schon Unterschiede zwischen uns machen will, müssen diese auf anderem beruhen als auf ‚Eingeborensein‘ “.

Die Grundlagen der kollektiven Identität der USA suchten die Kulturpluralisten nicht, wie die europäischen Nationalisten, in einer mystifizierten Vergangenheit: „... wir müssen an dem Paradox festhalten, dass unsere kulturelle Tradition in der Zukunft liegt.“ Mit dem Fehlen einer aus einer dominanten Gruppe abgeleiteten „Leitkultur“ war für Bourne die Politik der Amerikanisierung keineswegs gescheitert, allerdings ein Amerikanismus neuen Typs gefordert: „Amerika wird keine Nation, sondern eine Transnation sein, etwas, das hin und her verwoben ist mit vielen Ländern, aus zahlreichen Fäden jeder Größe und Farbe“.[5] Diese Offenheit findet sich programmatisch im Motto der imperialen Republik „E Pluribus unum“, das auf die ganze Welt übertragen wurde. Nicht von ungefähr geschah dies in der Ära Theodore Roosevelts, als die USA freihandels- und kulturimperialistisch die Bühne der Weltpolitik betraten, und ebenso wenig zufällig war dieser Auftritt begleitet von der grenzüberschreitenden Aktivität philanthropischer Privatvereine und internationaler Organisationen, die man als Prototypen heutigen Transnationalismus betrachten kann.

Schon vor 1914 lagen damit Begriffsrepertoire und Analysekategorien der Globalisierung vor. Jenseits der „westfälischen“ Ordnung der Staatenwelt und an den üblichen, meist bilateralen Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten vorbei expandierte nicht allein der kapitalistische Weltmarkt. In Gestalt von Einwanderer-Gemeinschaften, grenzüberschreitenden sozialen Bewegungen, künstlerischen Avantgarden und Vorläufern des Massentourismus entstand die „Weltgesellschaft“ - nicht mehr als Utopie, sondern als ein realer Topos. Dennoch blieben räumliche Zentralisierungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften wie im Denken politischer Akteure und im Alltagsbewusstsein vorherrschend, obwohl Souveränität, diese Bastion des neuzeitlichen Staatsdenkens, „anachronistisch“ wurde, wie man um 1970, parallel zur Ausdehnung „transnationaler Unternehmen“, in der Lehre von den internationalen Beziehungen anerkennen musste.[6] Jenseits von Staatlichkeit war ein Kommunikationsraum entstanden, der als interdisziplinärer Gegenstand in den postmodern und nachkolonial ausgerichteten Kulturwissenschaften eine ganze Forschungsindustrie sozusagen “ins Trans versetzt” hat.[7] Einige Aspekte des Transnationalen sollen jetzt unter der Fragestellung beleuchtet werden, ob sich mit der ökonomischen und kulturellen Globalisierung nicht nur Staatlichkeit relativiert hat, sondern jenseits davon auch eine politische Sphäre transnationalen Regierens und faktischer „Weltbürgergesellschaft“[8] restituiert.

Globalisierung: Funktionaler Standard und kulturelle Differenz

Weltmarkt: Transnationale Konzerne

Die mächtigsten und auffälligsten Relativierer von National-Staatlichkeit waren stets die transnationalen Konzerne, Unternehmen also, die in mehreren Staaten gleichzeitig aktiv sind und nicht bloß gelegentlich weltumspannende Transaktionen tätigen. Einen Weltmarkt gab es schon, seit Fortschritte der Navigationstechnik Seefahrt und Handel, Geldverkehr und Investitionen über die Kontinente hinweg erlauben. Die „postmoderne“ Unterwanderung nationaler Grenzen hatte also ihre vormodernen Vorläufer, und die weltwirtschaftliche Verflechtung vor 1914 schon ähnlich hoch wie in den 1970er Jahren. Dazwischen lagen die gescheiterten Versuche, sich durch nationale oder supranationale Abschottung von Wirtschaftsräumen der Mobilität des Kapitals entgegenzustemmen. Diese „Vaterlandslosigkeit“ reicht mittlerweile über den üblichen Verkehr zwischen Mutterhäusern und ausländischen Töchtern hinaus; es sind Firmen- und Banken-Konglomerate, die (außer vom Gerichtssitz her) nicht mehr in einem Nationalstaat verankert sind und deren Umsätze und Profite die Staatshaushalte reicher OECD-Länder und sogar das Sozialprodukt gehobener Schwellenländer übertreffen. Der noch in den Anfängen befindliche elektronische Handel, darunter „Business-to-Business“-Geschäfte, wird diese Enträumlichung noch radikalisieren.[9]

Transnational agieren nicht allein die famosen „dot-com“-Firmen, sondern vor allem die ins Zentrum des Wirtschaftsgeschehens gerückte, zugleich von ihm abgekoppelte Finanzwirtschaft. Gewiss muss man die Zukunftsaussichten der „New Economy“ mit Vorsicht betrachten, aber bei ihren Leitbranchen Telekommunikation und Biotechnologie spielen staatliche und kulturelle Grenzen kaum noch eine Rolle. Was Steuern und Zölle, Haupteinnahmequellen von Nationalstaaten und supranationalen Wirtschaftsgemeinschaften betrifft, hat diese Entgrenzung des  „digitalen Kapitalismus“ dramatische Folgen. Zu den globalen Standards bei Management und Dienstleistungen trat die Harmonisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts durch weltweit tätige Anwaltssozietäten, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Consulting-Firmen. Diese haben nicht wirklich globale Reichweite, zu beobachten ist eher eine insulare Regionalisierung (im Sinne von „Kontinentalisierung“) der Wirtschafts- und Sozialräume.[10] Die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA, der lockere Zusammenschluss der asiatischen „Tigerstaaten“ und die politisch-institutionell am stärksten verflochtene Europäische Union sind Anhaltspunkte dieser Rekonfiguration, welche auch noch die geographische Unterteilung im ICANN-Direktorium kennzeichnet. Exemplarisch zeigt sich hier, wie transnationale Räume „emergent“, das heißt: zwischen den Nationen und über die alte Staatenwelt hinweg entstanden sind. In den Zwischenräumen bewegt sich eine „Business-Klasse“, die zahlenmäßig begrenzt, aber strategisch bedeutsam ist und weltweit als Rollenmodell gilt, ein lockeres Konglomerat aus Managern, Beratern und Dienstleistern, die sich – am Beispiel der “Apple-Culture” oder der “Linux-Bewegung”[11] - stärker mit Firmen oder Konzepten assoziieren als mit Vaterland und Muttersprache und patriotische Gefühle eher einem nostalgisch verklärten Ort der Kindheit oder Sportvereinen widmen, in denen ähnlich gut bezahlte Nomaden antreten.

Transmigranten - Weltbürger in nuce?

Grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskraft ist dabei nicht allein auf den obersten Etagen des Arbeitsmarktes gefragt. Dass beispielsweise bei der Deutschen Lufthansa Mitarbeiter des Reinigungspersonals gehalten sind, Englisch zu sprechen, belegt über das Vordringen dieser neuen lingua franca als Metakommunikationsmedium der Weltgesellschaft hinaus, wie mobil und multikulturell selbst Hilfsarbeiter mit prekärem Aufenthaltsstatus mittlerweile geworden sind. Vor allem diese Völkerwanderung, die durch ein Heer von Ferntouristen, Pendlern und Pensionären im sonnigen Süden ergänzt wird, hat die Erforschung “transnationale soziale Räume” (Faist) angeregt. Die Migrationsforschung, einst eine randständige Teildisziplin, ist ins Zentrum gerückt und spricht hier von “Transmigranten”. Sie unterscheiden sich von den altbekannten Vorbildern, etwa den Polen im Ruhrgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Emigranten in klassische Einwanderungsgesellschaften (USA, Kanada, Australien, Frankreich) dadurch, dass Herkunftsregion und Niederlassungsort wesentlich stärker miteinander verwoben. Dazwischen sind dichtere Netzwerke entstanden, welche die Wanderer an zwei oder mehr Gesellschaften zugleich binden. Die transnationalen Netzwerke von Haitianern und Philippinos, das Hin und Her mexikanischer Pendler in den USA, der Sikhs in Großbritannien und vieler weiterer „Diaspora-Gruppen“ wie das naheliegende Beispiel von Türken und Kurden in Deutschland belegen diese neue Qualität im globalen Wanderungsprozess.[12] Billige Transporte und im wahrsten Sinne des Wortes kinderleichte Kommunikation lassen eine permanente Ansiedlung,  wie sie für klassische Immigrationsprozesse typisch war, nicht mehr geboten erscheinen, sondern erlauben das ständige Kommen und Gehen zwischen “Heimat” und „Gastland“. Früher blieben Remigration und periodische Heimatbesuche von Auswanderern episodisch und quantitativ begrenzt, vor allem aber ohne jene Auswirkung auf die Strukturierung ganzer Gesellschaften, die transnationale Gemeinschaften heute haben.

Transmigranten leben dauerhaft an zwei und mehr Orten, sie sprechen ständig zwei und mehr Sprachen, besitzen massenhaft zwei und mehr Pässe (oder einen “gefestigten Aufenthaltsstatus”) und durchwandern anfangs tastend, dann mit wachsender emotionaler Routine Familienhaushalte, Beziehungsnetze und Kommunikationsräume kontinuierlich in beide Richtungen. Der Fall des Eisernen Vorhangs verstärkt analoge Wanderungsbewegungen in Ost-West-Richtung, und die Kommunikations- und Transportrevolution erlaubt außer Ferngesprächen und Billigflügen weltweiten Empfang “heimischer” TV- und Radioprogramme per Kabel und Satellit. Das alles zusammen, eventuell kombiniert und gekrönt durch das World Wide Web, ein Medium der Transnationalisierung par excellence, führt eine Enträumlichung herbei, die anders als die klassische Emigration “virtuelle Nähe” und bloß temporäre Abwesenheit gestattet. Dadurch können sich Gemeinschaften auch ohne dauernde Begegnung von Angesicht zu Angesicht erhalten, und mit der sukzessiven Dauerpräsenz “daheim” und “in der Fremde” werden beide Pole der transitorischen Existenz am Ende fast austauschbar.

Als transnational können wir nun genauer ein soziales Feld jenseits nationaler Zugehörigkeiten definieren, in dem eine wachsende Zahl von Menschen eine Art chronisches Doppelleben führen. Räumliche und soziale Mobilität waren stets Voraussetzung und Begleiteffekt der Modernisierung. Doch dem einstigen “Bauernlegen”, das die Agrarbevölkerung von der Scholle losriß und in die Industriestädte trieb, entspricht heute eine Art “Grenzenlegen”. Damit steht der “Container-Blick” der Soziologie in Frage; ihre auf nationale Gesellschaften bezogenen Raum- und Ordnungsmetaphern sind verbraucht. Für die Kultursoziologie zählen unter diesem Gesichtspunkt stärker die “routes”, die Routen der Migration, als die “roots”, die Wurzeln personaler Identität in nationalen Kollektiven.[13]

Der Virtualisierung des Raums und der Synchronisierung der Zeiterfahrung steht freilich die elementare Körperlichkeit des Menschen entgegen. Beharrungskraft und Rhythmus der leiblichen Existenz kann eine ebenfalls transnationale Stilisierung der Lebensführung nicht überspielen; die darin angelegte Beschleunigung und Zeitverleugung akzentuiert sogar die Leiblichkeit, darunter die prima-facie-Wahrnehmung des fremden Anderen in seiner rein physischen „Abweichung“. Bequem sind solche Existenzweisen also nicht unbedingt, aber ein pauschales Mitleid mit dem Leben “zwischen den Kulturen” ist nicht angebracht. Gerade Angehörige der zweiten und dritten Generation von Einwanderern haben in permanenten Szenewechseln mittlerweile eine Routine, mitunter Virtuosität entwickelt und dabei im übrigen so viel materielles und kulturelles Kapital akkumuliert, dass sie den unbeweglicheren Mehrheiten bisweilen sogar überlegen wirken.

Weltreligionen: Von der Diaspora zum religiösen Supermarkt?

Wanderer zwischen den Welten führen in der Regel heimische Gottheiten und Riten im Gepäck, denn gerade Menschen, die Bindungen verloren haben, suchen “Rück-Bindung”, wie die wörtliche Übersetzung von Religion lautet. Kulturelle, in Sonderheit religiöse Gemeinschaften bewegten sich schon immer über nationale Grenzen hinaus. Spiritueller Gemeinsamkeitsglaube lässt sich besonders gut “strecken” und in der seit der Zerstreuung jüdischer und frühchristlicher Gemeinden so genannten Diaspora rekonstruieren. Auch an der überlokalen Verbreitung religiöser Ideen und Gemeinschaften ist nichts prinzipiell Neues - die katholische Kirche haben wir bereits als erste Agentur der Globalisierung überhaupt identifiziert. Transnationalisierung der Religion ist aber weder, wie in kolonialen Zeiten, identisch mit Verchristlichung und Verkirchlichung, noch hat sich das Säkularisierungsmuster, das für die christlichen Gesellschaften Europas typisch war, weltweit durchgesetzt.[14]

Obwohl die auf parochialer Lebensführung gegründeten „Leitkulturen“ durch transnationale Migration relativiert werden, kann Auswanderung religiöse Wir-Gefühle wiederbeleben. Religion wirkt damit im Bezug auf die Weltgesellschaft gleichzeitig anti- und prosystemisch: Sie treibt die Globalisierung voran, gerade indem sie sich ihren gleichmacherischen und profanen Effekten widersetzt – durch Bildung betont partikularer Gemeinschaften und Gemeinden. Diaspora, einst eine katastrophal empfundene Erfahrung, ist im religiösen Pluralismus dieser Tage keine Ausnahme mehr; und da zugleich der Schutz religiöser Freiheit weltweit verbessert ist, werden importierte religiöse Symbole auch im öffentlichen Raum säkularisierter Gesellschaften sichtbar. Daraus ergeben sich Gelegenheiten, die Gemeinsamkeiten religiöser Überzeugungen gegen säkulare und atheistische Weltanschauungen herauszustellen, eventuell auch als „interfaith activities“ zu ökumenischen Wert- und Zweckgemeinschaften zu bündeln. Aber ebenso stellt sich erneut die Frage der ein- oder wechselseitigen Mission von Un- und Andersgläubigen. Jedenfalls ergibt sich im religiösen Feld und im Spannungsgebiet zwischen Laizismus und Integrismus, Zentrum und Peripherie ein potentieller Konflikt, auf den weder laizistische Republiken noch mehr oder weniger ausgeprägte Staatskirchensysteme eingestellt sind. Dabei zeigt sich, dass auch die etablierten „Welt-Religionen“, deren Wirkung nie an diesem oder jenem Ort festzumachen war, de facto Gemeinschafts- und Gruppenkulturen sind, die sich in der „westfälischen“ Staatenwelt intensiv mit „ihrer“ jeweiligen sozialen Ordnung und politischen Herrschaft verschränkt haben.

Die transnationale Öffnung bewirkt einen allseitigen Relativierungsschock. Religionsgemeinschaften verkünden nicht mehr aus dem jeweiligen kulturellen Kontext selbstevidente Wahrheiten, sie stehen mit anderen Deutungen des Heiligen und Absoluten im Wettbewerb. Was das für die Religion selbst, in ihrer Doppelbedeutung als Funktion der Gesellschaft und als Performanz kultureller Gruppen, bedeutet, kann hier nicht erörtert werden; jedenfalls ist eine Art „Amerikanisierung“ der religiösen Struktur moderner Gesellschaften zu beobachten: Mit der in der amerikanischen Verfassung vorgegebenen strikten Trennung von Staat und Kirche geht eine ungeniertere Präsenz des Religiösen im öffentlichen Raum einher, und religiöse Oligopole, welche die beiden christlichen Kirchen in Europa genießen, müssen einer horizontalen, eher sekten- als kirchenförmigen Koexistenz weichen. Möglich ist, dass in diesem „religiösen Supermarkt“ die Volksfrömmigkeit wieder zunimmt, wie das in den USA parallel zur sozialen und ökonomischen Modernisierung exemplarisch der Fall war.

Globalisierung beschränkt sich mithin nicht auf Unternehmensfusionen, Internet-Kommunikation und Finanztransaktionen. Auch „Humankapital“ unterschiedlicher Qualifikation und Entlohnung wandert um den Globus, und darunter sind nicht nur durchsäkularisierte „Wissensarbeiter“, sondern (auch unter diesen) religiös orientierte Einzelne und Gruppen, die sich in der Diaspora zu spirituellen Gemeinschaften verbinden. Sie tun dies nicht allein in der organisations- und apparatgestützten Weise großer Weltkirchen, sondern vor allem als dezentrale, inoffizielle und heterodoxe religiöse Zivilgesellschaft. Auch diese Bewegung, die sich politisieren und „fundamentalistische“ Züge annehmen kann, trägt zur Relativierung des Nationalstaats bei, sofern darin die Kongruenz einer Leitkultur mit dem politischen System impliziert ist. Sie darf aber nicht als per se „unpolitisch“ missverstanden werden. Der amerikanischen „civil society“ und „civic culture“ lagen stets lokale Gemeinschaften zugrunde, die ihrerseits religiös fundiert waren.

Weltkulturen: Amerikanisierung oder Kreolisierung?

Was sich für den „religiösen Supermarkt“ behaupten lässt, trifft generell für die Diffusion und Vermischung multikultureller Gesellschaften zu, und ebenso wenig wie religiöse Begegnungen per se friedlich verlaufen, darf man vom kulturellen System a priori Integrationsleistungen erwarten. Schon seit den Zeiten Goethes und Herders fechten auf kulturellem Gebiet zwei Denkschulen und Tendenzen miteinander: die universalistische Idee der Weltliteratur mit der Vorstellung partikularer Kulturnationen. Man ist gut beraten, sie im Hinblick auf die Diffusionsprozesse populärer Massenkultur im 20. Jahrhundert als komplementär anzusehen und die „unreine“ Vermischung als eigentliches Charakteristikum  kultureller Entwicklung aufzufassen. Wie die deutsche Sprache von Goethes Weltliteratur über Hegels Weltgeist bis zu Luhmanns Weltgesellschaft ein großes Repertoire „welthaltiger Begriffe“ kennt, lässt sich das englische “world“ gut verknüpfen. In „world music“ klingt eine besondere Eigenschaft dieser Bindestrichwelten an: Weltmusik im Stile eines Peter Gabriel oder von Putumayo ist eine Collage disparaten Materials, in der oft völlig konträre, aber auch untergründig verbundene Stilrichtungen („from Mali to Memphis“) fusioniert werden. In solchen, in Anspielung auf biologische Kreuzungen „hybride“ genannten Mischungen wächst zusammen, was im Ohr von Puristen auf keinen Fall zusammengehört. Doch Befürworter musikalischer und anderer Mixturen können auf durchaus erfolgreiche Kombinationen seit den frühesten Ursprüngen der schönen Künste verweisen, und allgemein lässt sich feststellen, dass die Kreativität von Kulturen zu keiner Zeit auf Fernhaltung des Fremden, sondern stets auf “außerordentlichen” Anleihen beruhte, das heißt auf mimetischer Aneignung und ständigem Austausch von Erfundenem, auf Innovation von den Rändern aus und Anverwandlung von scheinbar Unassimilierbarem. So gesehen, stellen Phänomene der „Weltkultur“ eine weitere Stufe der ständigen „Hybridisierung“ hybrider Kulturen dar, und alle Bemühungen um kanonische Restauration zeugen davon, dass insofern der Kulturrelativismus gesiegt hat, ebenso wie die Barrieren zwischen Hoch- und Niedrigkultur geschleift sind.[15]

Begonnen hat die „wilde“ Verbindung von Artefakten, Symbolen und Identitäten mit  dem primären Ausdrucks- und Kommunikationsmittel also, mit der Sprache selbst, wo es im Kontakt zwischen zwei und mehr Sprechergruppen häufig zur „Kreolisierung“ kam. Die Wechselwirkung war in der Regel  asymmetrisch und häufig auch gewaltsam, und die aktuelle Interdependenz der Weltgesellschaft kennt ebensolche Ausschlüsse. Dabei lösen sich gleichwohl Elemente aller Kulturen aus ihren lokalen Wurzeln und Kontexten, was häufig als „Standardisierung“ und, da die Ursprünge der hegemonialen Populärkultur in den USA anzusiedeln sind, als „Amerikanisierung“ gedeutet worden ist. Für diese Annahme sprechen Selektivität und Wirkungsweise der Kulturindustrie selbst, die bisweilen ein kulturelles „Artensterben“ bewirkt hat; andererseits erzeugt gerade die strukturelle Angleichung der Weltgesellschaft nicht durchgängig Uniformität. Kultur ist in kulturanthropologischer Sicht stets als „bounded and embedded“ zu denken und damit als ein Feld anzusehen, das jeweils nur an einem bestimmten Ort und zu bestimmter Zeit zu bestellen und zu pflegen ist. Während Wirtschaft und Technik im Weltmaßstab universale Medien wie das Geld und standardisierende Expertensysteme benötigen und hervorbringen, die von lokalen Ursprüngen absehen müssen, weil erst diese Abstraktion Kommunikation zwischen Fremden erlaubt und Vertrauen schafft, sträuben sich kulturelle Akteure gegen Vereinfachung und Vereinheitlichung und übertragen dieses Bestreben auch auf den ökonomischen Sektor.

Nur noch selten erreicht die daraus resultierende Absonderungstendenz die Kraft eines „fundamental“ auf (Rein-)Erhaltung der eigenen Kultur zielenden Widerstands, wie dies beispielgebend für die (ebenfalls erstmals um 1910 tätig gewordenen) protestantischen Fundamentalisten in den USA und anti-modernistische Bewegungen in ihrem Gefolge galt. So sehr sich im „Kampf der Kulturen“ gegenseitige Distinktionsbedürfnisse aufstacheln und politisieren lassen, sie bleiben letztlich auf eine „Struktur gemeinsamer Unterschiede“ (Marshall Sahlins) bezogen. Da Standardisierung und Distinguierung miteinander einhergehen, ist die Hypothese der Kreolisierung überzeugender als die Gegenthesen vom Kulturkampf und der McDonaldisierung[16] - es sei denn, man erkennt im Anschluss an Bourne gerade in der Kreolisierung den Motor der Selbstamerikanisierung Amerikas im vergangenen Jahrhundert wieder, die sich der erzwungenen Assimilation in eine Mono- oder Leitkultur hat ebenso verweigert hat wie kosmopolitischer Zerstreuung und Gesichtslosigkeit.

Aus intendierter Amerikanisierung wäre demnach eine ungesteuerte Selbstamerikanisierung des großen Rests der Welt geworden. Für den hier behandelten Eventualfall, die Herausbildung einer transnationalen Zivilgesellschaft, stellt der kulturelle Pluralismus insofern eine Herausforderung dar, als bisher die „politische Gesellschaft“ stets national-staatlich homogen gedacht war, idealtypisch die dritte französische Republik. Eine Kreolisierung jedweden Typs sah sie als Quelle sozialer Anomie und politischer Desintegration an, während der amerikanische Patriotismus, der in Wirklichkeit weit „substantieller“ ist als die Abstraktion des Verfassungspatriotismus, kulturelle Differenz zu absorbieren und sie als Ressource kollektiver Identitäten zu nutzen verstand.

Vom Weltgewissen zur transnationalen Politik

Weltöffentlichkeit: eine echte Appellationsinstanz?

Auf die ominöse Völkergemeinschaft und das Weltgewissen haben Opfer von Unterdrückung ihre Hoffnungen gesetzt, wenn sie im eigenen Land schutzlos blieben und keine Gerechtigkeit erfuhren. Nur selten wurde dieser Anspruch eingelöst: Dass die Vernichtung der europäischen Juden geschehen konnte, ist ein krasses Gegenbeispiel, das in der Folge freilich, ausgehend von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, eine tiefgreifende Korrektur des auf nationaler Souveränität basierenden Völkerrechts ausgelöst und das ihm inhärente Nichteinmischungsgebot erheblich eingeschränkt hat. Wie intrikat so begründete humanitäre Interventionen sein können, haben brisante Fälle von (Nicht-)Einmischung in der jüngsten Vergangenheit offenkundig gemacht. Hinzu trat die „nachkoloniale“ Forderung, kulturelle Sonderwege zu respektieren und dieses Recht auf Differenz selbst universal zu verankern. Immerhin werden Menschenrechtsverletzungen durch Gewaltregime heute in der Regel breit publik und ohne Rücksicht auf politische oder kulturelle Autonomieansprüche wirksam angeprangert. Grund- und Bürgerrechte sind in internationalen Konventionen so bindend kodifiziert worden, dass daraus, wenigstens in Ansätzen, eine internationale Gerichtsbarkeit erwachsen ist.

Befördert, zugleich aber auch manipuliert werden solche universalen Ansprüche durch eine Medienöffentlichkeit, die sich thematisch wie von ihrer Organisation und Reichweite her ebenso globalisiert hat. Die populäre Massenkultur erlaubt Reisen durch Zeit und Raum, ohne dass Zuschauer und Zuhörer ihren jeweiligen Standort verlassen müssen. Massenmedien wie beispielsweise CNN und MTV können mit Berichten über „Großereignisse“ wie kriegerische Konflikte, Sportwettkämpfe, Auftritte von Stars der Unterhaltungsbranche und dergleichen Auditorien von einem Umfang und in einer Gleichzeitigkeit erreichen, wie das vorher noch nie der Fall war. Es gibt dadurch Themen, die buchstäblich „die ganze Welt“ in den Bann schlagen, und es gibt wachsende Publika für globale Inszenierungen von Medienereignissen. Mit dieser thematischen Konzentration geht jedoch eine Zerfaserung in Teilöffentlichkeiten einher, die erneut die Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung illustrieren kann.

Unter diesem Gesichtspunkt kann man ein erstes Resümee zu den Konsequenzen von ökonomischer Globalisierung, Massenwanderung und Kommunikationsrevolution für die Herausbildung transkultureller Räume und Gemeinschaften ziehen. Erstens hat sich, quer zur herkömmlichen Differenzierung der Weltgesellschaft nach Funktionsbereichen, eine kulturelle, der herkömmlichen Modernisierungstheorie gemäß „traditionale“ Segmentierung eingestellt. Zweitens entterritorialisieren oder virtualisieren sich soziale Räume, und weniger denn je kann man die perfekte Deckungsgleichheit von kulturellen Gemeinschaften mit Staatsgrenzen oder auch die Übereinstimmung zwischen politisch-administrativen und sozialen Systemen unterstellen. Damit bilden sich drittens „emergent“ Gemeinschaften und Identitäten durch Nationen und Nationalstaaten hindurch. Gerade diese Diversifikation und Multiplikation sozialer Zugehörigkeiten haben den Nationalstaat als Leitidee kollektiven Handelns und als politisch-kulturelles Leitmotiv in Frage gestellt, was nun ein erhebliches demokratiepolitisches Problem aufwirft: War die Nation seit dem 19. Jahrhundert, in Verbindung mit dem bürokratischen Anstaltsstaat und demokratischer Repräsentation, Fixpunkt personaler Identität und Bedingung sozialer Zugehörigkeit - und sein Fehlen die Hauptursache unerwünschter Staatenlosigkeit - so entstehen heute, jenseits des Nationalstaates, flexible Formen von Zugehörigkeit und Gemeinschaft, welche die Repräsentativität und Legitimitation demokratischer Herrschaft herausfordern.

Weltpolitik: Transnationales Regieren und Bürgerschaft

Im Vorgang der Globalisierung reproduziert sich, cum grano salis, der Prozess der Nationsbildung der USA auf globaler Ebene, und es entfaltet sich - wie von Bourne vorhergesagt, aber ambivalenter, als von ihm gedacht - die Entwicklungpotenz von „Transnational America“. Kultureller Pluralismus steht nicht im Widerspruch zur „verfassungspatriotischen“, in der populären Massenkultur verankerten Vergemeinschaftung von mehr als 240 Millionen Amerikanern. Hat auf diese Weise - zwischen Lokalpatriotismus und abstraktem Weltbürgertum - der homo politicus doch eine Chance? Über den Politisierungsgrad der amerikanischen Bürger und die Qualität der öffentlichen Deliberation in den USA braucht man sich keine Illusionen zu machen. Zunächst sei also unterstrichen, was aus kontinentaleuropäischer Sicht mit der Relativierung des Nationalstaates verloren gegangen ist: die historische Koppelung von Nation und Demokratie, in welcher auch die Zivilgesellschaft gedeihen konnte. Nationen stellten und stellen den Rahmen von Gemeinschaft und Gesellschaft, begrenzen den Kommunikationsraum von öffentlicher Meinung und Medien, von politischen Parteien und Interessengruppen, und geben so die Voraussetzungen für politische Repräsentation und Partizipation. In diesem Rahmen ist auch definiert, mit wem soziale und politische Solidarität geübt werden und wer davon ausgeschlossen bleiben sollte.

In diesem Zusammenhang muss man unerwartete Wirkungen des Erfolgs der europäischen Wohlfahrtsstaaten betrachten. Das ihnen eigene Prinzip universalistischer Inklusion trug nämlich dazu bei, dass auch Immigranten, ohne formell Staatsbürger zu sein, als “Wohnbürger” über einen hochwertigen Aufenthaltsstatus verfügen. Damit entkoppelten sich jedoch allmählich die Staatsangehörigkeit einer Person von ihrem Recht, Rechte zu haben, zumal internationales Recht, hier vor allem zum Schutz von Wanderarbeitern, sowie Menschenrechtskonventionen regionalen beziehungsweise globalen Zuschnitts eigenständige Quellen individueller und kollektiver Rechte wurden. Damit wurde die soziale Grundlage von Staatsbürgerschaft anspruchsvoller und schwieriger.[17]

Die in der universalen Rechtsfiktion der Nationalität (oder Staatsangehörigkeit) postulierte Differenzblindheit stößt sich mit den im transnationalen Raum gewachsenen und gewollten Unterschieden. Mobilität über die Grenzen hinaus ließ das Verlangen nach zwei und mehreren Pässen steigen, vor allem als Voraussetzung oder auch Resultat von Familiengründungen und -zusammenführungen in der Fremde. Wenn der “flexible Mensch” (Richard Sennett) ein allseits geschätzter Operateur der Weltwirtschaft geworden ist, war nicht einzusehen, wieso Flexibilisierung vor den Sphären von Recht und Politik Halt machen sollte. Und weil soziale Rechte, die allein mit dem Besitz einer Staatsangehörigkeit erreichbar sind, und damit verbundene Pflichten, etwa der Wehrdienst, zunehmend obsolet werden, finden immer weniger (und meist gerade kulturell assimilierte) Einwanderer den Erwerb der Staatsbürgerschaft so bedeutsam, dass sie dafür familiäre und herkunftskulturelle Bindungen aufzugeben bereit wären. Man gewinnt höchstens noch, woran die meisten Einwanderer - und auch viele Einheimische - nicht sonderlich interessiert sind, nämlich an Wahlen teilzunehmen und eventuell Beamter zu werden. Derzeit machen Berufsarmeen die allgemeine Wehrpflicht und den „Staatsbürger in Uniform“ überflüssig; außerparlamentarisch und gewerkschaftlich betätigen darf man sich auch ohne inländischen Pass.

In den USA, wo der Nexus der Wohnungsnahme mit sozialen Leistungen des Wohlfahrtsstaates lockerer ist, blieb die Staatsangehörigkeit attraktiver. Aber auch dort ist kulturell begründete Zugehörigkeit wichtiger geworden, weshalb beispielsweise Mexikaner – genau wie hierzulande eine große Zahl von Deutsch-Türken - den „Doppelpass“ anstreben. Angesichts dessen ist bei Einheimischen das Misstrauen gewachsen, “Parallelgesellschaften” würden sich herausbilden und Zweisprachigkeit über Hand nehmen. Und es wächst, hüben wie drüben, die Sorge, von solchen transnationalen Nomaden seien Verfassungsloyalität und bürgerschaftliches Engagement kaum noch zu erwarten.

Allein globale Mobilität und Betroffenheit, etwa von Umweltkatastrophen oder Verstößen gegen Grund- und Bürgerrechte, erzeugen noch keine grenzüberschreitende Politisierung, diese Form der „Zeitgenossenschaft“ begründet per se kein politisches Kapital. Partizipation im transnationalen Rahmen ist gleichwohl nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Kollektiv verbindliche Entscheidungen außerhalb der gewohnten Arena des Nationalstaates nehmen zu, wie man an den multilateralen Regimen von Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation (WTO) sowie an der “Mehrebenenpolitik” der Europäischen Union illustrieren kann. Effektiv sind deren Entscheidungen auch, oft zum Leidwesen nationaler Regierungen und Bevölkerungen, und zunehmend werden sie nach Mehrheitsentscheid getroffen. Supra- und transnationalen Institutionen, etwa dem Ministerrat der EU,  sind allerdings sehr lange Legitimationsketten eigen; für die von ihren Entscheidungen betroffenen Bürger ist kaum nachvollziehbar, wodurch sie im Heimatstaat einmal demokratisch legitimiert worden sind. Internationale Regime stehen deshalb im Verdacht, wesentliche demokratiepolitische Voraussetzungen zu missachten, nämlich die Zurechenbarkeit und Kongruenz repräsentativer Entscheidungen.[18]

Versuche, diesen Mangel etwa mit der Parlamentarisierung der EU zu beheben, unterstreichen nur die Schwierigkeiten transnationaler Bürgerbeteiligung, die sich einstweilen auf Auswege verlegt hat. Zu erwähnen sind vor allem international tätige Nicht-Regierungs-Organisationen (INGOs) und neue Protestbewegungen von globaler Reichweite, die politischen Willen an Konferenztischen oder auf den Straßen, bisweilen in Kombination beider Arenen, bündeln und artikulieren. Problematisch ist allerdings, dass deren innere Willensbildung in der Regel ebenso wenig demokratisch kontrolliert und legitimiert ist; auch mangelt es am Resonanzboden einer Weltöffentlichkeit, die komplexe Gegenstände transnationalen Regierens austauschen und erörtern kann. Experimente wie die weltweiten Wahl zum Direktorium von ICANN, der Namensverwaltung des Internet, im Herbst 2000 zeigen, dass es ein Bedürfnis nach weltweiter Mitwirkung und Mitentscheidung gibt, aber auch, wie schwierig eine solche Mitwirkung jenseits des Nationalstaates zu organisieren ist. Nur wenige Tausend aus Millionen von Internet-Benutzern haben daran teilgenommen, so dass man allenfalls von einem “erfolgreichem Scheitern” sprechen kann.[19]

Ausblick: Weltbürgertum in Aktion

Wo also bleibt der Weltbürger im Zeitalter globaler Märkte und Information? Offenbar ist dies kein gesetzlicher Status mit Rechten und Pflichten nach dem Vorbild des deutschen Staatsangehörigen oder des amerikanischen Citizen. Unverkennbar ist aber, dass analog zum Übergang vom mittelalterlichen Stadtbürgertum zur modernen Staatsbürgerschaft jenseits der nationalen Sphäre ein Kommunikationsraum gewachsen ist, in dem sich Menschen nicht nur individuell wirtschaftlich und wissenschaftlich austauschen oder kulturell und religiös vereinigen, sondern auch politisch betätigen können. Insbesondere die Nicht-Regierungs-Organisationen füllen diesen Raum mittlerweile in ganzer Breite aus, indem sie globale Themen wie Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und die Gleichstellung von Frauen artikulieren und kompetent behandeln.[20] Sie bewegen dabei mittlerweile erhebliche personelle, finanzielle und kognitive Ressourcen und organisieren weltweite Kampagnen, womit sie sich bei Vertretern von Staaten und internationalen Organisationen Respekt und, wo nicht Sitz, so doch wenigstens Stimme verschafft haben. Solche transnationalen Aktivitäten können inhaltliche Impulse geben und Tagesordnungen beeinflussen, erstrecken sich aber auch in die Sphäre der Problemlösung und Entscheidung hinein.

Hier, in einem weiten, noch undefinierten Feld, wo die Grenzen des Politischen variabel sind, kristallisiert sich eine politische Arena heraus, die sich, in Ermangelung eines europäischen oder Weltstaates, nicht auf eine politische Zentralmacht und homogene Nation bezieht, sondern subpolitisch und transnational um diese herum bewegt. Damit stellt sich für die Nicht-Regierungs-Akteure dringend das bereits angesprochene Legitimationsproblem, da sie die in Anspruch genommene Sprecher-Rolle nicht repräsentativ begründen und verankern können, sondern auf informell übermittelte  Sympathie und mediale Aufmerksamkeit beschränkt sind. Gemeinnützigkeit, transparente Öffentlichkeitsarbeit und Integrität des Führungspersonals sind keine hinreichenden Äquivalente.

Realisten, immer noch die führende Schule der Internationalen Beziehungen, verwerfen solche Aktivitäten ohnehin weiter als kosmopolitische Utopien. Recht haben sie insofern, als Nationalstaaten die effektivste Akkumulation politischer Macht geblieben sind. Und Recht bekommen sie auch immer wieder durch die Außen(wirtschafts-)politik der Vereinigten Staaten, die jedem “komplexen Multilateralismus” einen Riegel vorschieben, sobald ihre Autonomie und Hegemonie angetastet wird. So war es eine schöne Ironie, aber auch kein Zufall, dass (wie schon in den Sechziger Jahren) eine Bewegung von der amerikanischen Westküste ausging, die den Mangel an demokratischer Bürgerbeteiligung in internationalen Regimen ausdrücklich kritisiert und mittlerweile unter dem Stichwort „Seattle“ um den Globus gegangen ist.[21]

Im Dezember 1999 tagte in Seattle die Welthandelsorganisation (WTO), um Routinefragen der weiteren Liberalisierung des Welthandel zu behandeln. Weit mehr Ärger als die mangelhafte Vorbereitung dieses Gipfeltreffens bereitete den angereisten Regierungsvertreter, dass ihnen Tausende von Demonstranten den Weg ins Konferenzgebäude versperrten. Die Stafette des gleichgerichteten Protestes wurde unterdessen an andere Gipfeltreffen in Davos, Washington, Prag und Seoul  weitergereicht und kehrte zur Amtseinführung des US-Präsidenten auch in die USA zurück, wo die Bewegung über zahlreiche Aktivisten und Anhänger verfügt. “Seattle” ist mittlerweile zum Mantra einer transnationalen Bewegung neuen Typs geworden, die sich neuester Kommunikationstechnologien bedient und damit auch als erste virtuelle Protestaktion dieses Zuschnitts gelten darf.

Mit ihr hat die ökonomische Globalisierung ihr Pendant gefunden, nämlich eine ebenso enträumlichte Opposition von unten, die zum Teil protektionistisch und nationalpopulistisch argumentiert, überwiegend aber eine alternative Form inklusiver Globalisierung reklamiert und mit dem ehrwürdigen Slogan „No Globalization without Representation!“ die Autokratie internationaler Organisationen infragestellt. Die lange vor Seattle gebildete Koalition ist sehr heterogen und weist damit alle Risiken von Kurzlebigkeit und Spaltung auf, denen soziale Bewegungen ausgesetzt sind: Umweltschützer und Gewerkschaftler, Christen und säkulare Menschenrechtler, Arbeiter und Akademiker, Reformer und Revolutionäre, Libertäre und Antikapitalisten sind weltanschaulich und organisatorisch nur punktuell zusammenzubringen, und während Umweltschützer die zerstörerische Wirkung der industriellen Produktionsweise anprangern, verachten Gläubige den menschenverachtenden Materialismus, attackieren Sozialisten aller Schattierungen Ausbeutung und Privateigentum, lehnen Konsumkritiker Ketten wie McDonald’s, Starbucks und Coca-Cola ab.

Zwischen diesen Gruppen tun sich im Zweifel ebenso scharfe Gegensätze auf, wie sie zum gemeinsamen Gegner der internationalen Organisationen bestehen: Protektionistische Gewerkschaftler wollen Grenzen schließen, die eingefleischte Kosmopoliten gerade wegräumen möchten, Entwicklungshelfer des Südens geißeln die Umweltauflagen des Nordens als Öko-Imperialismus, und so weiter. Entscheidend für die Bewertung der INGOs und der sozialen Bewegung ist, ob sie als politische Akteure so stark werden, dass sie nach innen hinreichend kollektive Identität und Zugehörigkeitsgefühle entwickeln, dass sie als strategische Koalitionen politisch allianzfähig bleiben und damit sowohl die Vertreter der transnationalen Unternehmen zur Berücksichtigung ihrer Agenda zwingen als auch die Tagesordnungen und Verhandlungsgegenstände multilateraler Entscheidungsgremien beeinflussen können.

Unter diesen Voraussetzungen ist die transnationale Bürgergesellschaft keine Phrase oder bloße Metapher. Was aus solchen Frontstellungen resultiert, wie zu Ende des 19. Jahrhunderts eine antikapitalistische Opposition gegen die Globalisierung oder eine „progressive“ Reformbewegung in ihrem Inneren, muss offen bleiben. Doch klar ist schon, dass es in transnationalen sozialen Räumen keine “inneren Angelegenheiten” mehr gibt.



[1] In moderner Version vgl. etwa Fritz W. Scharpf, „Demokratie in der transnationalen Politik“, in: Ulrich Beck (Hrsg.) , Politik der Globalisierung, Frankfurt am Main 1998, S. 228-253

[2] dazu und zum Unterschied von funktionaler und kultureller Differenzierung Jeffrey Alexander, Real Civil Societies: Dilemmas of Institutionalization, Thousand Oaks (Sage) und Claus Leggewie, „Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft“, in: Helmut Berding (Hg.) Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2, Frankfurt am Main 1994 (Suhrkamp), S. 46-65

[3] Thomas Faist, The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Spaces, Oxford 2000 (Clarendon); Ludger Pries, XX. Zur Kategorie der Weltgesellschaft auch Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997 (Suhrkamp)

[4] Norman Angell, Fruits of Victory, London 1921 (Collin), S. 63 und John Macmurray, A Challenge to the Churches: Religion and Democracy, London 1922, S. 39

[5] Randolph Bourne, “Trans-National America”, In. Atlantic Monthly, Juli 1916, S. 86-97

 

[6] Ernst-Otto Czempiel (Hg.), Die anachronistische Souveränität, PVS-Sonderheft 1, Opladen 1969, darin Karl Kaiser, „Transnationale Politik“, S. 780-109 und Raymond Vernon, Sovereignty at Bay, New York 1971 (Basic Books)

[7] Als Beispiel zitiert sei der vom britischen Economic & Social Research Council geförderte Verbund von Kulturwissenschaftlern in Oxford und dessen Zeitschrift Global Networks, A Journal of Transnational Affairs (Blackwell) (www.transcomm.ox.ac.uk), vgl. auch Mohammed A. Bamyeh, „Transnationalism“, in: Current Sociology, Bd, 41, H. 3, 1993

[8] So postulieren Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998 und Ulrich Beck, „Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, SH 36 (1996), S. 119-147

[9] Aus einer Fülle von Darstellungen vgl. zuletzt etwa John H. Dunning, Multinational Enterprises and the Global Economy , Harlow 1998 (Addison-Wesley); Peter J. Buckley, Multinational Firms, Cooperation and Competition in the World Economy,  Basingstoke 2000 ( Macmillan) und Paz Estrella Tolentino, Multinational Corporations. Emergence and evolution, London 2000 (Routledge) sowie Paul N. Doremus, The Myth of the Global Corporation, Princeton 1999 (Princeton University Press)

[10] Peter Katzenstein u.a., Asian Regiobnalism, Ithaca 2000 (Cornell University Press); Björn Hettne (Hg.), Globalism and the new regionalism, Basingstoke 1999 sowie Gerd Junne, „Global Cooperation or Rival Trade Blocs?“, in: Volker Bornschier/Christopher Chase-Dunn (Hg.), The Future of Global Conflict, Thousand Oaks (Sage)

[11] Christina Garsten, Apple World. Core and periphery in a transnational organizational culture, Stockholm 1994

[12] Rainer Bauböck, Transnational Citizenship. Membership and rights in international migration, Aldershot (Elgar) 1994; Michel S. Laguerre, Diasporic Citizenship. Haitian Americans in Transnational America, Basingstoke (Macmillan); Claus Leggewie, „Turcs, Kurdes et Allemands. Histoire d’une migration: de la stratification sociale à la diffenciation culturelle, 1961-1990“, in: Le Mouvement Social, H. 188 (1999), S. 103-118 Aihwa Ong, Flexible Citizenship. The Cultural Logics of Transnationality, Durham/London 1999 (Duke Universtity Press) sowie das Themenheft von Ethnic and Racial Studies, SH 2/1999 (Band 22): Transnational Communites, (Routledge)

[13] James Clifford, „Travelling Cultures“, in: Lawrence Grossberg u.a. (Hg.), Cultural Studies, London (Routledge), S. 96-116 und Ulf Hannertz, Cultural Complexity, New York 1992 (Columbia University Press)

[14] Susanne Hoeber Rudolph (Hg.), Transnational Religion and Fading States, Boulder/Colorado. 1997 (Westview): José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994 (University of Chicago Press, 1994

[15] Arjun Appadurai, Modernity at large. Cultural dimensions of globalization, Minneapolis 1996 (University of Minnesota Press); Ulf Hannertz, Transnational Connections: Culture, People, Places, London/New York 1996 (Routledge); John Tomlinson, Globalization and Culture, Chicago 1999 (Chicago University Press)

[16] George Ritzer, The McDonaldization Thesis: Explorations and extensions, London/Thousand Oaks 1998 (Sage); Joana Breidenbach/Ina Zukrigl, Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München 1998 (Antje Kunstmann); Claus Leggewie, Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000 (Hoffmann & Campe)

[17]David Cesarani/ Mary Fulbrook (Hg.), Citizenship, Nationality and Migration in Europe, London 1996 (Routledge); Heinz Kleger, XX

 

[18] Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt am Main (Suhrkamp); Manfred G. Schmidt, XX

[19] Christian Ahlert, „Democr@tic-Global-Governance.net. ICANN als Paradigma neuer Formen internationaler Politik“, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 1 (2001), S. 66-77

[20] Peter Willetts (Hg.), 'The Conscience of the World'. The influence of non-governmental organisations in the UN system, Washington, D.C. 1996 (Brookings Institution); Thomas G. Weiss, Leon Gordenker (Hg.), NGOs, the UN, and global governance, Boulder 1996 (Lynne Rienner); Ann C. Hudock, NGOs and Civil Society: Democracy by proxy? Cambridge 1999 (Polity Press)

[21] Jacky Smith (Hg.), Transnational Social Movements and Global Politics: Solidarity beyond the state, Syracuse 1994 (Syracuse University Press); Margaret E. Keck/ Kathryn Sikkink, Activists Beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca 1998 (Cornell University Press); Peter Waterman, Globalization, Social Movements, and the new Internationalism, London 1998 (Mansell); Robert O’Brien et al., Contesting Global Governance. Multilaterial Economic Institutions and Global Social Movements, Cambridge 2000 (Cambridge University Press)


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