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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2000

Klaus Eßer

Nationalstaat und Marktwirtschaft in Lateinamerika – Chile als Vorbild?

In Chile erfolgte die makroökonomische Neuorientierung ab 1974, im übrigen Lateinamerika bis 1990. Setzt nun in der Region ein technisch-industrieller Aufholprozeß wie in den Ländern Ostasiens ein? Dafür gibt es keine Anzeichen: Das wirtschaftliche Wachstum fällt in den 90er Jahren niedrig aus; die sozialen und ökologischen Ungleichgewichte verschärfen sich. Die intellektuelle Diskussion unterschätzt die Pfadabhängigkeit des Entwicklungsprozesses. Die wirtschaftspolitische Diskussion konzentriert sich einseitig auf die makroökonomische Stabilisierung infolge der radikalen Liberalisierung nach innen und außen. Der Aufbau des Nationalstaates und einer "systematischen kapitalistischen Produktion", auf denen die technisch-industrielle Dynamik, die gesellschaftliche Integration und Entfaltung sowie die weltweite Expansion der heutigen Industrieländer beruhen, wird dagegen vernachlässigt; Chile stellt hier im Hinblick auf viele Aspekte eine Ausnahme dar. Auch in diesem Land verlangen jedoch neue interne und externe Anforderungen eine Reformulierung des Leitbildes und der Politik.

Das fundamentale Modernisierungsdefizit Lateinamerikas

Der fehlende Kontinuitätsbruch

Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert, zuletzt die von Rosemary Thorp im Auftrag der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der Europäischen Union von 1998, heben die "Pfadabhängigkeit" des Wachstums hervor. "The answer lies principally in what had gone before." Wegen spezifischer historischer Bedingungen und der externen Nachfrage wurde in der Region lange Zeit eine Entwicklung nach außen, ein exportinduziertes Wachstum, verfolgt. Ab den 30er Jahren schloß sich, teils durch frühere Exporteure vorangetrieben, eine spontane industrielle Importsubstitution an. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte aufgrund der Pfadabhängigkeit sowie der "limits and constraints of the time", also als Reaktion auf hemmende externe Faktoren, ein staatsgeführtes Wachstum ein, das auf eine dirigistische industrielle Importsubstitution gerichtet war. Nach der ersten Ölkrise, auch wegen dieser, kam es zu einem verschuldungsbasierten Wachstum.

Die staatsgeführte Entwicklung und die Importsubstitution werden in solchen Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte keineswegs als Fehlschlag angesehen; vielmehr wird der erzielte Fortschritt betont ("...skills and knowledge have accumulated"), und zwar auch der technologische Lernprozeß der Unternehmen und die differenzierte institutionelle Entwicklung. Die Importsubstitution wird nicht einmal als wichtigste Krisenursache betrachtet: "In Argentina and Chile, political problems, rather than inward-looking industrialization itself, were leading to crisis." Kam es aber zu immer neuen Krisen nicht auch deswegen, weil das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1950-1978 in Argentinien pro Jahr nur um 3,2 Prozent in Chile um 3,5 Prozent (lateinamerikanischer Durchschnitt 5,4 Prozent) zunahm? "Fortschritt" meint in diesen Untersuchungen die Veränderung im Hinblick auf die regionale Vergangenheit.

Der Vergleich mit der Dynamik in den Industrieländern eröffnet einen anderen Blick auf die Wirtschaftsgeschichte der Länder Lateinamerikas. Diese fallen bis heute technisch-industriell immer stärker zurück. In den größeren Volkswirtschaften erreichte das Pro-Kopf-Einkommen 1900 14 Prozent desjenigen der USA, in den 90er Jahren 13 Prozent. Die Armut wuchs während der Importsubstitution stark und nimmt seither weiter zu. Dies gilt auch für die Einkommenskonzentration, die seit langem die höchste der Welt ist. Die Arbeitsproduktivität in den heimischen Unternehmen verharrte während der Importsubstitution bei 25 Prozent derjenigen in den USA; in den 90er Jahren nahm sie in den großen und mittelgroßen Unternehmen auf 50-60 Prozent, in einigen Großunternehmen auf 100 Prozent zu. Der Anteil am Welthandel fiel von 7 Prozent in 1900 auf 5,3 Prozent in 1997.

Eine Ursache der relativ geringen Dynamik ist die Stabilität eines suboptimalen Institutionengefüges über lange Zeit aufgrund des Beharrungsvermögens von Umverteilungsorganisationen und auch der ideologischen Immunisierung durch die Intellektuellen, z.B. deren larmoyante Dependenz-Argumentation. In Lateinamerika blieben macht- und wirtschaftspolitische Kontinuitätsbrüche aus, die im Entfaltungsprozeß der heutigen Industrieländer neuen Akteuren Chancen verschafften, einen bürgerlich-nationalen Staat und ein Industriesystem aufzubauen. Optionen blieben ungenutzt, z.B. ab den 50er Jahren zum Export arbeitsintensiv erstellter Industriegüter in die Industrieländer. Asiatische Staaten nutzten diesen Export als einen Motor für ihre Dynamik.

Eine weitere Ursache ist der Verzicht auf die Entfaltung internationaler Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Individuen, Unternehmen und öffentlichen Institutionen. Er ist dafür verantwortlich, daß die im Binnenrahmen blockierten Unternehmen ebenso wie die Staatsfunktionäre den Staat plünderten. Die Importsubstitution war keine Industrialisierungsstrategie; sie führte zu einer fragmentierten Wirtschaft, nicht zu einem Industriesystem, und zu einem fragmentierten Staat, der eben kein Entwicklungsstaat war, wie die Schwäche der proindustriellen Akteursgruppen sowie die geringe Qualität der gesellschaftlichen Vorleistungen für die Wirtschaft verdeutlichen. Sie führte auch zu einer fragmentierten Gesellschaft, da die Bindungskraft von Wirtschaft und Staat gering blieb. Der Kapitalismus ohne Motor, ohne produktivitäts-, wettbewerbs- und innovationsorientierte Unternehmen, ging mit einem Nationalstaat einher, der seine Handlungsfähigkeit nach innen und außen kaum ausweitete, wegen der finanziellen und wirtschaftlichen Entgleisung ab 1973 sogar verlor.

Eine wirtschaftspolitische Neuorientierung weg von dem binnenorientierten dirigistischen Pfad war seit langem unausweichlich, um neues Wachstumspotential zu erschließen. Die zweit- und drittbesten unternehmerischen und institutionellen Lösungen, die Lateinamerika im Rahmen der langjährigen Binnenorientierung hervorbrachte, haben in offenen Volkswirtschaften sowie unter dem Druck der neuen Technologien und der Globalisierung keinen Bestand. "Regional- und kulturspezifische Sonderwege" für die "unglücklichen und unterprivilegierten Randstaaten" zeichnen sich nicht ab; sie würden überdies erneut – wie die einseitige Binnenorientierung der rückständigen sozialistischen und kapitalistischen Länder im 20. Jahrhundert – Fehlentwicklungen auslösen. Die Frage ist nicht, ob ein Kontinuitätsbruch in Lateinamerika erforderlich ist, sondern vielmehr, ob die makroökonomische Neuorientierung zu einem Kontinuitätsbruch durch neue politische und ökonomische Akteursgruppen führt.

Markt plus Institutionen: die unzureichende Entwicklungsformel des "Post-Washington-Consensus"

Der marktradikale Washington Consensus von 1990 setzte auf die Deregulierung der Märkte und eine weitreichende Entlastung des Staates. Eine über lange Zeit betriebene makroökonomische Stabilisierung löst jedoch, wie seither deutlich wurde, neue Dissonanzen aus: Es ist schwierig, die Wettbewerbsfähigkeit der Währung zu sichern. Hohe Realzinsen schränken die Investitionstätigkeit – außer im Rohstoffsektor und den rohstoffnahen Industrien, wo sie über ausländisches Kapital finanziert wird – ein. Die inländische Nachfrage bricht weg. Die Ausfuhr wächst schneller als früher, jedoch meist langsamer als die Einfuhr. Die Sparquote bleibt – wegen der Einkommenskonzentration und des niedrigen Wachstums – gering. Geborgtes Kapital vermag solche Schwäche zu überspielen, führt jedoch zu hoher Aus- und Inlandsverschuldung. Finanzsektor und Realwirtschaft fallen auseinander. Die Zahl neuer und zusätzliche Arbeitsplätze im formellen Sektor ist unbedeutend.

In vielen Ländern vermag der schlanke Staat, der in Lateinamerika fast immer ein schwacher Staat ist, die Standort- und Wettbewerbsbedingungen nicht so auszugestalten, daß eine große Zahl lokaler Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb bestehen können, heranwächst. Insbesondere die gesellschaftlichen Vorleistungen für die Wirtschaft bleiben gering. Sogar die Bindungskraft der gemeinschafts- und gemeinwohlbezogenen Institutionen nimmt weiter ab. Konsistente und akzeptierte Normen und Regeln fehlen; Korruption und Kriminalität wachsen. Wegen der Krisentendenzen in Lateinamerika empfiehlt der "Post-Washington Consensus" seit Mitte der 90er Jahre, die makroökonomische Stabilisierung durch institutionelle Reformen, Rechts-, Finanz- und Bildungsreformen, zu ergänzen. Der in einigen Ländern Lateinamerikas einsetzende institutionelle Wandel in Richtung eines effektiven Staates ist modernisierungsorientiert, jedoch im Hinblick auf den Aufbau eines nationalen Institutionengefüges – bis hin zu einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem – richtungslos.

Eine Richtung könnten ihm nur Akteursgruppen, die einen handlungsorientierten Nationalstaat aufbauen, geben. Angesichts der internen und externen Herausforderungen der Länder Lateinamerikas stellt auch die neue Formel "Makroökonomische Stabilisierung und institutionelle Entwicklung" keine hinreichende Empfehlung dar. Die radikale Liberalisierung ordnet diese Länder in den Globalisierungsprozeß ein, ohne daß sie über leistungsfähige Basisinstitutionen verfügen, um an diesem Prozeß aktiv teilzunehmen. Die Marktwirtschaft wird durchgesetzt, ist aber, weil der Nationalstaat schwach bleibt, nur begrenzt funktionsfähig. Die neuen Akteursgruppen sind nicht fähig, den Aufbau und die Inbezugsetzung der beiden Basisinstitutionen in die Hand zu nehmen, damit wirtschaftliches und politisches Handlungspotential für einen Entwicklungsprozeß im nationalen Interesse zu erschließen. Deutlich werden die Grenzen der Entwicklung von außen her.

In Chile wurde die Empfehlung aus den Industrieländern, auf einen schlanken Staat und Stabilisierung zu setzen, bald zugunsten eines starken und effektiven Staates und einer exportorientierten Wachstumsstrategie überwunden. Wegen der Schwächen von Unternehmen und Institutionen sowie mangelnder Qualifizierung der Arbeitskräfte konnte jedoch im neuen Rahmen nur ein schlichtes Wachstumsmuster umgesetzt werden. Heute gibt es Anzeichen dafür, daß unternehmerische und öffentliche Akteure heranwachsen, welche die technisch-industrielle Dynamik zu erhöhen vermögen. Vielleicht werden sie die in den Industrieländern üblichen innovations- und wettbewerbsstarken Unternehmens-"Cluster" einschließlich geeigneter Umfeldbedingungen aufbauen können. Ihre enge Koppelung kann unter Umständen – sicherlich nicht kurz- bis mittelfristig – Wissen zum zentralen Produktionsfaktor machen. Die Durchsetzung der Markt- und Weltmarktorientierung ist jedenfalls nur ein Schritt in diese Richtung.

 

Entwicklung eines neuen Wachstumsmodells in Chile

Nutzung einer günstigen endogenen Konstellation für den Aufbau von Nationalstaat und Marktwirtschaft

Chile hat als erstes Land Lateinamerikas den unproduktiven Pfad einseitiger Binnenorientierung überwunden und ist im Hinblick auf beide Basisinstitutionen der Moderne, Ökonomie und Staat, regionaler Vorreiter. Die Marktwirtschaft des Landes stellt eine solide, funktionsfähige Institution dar, auch wenn es nur wenige Anzeichen für ein Wirtschaftssystem gibt. Seit 1985 ist das pragmatische makroökonomische Management auf den Aufbau einer Exportwirtschaft als Wachstumsmotor gerichtet. Die Wirtschaft setzt entschieden auf eine Kultur der Expansion, die Orientierung an Marktführern auf Weltmärkten in Kombination mit eigenen Leistungsvorteilen und die Ausrichtung an Kundenwünschen.

Chile verfolgt eine grundsätzlich neoliberale Makropolitik, um die Marktkräfte zu entfesseln. Wird das Land jedoch als neoliberaler Musterfall abgehandelt, können wichtige Charakteristika seiner Politik nicht hinreichend geklärt werden. Auch der chilenische Weg beruht auf einem Bündel geographischer, historischer, kultureller, politischer, lokal- und weltwirtschaftlicher Bedingungen. Im Jahre 1985 wurde der Grundgedanke der angebotsorientierten Makropolitik, nämlich eine berechenbare Geld- und Finanzpolitik, nicht in Frage gestellt; die Reduzierung der Inflation, die in den andauernden Stabilisierungsansätzen vieler lateinamerikanischer Länder im Mittelpunkt steht, trat jedoch zeitweise zugunsten der Auslösung von Wachstumsdynamik in den Hintergrund. Die Inflation verringerte sich aufgrund des pragmatischen makroökonomischen Managements sowie der direkten und indirekten Effekte des hohen Wachstums und der Export-Expansion schnell; sie lag 1998 bei 4,7 Prozent.

Die eindeutig und dauerhaft exportorientierte Wachstumsstrategie (statt unbedingter Geldwertstabilität) setzt seit 1985 auf die flexible Handhabung des Wechselkursregimes, lange Zeit einen passiven "crawling peg". Seit September 1999 "floated" der Peso frei, um dem Export erneut Auftrieb zu geben. Die institutionelle Differenzierung, vor allem des Zentralstaates und der mesoökonomischen Institutionen, sowie die Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik werden kontinuierlich vorangetrieben. Kapitalverkehrskontrollen wirkten der Tendenz zur Verselbständigung von Finanzkreisläufen und dem durch hohen Zufluß von Portfolioinvestitionen genährten Aufwertungsdruck entgegen. Die Bardepotpflicht für ausländische Kredite und Portfolioinvestitionen wurde allerdings aufgrund der Krise ab 1998 suspendiert.

Chiles Nationalstaat ist heute im lateinamerikanischen Vergleich eine solide Institution. Die Militärdiktatur und ab 1990 die demokratischen Regierungen trieben die Trennung von Staat und Privatinteressen, für die es günstige historische Voraussetzungen gab, weiter voran. Der Staat vermag sich nicht nur den partikularen Interessen der vermögenden Schichten und der – radikal reformierten – Staatsbürokratie zu entziehen; er ist sogar effektiv und stark genug, um erstere durch Neuregulierung und Politik unter "performance"-Druck zu setzen und Machtpositionen von rentenorientierten Umverteilungsorganisationen zu verhindern. Zwar fiel das Wachstum 1999 aufgrund der Finanz- und Währungskrisen in Asien und im benachbarten Lateinamerika gering aus; die Fähigkeit der chilenischen Politiker, Technokraten und Ökonomen, Krisen dieser Art zu überwinden, wird jedoch weder im In- noch im Ausland bezweifelt.

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern Lateinamerikas reagieren die vermögenden Schichten auf den neuen Druck von Markt und Staat, indem sie eine große Zahl wettbewerbsorientierter Unternehmer hervorbringen. Hierzu haben ihre Erfahrungen seit Anfang der 60er Jahre beigetragen:

  • die vorsichtige Agrarreform der konservativen Regierung Alessandri,
  • die Verstaatlichung des Kupfergroßbergbaus, gemäßigte Agrarreform und politische Mobilisierung der armen Bevölkerung durch die christlich-demokratische Regierung Frei,
  • das revolutionäre Experiment der Regierung Allende und
  • die stabilisierungsorientierten makroökonomischen Versuche der ersten Phase der Militärdiktatur.

Hinzu kommt, daß das Investitionsklima für das Heranwachsen eines modernen kapitalistischen Unternehmertums günstig ist, weil ein politischer und wirtschaftspolitischer Grundkonsens besteht, der während der Verfolgung suboptimaler Pfade nicht zustande kommen konnte.

Während der Importsubstitution fanden sich die größten Unternehmen im staatlichen Dienstleistungs- und im Rohstoffsektor. Als positiv für die Entwicklung wettbewerbsorientierter Unternehmen erweisen sich seither:

  • die radikale Liberalisierung bei vorsichtiger Neuregulierung und die Privatisierung fast aller Staatsunternehmen,
  • die solide Makropolitik, die auf exportorientiertes Wachstum zielt,
  • die institutionelle Reform und Differenzierung sowie
  • die hohe Eigenleistung der Unternehmen selbst.

Die Zahl exportierender Unternehmen nahm von 200 (1975) auf 6.000 (1998) zu, von denen etwa 1.500 Unternehmen nicht-rohstoffnahe Industriegüter ausführen. Insgesamt gibt es mehr als 7.000 moderne Unternehmen.

Markt- und Weltmarktorientierung sowie Fusionen und Akquisitionen, die sich in der Krise seit 1998 verstärken, lassen lokale Großunternehmen entstehen, die Rohstoffe und rohstoffnahe Industriegüter ausführen. Seit den 70er Jahren wuchsen in Chile mehr als zwanzig lokale Konglomerate heran, die auf dem Wege sind, lateinamerikanische multinationale Konzerne zu werden. Auf die in- und ausländischen Großunternehmen entfallen mehr als 85 Prozent der Ausfuhr. Die Dynamik und der Lernprozeß dieser Unternehmen prägen das Wachstumsmuster. Mengen-, Differenzierungs- und Weiterverarbeitungsstrategien stehen im Vordergrund.

Die Unternehmen, während der Importsubstitution "altamente desespecializadas", sind heute, soweit sie exportieren, hochspezialisiert und verfügen über eine ausgeprägte Finanz-, Management-, Marketing- und Logistik-Kompetenz; ihre Kundenorientierung ist ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Sie verfolgen den eingeschlagenen Pfad der Ausfuhr von Gütern mit geringer Wertschöpfung, solange dies möglich ist, unternehmen jedoch außerdem Anstrengungen zu einem "upgrading" in den Exportbranchen. Einige Unternehmen dringen in technologisch komplexen Branchen vor.

Die Strategie der Ausweitung rohstoffnaher Exporte

Im Rahmen des exportgeleiteten ressourcenbasierten Wachstumsmusters wurde im Zeitraum 1987 - 1998 ein hohes Wirtschaftswachstum erzielt; das BIP wuchs durchschnittlich um 6,75 Prozent pro Jahr. Hierzu trugen hauptsächlich die außerordentliche Steigerung und Diversifizierung der Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen (auf 20,8 Milliarden US-Dollar 1997) bei. Die radikale Liberalisierung beseitigte den traditionellen "bias" gegen den Export; die starke Abwertung des Wechselkurses in der Krise 1982/83 und die Wechselkurspolitik ab 1985 begünstigten das Exportwachstum. Hinzu kamen die Staatsreform, Finanzsektor-Reformen sowie mesoökonomische Maßnahmen, um die exportierenden Unternehmen zu unterstützen. Auch die flexible und effektive Anpassung der Politik an die sich verändernden internen und weltwirtschaftlichen Bedingungen erwies sich als wichtig. Das Wirtschaftswachstum in Chile trug wegen der geschickten Kombination von Stabilitäts- und Wachstumspolitik zu einer hohen Sparquote (8 Prozent in 1981, 21-22 Prozent in 1997) bei.

Das exportgeleitete Wachstum basierte anfangs hauptsächlich auf der Nutzung vorhandener Vorteile im internationalen Wettbewerb. Die statischen Standortvorteile umfassen verschiedene mineralische Rohstoffe, das Klima, den Boden sowie die niedrigen Kosten für den Faktor Arbeit. Der vermehrte Faktoreneinsatz diente einem vorwiegend quantitativen Wachstum. Der Export von Rohstoffen und rohstoffnahen Gütern klammerte während der Diktatur, vor allem bis 1985, die impliziten sozialen und ökologischen Kosten weitgehend aus (Verbot von Gewerkschaften, Raubbau, z.B. Überfischung). Ein vermehrter Einsatz von in- und ausländischem Kapital wurde ganz besonders zur Modernisierung des Kupferbergbaus, auch durch das Staatsunternehmen CODELCO, erforderlich. Chile betreibt hier die Politik eines Mengenanpassers, um seinen Einfluß als Marktteilnehmer zu erhöhen.

Zunächst wurden die Exporte von Primärgütern diversifiziert (Bergbau, Obst-, Fisch- und Holzwirtschaft). Seit Ende der 70er Jahre nahm die Ausfuhr rohstoffnaher Industriegüter, z.B. von Zellstoff und Holzprodukten, schnell zu. Das Potential zur Diversifizierung, neuerdings z.B. durch Span- und Faserplatten, ist groß. Während die Ausfuhr der ursprünglich für den Binnenmarkt gedachten rohstoffnahen Industriegüter in Argentinien und Brasilien bis in die letzten Jahre eine Notlösung darstellte, wurden diese in Chile von Anfang an für den Export erzeugt. Auf Vorwärtskoppelungseffekte entfällt heute etwa Drittel des Gesamtexports von Gütern und Dienstleistungen, auf Rückkoppelungseffekte (z.B. Maschinen und Geräte für Bergbau, Landwirtschaft oder die Nahrungsmittelindustrie) sowie den übrigen Export nicht-rohstoffnaher Industrien (Textil/Bekleidung, Lederwaren, Schuhe, Metallprodukte) mehr als 10 Prozent, auf die Ausfuhr nicht-finanzieller Dienstleistungen mehr als 20 Prozent

Die Exportorientierung wird durch ein bereits stark ausgefeiltes mesoökonomisches Anreizsystem unterstützt, das an Sektorprogramme (Obst-, Fisch-, Forstsektor) der Regierung Frei (1964 - 1970) anschließt, die in ihren letzten beiden Jahren eine verstärkte Exportorientierung einleitete. Spezielle mesoökonomische Anreize dienen dazu, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen; und sie dienen sektorspezifischen Zielen, z.B. der Aufforstung, sowie der Förderung von Klein- und Mittelunternehmen und der Ausfuhr. Hinzu kommt in den 90er Jahren die Handels- und Wissenschaftsförderung durch die Botschaften. Darüber hinaus spielen die Wirtschaftsverbände eine aktive Rolle.

Es gibt heute ein ausdifferenziertes Geflecht wirtschaftsnaher Institutionen, die der allgemeinen Wirtschaftsförderung dienen (CORFO, ProChile u.a.) oder auf einzelne Branchen zugeschnitten sind, wie z.B. das Instituto Textil. Chile wiederholt jedoch nicht die Fehlentwicklungen der Industriepolitik und Wirtschaftsförderung vieler Industrieländer (Überschätzung des staatlichen Interventionspotentials, enorme Zahl von Programmen, geringe Transparenz, starke Bürokratisierung, hohe Kosten). Es besteht Einigkeit darüber, daß eine hohe fachliche Qualität, Unternehmensnähe und Flexibilität eine Weiterentwicklung der mesoökonomischen Steuerung, der Forschung und Entwicklung in Hochschulen und der bereits recht wirtschaftsnahen Berufsbildung verlangen.

Vier Tendenzen gewinnen in den letzten Jahren an Bedeutung:

  • Der Agrar-, Nahrungsmittel- und Getränkesektor erzeugt auch hochwertige Exportprodukte (Qualitätsweine, Delikatessen, bioorganische Produkte); häufig wird die international übliche "best practice" erreicht.
  • Der Anteil von Halbfertig- und Fertigwaren an der Ausfuhr (Holzprodukte, Papier, Druck, Maschinen und Instrumente) wächst.
  • Die großen Unternehmen Chiles tätigen - teils mit ausländischem Kapital - Direktinvestitionen im Ausland, und zwar vor allem im Dienstleistungssektor der Nachbarländer (Stromerzeuger und -versorger, Handelshäuser, Einkaufszentren, Restaurants, Kommunikation, Banken, Pensionsfonds, Software, außerdem Erdöl und -gas, Bergbau, Nahrungsmittel und Holzwirtschaft).
  • Nicht-exportorientierte Branchen, insbesondere der materiellen Infrastruktur (Telekommunikation, Elektrizitätswirtschaft) sowie der Bankensektor, stützen gegenwärtig das wirtschaftliche Wachstum. Diese Tendenz wird durch die Privatisierung weiterer Unternehmen der Infrastruktur verstärkt. Chile gliedert sich außerdem in das regionale Verkehrs-, Kommunikations- und Energienetz des MERCOSUR ein. Einige Bedingungen für ein komplexes Wachstums- und Exportmuster werden auf diese Weise verbessert.

Ansätze zu neuer gesellschaftlicher Integration

Im Rahmen der libertär-liberalen Wende wurde zunächst die für die Phase der Importsubstitution typische Sozialpolitik zurückgefahren. Diese hatte nur einen Teil der im formellen Sektor Beschäftigten erfaßt. Ähnlich wie die Wirtschaft hatten der Gesundheits- und Bildungssektor allenfalls quantitativ expandiert. Die Wirtschaft hatte kaum Druck zur Verbesserung der gesellschaftlichen Vorleistungen ausgeübt. Niedriges wirtschaftliches Wachstum, Inflation und Mißmanagement hatten den sozialpolitischen Spielraum immer stärker eingeschränkt. In der autoritären Phase der makroökonomischen Neuorientierung war das Marktvertrauen zu groß, um das Soziale als ergänzende Funktion des Marktes wahrzunehmen. Das soziale Kapital der Gesellschaft schrumpfte vor allem vor 1985. Allerdings führte die Regierung wirksame Sonderbeschäftigungsprogramme durch, um der hohen Arbeitslosigkeit in der Übergangsphase zu begegnen.

In einer zweiten Phase wurden neue Formen der Sozialpolitik erprobt: Teilweise aus externen Mitteln finanziert, wurden spezielle Programme für die, bisher von den sozialpolitischen Leistungen des Staates nicht erfaßten, ärmsten Schichten der Bevölkerung eingeführt. Eine private Alterssicherung wurde aufgebaut. Die Pensionsfonds nach dem Kapitaldeckungsverfahren tragen zur Erhöhung der Sparquote bei, verringern also die Angewiesenheit auf ausländisches Kapital, und ermöglichen die hohen chilenischen Auslandsinvestitionen.

In der nunmehr beginnenden dritten Phase soll die Sozialpolitik hauptsächlich der "integración al desarrollo" dienen. Im Human Development Index ist Chile heute mit dem 31. Rang erstes Land Lateinamerikas. Das hohe Wirtschaftswachstum über viele Jahre trug zu einer starken Ausweitung der Erwerbsarbeit und damit zur Verringerung der Zahl der Armen bei. Allerdings bleibt angesichts niedriger Wertschöpfung und der in vielen Branchen geringen Arbeitsproduktivität der Spielraum für Reallohnsteigerungen eng. Die Arbeitsverhältnisse von etwa 20 Prozent der Beschäftigten sind als prekär einzustufen.

Die neoliberale Makropolitik, das schlichte Wachstumsmuster sowie die großen Bildungsdifferenzen verschärften die vorher schon hohe Einkommenskonzentration. Auf das obere Fünftel der Bevölkerung entfallen heute 57 Prozent, auf das untere Fünftel 4 Prozent des Bruttosozialproduktes. Die häufige Aussage, die hohe Einkommenskonzentration in Lateinamerika hemme das Wirtschaftswachstum, ist allerdings zu hinterfragen. Sie trifft dann zu, wenn sie die Entwicklung eines wettbewerbsorientierten Unternehmertums behindert. Wächst ein solches Unternehmertum jedoch heran, steht lokales Kapital für eine dynamische ökonomische Entfaltung zur Verfügung. Wenn einmal hohe Bildungs- und Technologieinvestitionen den Übergang zu einem komplexen Wachstumsmuster und entsprechenden Wohlfahrtseffekten begünstigen, wird sich zumindest die politische Frage nach der Einkommensverteilung weiter entschärfen.

Wie entsteht eine kapitalistische Gesellschaft, wie eine lernende Gesellschaft? "Die kapitalistische Gesellschaft ist nur deshalb eine Gesellschaft, weil sie ein Nationalstaat ist." Die wettbewerbsorientierte Wirtschaft, die Stärke und Effektivität des Nationalstaates, die institutionelle Modernisierung sowie der Übergang zu einer liberalen Demokratie zusammen erzeugten in den 90er Jahren Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Loyalität, Legitimität, Motivation und Optimismus, damit neue bindende Kraft für die chilenische Gesellschaft. Die Entfaltung der demokratischen Institutionen verstärkte die identitätsstiftende Wirkung des Politik- und Wachstumsmusters. Der politische Grundkonsens ergab sich also nicht nur aus dem Wissen um das Scheitern unproduktiver früherer Entwicklungspfade und der traumatischen Erfahrung der Militärdiktatur; dann würde er sich wohl auch in Argentinien oder Guatemala einstellen.

 

Die bevorstehende Aufgabe: Ausbruch aus dem lateinamerikanischen Wachstumsmuster

Innovationsdynamik und institutionalisiertes Lernen

Die Erwartung neoliberaler Politiker und Theoretiker, die neuen makroökonomischen Rahmenbedingungen würden in Lateinamerika ein hohes wirtschaftliches Wachstum auslösen, trifft für die 90er Jahre nicht zu. Dies hindert optimistische Marktideologen nicht daran, das Eintreten eines hohen Wachstums immer wieder zeitlich nach vorn zu verschieben. Chile ist trotz des hohen Wachstums kein technisch-industrielles Aufholland, kein lateinamerikanischer "Tiger". Der Begriff weltmarktorientierte Industrialisierung, der die technisch-industriellen Aufholstrategien Japans, der Republik Korea und Taiwans, heute auch anderer Länder, vor allem Chinas, kennzeichnet, kann weder auf Chile noch auf andere fortgeschrittene Länder Lateinamerikas bezogen werden. In dieser Region sind wegen unentschiedener Akteure, unterkomplexer Politiken und unzureichender technisch-organisatorischer Transformationsfähigkeit bisher Anschlußstrategien nicht umsetzbar. Sie werden, wie die Vernachlässigung der technisch-innovativen Dimension in den 90er Jahren und die bisherigen Leitbilder verdeutlichen, nicht einmal angestrebt. Chile ist aber wegen seiner hohen Eigenanstrengungen auch kein typisches Entwicklungsland mehr.

Das Land durchläuft vielleicht die Vorphase eines Aufholprozesses. Es fehlen jedoch die Schlüsselgrößen einer Aufholjagd: ein entsprechender politischer Wille der Akteure, eine Vision und eine Strategie, der Nationalstaat als entschiedene Modernisierungsinstanz, ein technologieerfahrenes lokales Unternehmertum, Bildungsinvestitionen von hoher Qualität zugunsten einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung, eine ausgeprägte Fähigkeit, die jeweiligen Schlüsseltechnologien zu adaptieren und zu nutzen, institutionelle Arrangements, um das technologische Lernen zu unterstützen, im Falle besonders schwieriger Lernprozesse auch zeitlich begrenzt zu schützen, sowie mesoökonomische Anreizsysteme, um die Unternehmensgrößenstruktur zu verbessern, die Zahl moderner Unternehmen zu vergrößern und die Tendenz zur Diversifizierung der Ausfuhr wesentlich zu verstärken.

In Chile mehren sich die Anzeichen, daß das exportgetriebene Wachstum (export-led growth) durch einen wachstumsgetriebenen Export (growth-led export) ergänzt werden muß, der auf dynamischen unternehmens- und institutionengebundenen Wettbewerbsvorteilen beruht: zum einen auf technisch-organisatorischen Anstrengungen global lernender Unternehmen, zum andern auf ebenfalls global lernenden, die Rahmenbedingungen für lokale Wettbewerbs- und Innovationsdynamik verbessernden Institutionen. Beides erfordert eigenständige Suchprozesse sowie die wirtschaftspolitische Akzentverschiebung von der Deregulierung und Kostensenkung zu einer breiten technisch-organisatorisch-sozialen Innovationsdynamik. Von daher stellt sich die Frage nach Möglichkeiten und Elementen für die weitere Entfaltung des chilenischen Wachstumsmusters, einschließlich von Schritten hin zur Informationsökonomie.

Eine kombinierte "upgrading"- und "high-tech"-Strategie verlangt ein hohes technisch-organisatorisches Know-how der Unternehmen und eine differenzierte Politik zur Entfaltung des Standort- und Wettbewerbsvorteils. Chile steht am Anfang des Aufbaus eines Geflechtes sich gegenseitig stimulierender Unternehmen, privater und öffentlicher Institutionen und gesellschaftlicher Lernprozesse, auf dem systemische Wettbewerbsfähigkeit basiert. Es geht um die Inbezugsetzung und Steuerung der funktionalen und räumlichen Subsysteme der Gesellschaft. Um die Standort- und Wettbewerbsvorteile so weiterzuentwickeln, daß Produkte hoher Qualität und high-tech-Produkte erzeugt und exportiert werden können, kommt es auf ein makro- und mesoökonomisches Anreizsystem, das Produktivitätsfortschritt, höhere Wertschöpfung und Innovation stimuliert, sowie auf enge Interaktion von Nationalstaat und Privatwirtschaft an.

Der zentrale Standort-, Wettbewerbs- und Entwickungsfaktor ist das Bildungssystem. Um technisch-industrielle Rückständigkeit zu verringern, ist Nähe zwischen Bildung und Wirtschaft wichtig. In Irland z.B. gibt es "a high-quality education system strongly oriented towards the needs of the business sector". Ingenieure, Techniker, Laboranten, Naturwissenschaftler und Betriebswirte werden ausgebildet. Auf allen Ebenen des Bildungssystems wird die "computer literacy" sowie das Interesse und die Fähigkeit, Unternehmer zu werden, gestärkt. Es geht nicht nur um neue Fachkräfte. Wesentliche Qualifikationsengpässe (Motivation, Engagement, Mitdenken) verlangen Grundqualifikationen und damit kreativitätsfördernde Formen des Lernens. In den Unternehmen sind Arbeitsbedingungen erforderlich, welche die Akkumulation von dokumentierbarem und implizitem Wissen, das erst in der Anwendung entsteht, fördern.

Ein Kernproblem in Chile – wie in den meisten Ländern der Region – besteht darin, daß es keine "nationalökonomische Erziehung", die auch Werte und Verhaltensweisen verändern will, gibt. Bisher herrscht, dies ist ein zentrales Entwicklungshemmnis, eine Bildungssezession vor, welche die stabile Schichtensezession widerspiegelt und absichert. Nur langsam setzt sich im Rahmen der Reform des öffentlichen Bildungswesens eine Orientierung auf Zweckrationalität, Leistungsbewußtsein und individuellen Erfolg durch. Im Laufe der Zeit soll diese Reform die Qualität der öffentlichen Grundschulen wesentlich erhöhen. Eine moderne Bildungspolitik wird jedoch nur bei einem weit intensiveren Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und intermediären Organisationen effektiv ausfallen.

Chiles Ausgaben für Wissenschaft und Technologie betrugen 1997 0,64 Prozent des Bruttosozialprodukts. . Sie sind weitaus höher als im übrigen Lateinamerika und sollen im Jahr 2000 auf 1,3 Prozent steigen. Finnland jedoch erhöhte 1997 diesen Anteil mit Privatisierungserlösen auf 2,7 Prozent des BIP, also die Größenordnung der USA oder Japans. Um den technischen Fortschritt zum Schlüsselinput produktiver Dynamik zu machen, kommt es auf heroische Anstrengungen dieser Art an, aber auch auf aktiven Technologietransfer: auf das Einwerben von ausländischen Unternehmen und das Einklinken in Unternehmen und Kompetenzzentren in den Industrieländern.

Entscheidend für die Wachstumsdynamik ist das globale technische Lernen der großen und mittelgroßen Unternehmen. Bisher handelt es sich um Routine- und findige Kirznersche Unternehmen. Sie bauen Zulieferbeziehungen zu lokalen Klein- und Mittelunternehmen (KMU) auf und arbeiten häufig mit ausländischem Kapital zusammen. Es fehlen dagegen innovative Schumpetersche Pionierunternehmen. Aber gerade die sind es, die in high-tech-Branchen vordringen und damit die ökonomische Basis für eine moderne Gesellschaft solider gestalten könnten.

Die Komplexität des Wachstumsmusters wird auch durch die Technologiepolitik bestimmt. Deren institutionelle Basis ist in Chile im Aufbau; Elemente sind z.B. die praxis- und unternehmensbezogene Forschung und Entwicklung (FuE) und die KMU-bezogene Technologieförderung. Die Marktsteuerung muß jedoch intensiver ergänzt werden. Die private FuE ist gering und zielt meist auf schnelle, oberflächliche Anpassung. Eventuell sollte die regelmäßige FuE in den Unternehmen zeitlich begrenzt gefördert werden. Die Zahl unternehmensorientierter Dienstleister (Logistik, Design, Werbung, Marktinformation, Unternehmensberatung) wächst, die junger Technologieunternehmen, z.B. der Umwelttechnologie, ist unbedeutend. Hier gilt es, die Bedingungen für Existenzgründer durch einen Markt für Beteiligungskapital zu verbessern. Darüber hinaus gibt es ein großes Potential, die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit den Industrieländern auszubauen.

Angesichts der schwachen technisch-innovativen Tradition ist es schwierig, eine Innovationsspirale einschließlich schneller Vermarktung, wie sie die Industrieländer auszeichnet, in Gang zu setzen. Innovation hat als komplexe soziale Aktivität einen interaktiven Charakter, der auf marktförmigen und nicht-marktmäßig organisierten Austauschprozessen basiert. Kumulative Lerneffekte und Innovationen entstehen außer durch enge Vernetzung auf der Mikro- und Mesoebene durch formelle und informelle Kooperationsbeziehungen zwischen Unternehmen und unterstützenden Institutionen in ihrem Umfeld. Die Qualität interner Vernetzung bestimmt die Wirksamkeit der strategischen Querschnittsaufgabe Technologie- und Innovationspolitik. Der Staat in Chile nimmt die Aufgabe, diese Vernetzung anzustoßen, noch kaum wahr.

Drei andere mesoökonomische Dimensionen, die weiterentwickelt werden müssen, seien nur erwähnt:

  • eine KMU-bezogene Wirtschaftsförderung, die Lern-, Technologie- und Exportpotential erschließt sowie die zwischenbetriebliche Kooperation, einschließlich der Forschungskooperation, unterstützt;
  • die Stärkung der politischen, administrativen und finanziellen Kompetenz der Gemeinden und Regionen, um dort die Mobilisierung des endogenen Entwicklungspotentials anzuregen; z.B. kann die Entfaltung des regionalspezifischen Unternehmensumfeldes exportorientierte "cluster", die sich in verschiedenen Regionen abzeichnen, unterstützen;
  • die Weiterentwicklung der Außenwirtschaftspolitik, um die Bemühungen der Unternehmen um eine Diversifizierung der Exportprodukte und Absatzmärkte noch intensiver zu unterstützen.

In Chile hat ein grundsätzlicher Wandel in der Beurteilung des Außeneinflusses auf die eigene Kultur eingesetzt. Während der Binnenorientierung wurden die Ursachen der weitaus höheren Dynamik in den Industrieländern sowie deren gegenseitige Aneignung kultureller Produkte kaum wahrgenommen. Der Blick fiel einerseits auf die Konsumgüter dieser Länder und andererseits auf deren Einflußnahme, die negativ eingeschätzt wurde. Heute ist die Notwendigkeit der Orientierung am Grobmuster der Industrieländer unbestritten, ist der Know-how-Transfer aus ihnen intensiver als je zuvor. "...if the gains from trade in commodities are substantial, they are small compared to trade in ideas." Indem der Lernprozeß öffentlicher und privater Akteure global ausgerichtet wird, erweist sich die Globalisierung als vorteilhaft.

Es mehren sich die Anzeichen, daß der Nationalstaat, die modernen Unternehmen und die entstehende Bürgergesellschaft dem Kulturtransfer zunehmend eine Richtung zu geben vermögen. Immer mehr Akteure gehen zu einem gezielten, selektiven, auf spezielles Know-how gerichteten globalen Lernen über. Entscheidend sind lernerfahrene Akteure, welche sich nicht nur einer Informationsüberflutung im Internet aussetzen, sondern sich in den Diskussions- und Forschungsprozeß der Industrieländer und in deren Kompetenzzentren eingliedern, um eine "fast-follower"-Strategie in neuen Marktfeldern vorzubereiten. Ein Schlüsselbegriff für globales Lernen in Organisationsentwicklung und Management ist "benchmarking", die Orientierung an den besten Praktiken in Unternehmen und öffentlichen Institutionen, um die eigene Leistungsfähigkeit an diesen zu messen und auszurichten. Eine schnell wachsende Zahl chilenischer Unternehmen und Institutionen nutzt heute den internationalen Vergleich als eine Quelle des eigenen Lernprozesses.

Zusammenwirken von Nationalstaat, Zivilgesellschaft und wettbewerbsorientierten Unternehmen

"Entwicklung" hängt "von der Fähigkeit und Entschlossenheit einer Nation und ihrer Bürger" ab..., "sich selbst für die Entwicklung zu organisieren." Wie aber kommt es zu dieser Fähigkeit und Entschlossenheit? Nur ein gestaltungsfähiger Nationalstaat und eine funktionierende Marktwirtschaft können Prozesse gesellschaftlicher Integration und Mobilisierung auslösen. Die Eigenleistung von Staat und Wirtschaft fällt jedoch, bleibt die Gesellschaft fragmentiert und passiv, nicht dauerhaft hoch aus. Entwicklung verlangt Kontinuitätsbrüche; neue nationalstaatliche Akteure können die Pfadabhängigkeit durchbrechen. Die Herausforderung an die nationalstaatliche Handlungsfähigkeit ist in rückständigen Ländern besonders groß, weil die Akteure entweder traditionell orientiert oder – wie z.B. viele Kleinunternehmen – unmodern und schwach organisiert sind.

Bisher bewegt sich Chile – im regionalen Vergleich erfolgreich – auf dem lateinamerikanischen Wachstumspfad. Das Land verfolgt ein einfaches, in wichtigen Exportbranchen von ausländischen Direktinvestitionen, die es in hohem Umfang anzuziehen vermag, geprägtes, auf immer neuen Technologietransfer angewiesenes Wachstumsmuster, das vor allem zum Export von Produkten mit geringer Wertschöpfung führt. Dieses ressourcenbasierte Wachstumsmuster ermöglicht eine hohe Anfangsdynamik; es geht mit wachsender Einkommenskonzentration, einer Zunahme der Beschäftigung und einem Abbau der Armut einher. Handlungsautonomie und -fähigkeit der politischen Akteursgruppe reichen aus, um geeignete Wachstumsbedingungen zu sichern und eine Verschärfung vieler sozialer und ökologischer Ungleichgewichte zu verhindern. Dies ist nicht geringzuschätzen, zumal der libertäre Liberalismus in anderen Ländern der Region hierbei versagt; dort bleibt der Staat häufig, bisher z.B. in Argentinien, eine Verteilungsagentur zugunsten durchsetzungsfähiger Interessen.

Um ein eigenes festes Wachstumsmuster zu entwickeln, muß Chile einerseits die Orientierung am Grobmuster, das die Industrieländer heute verfolgen, verstärken, andererseits aber das spezifische Profil beider Basisinstitutionen, der Wirtschaft und des Staates, ausprägen und diese miteinander verzahnen. Eine nachholende Industrialisierung ist unmöglich; der Aufholprozeß, falls es zu einem solchen kommen sollte, wird ganz anders ausfallen als der Industrialisierungsprozeß der Industrieländer und der fortgeschrittenen Länder Asiens.

Industrielle Dynamik verlangt günstige Standort- und Wettbewerbsbedingungen. Diese erfordern nicht nur unternehmerisches Handeln, sondern auch ein Zusammenspiel von Unternehmen, Staat und Forschung – bis hin zu einem wettbewerbsorientierten Technologie-, Informations- und Wissensmanagement, das auf die Beherrschung komplexer Systemlösungen gerichtet ist. Ein solches Management setzt institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen voraus, die kurzfristig auch in Chile nicht hinreichend entwickelt werden können.

Die Optimierung der betriebswirtschaftlichen Effizienz hängt nicht zuletzt von der Optimierung der makro- und mesoökonomischen institutionellen Effizienz ab. Die Unternehmen agieren nicht isoliert von ihrem Umfeld, sondern im Rahmen allgemeiner und spezifischer Bedingungen, die auf das Abstecken ihrer Interessen und Handlungsspielräume großen Einfluß besitzen. Das Vorstoßen in neue Bereiche der Wettbewerbsfähigkeit verlangt eine systemische Sicht der wirtschaftlichen und sozialen Entfaltung; geschaffene Wettbewerbsvorteile, z.B. das Rechtssystem und wirtschaftliche Systemlösungen, gewinnen an Bedeutung. Es ist die Funktionsfähigkeit des gesamten nationalen Systems, die über den Standort- und Wettbewerbsvorteil im internationalen Vergleich entscheidet.

Zentrales Problem ist der Aufbau eines handlungsfähigeren, gemeinwohlorientierten und demokratisch kontrollierten Nationalstaates, der die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft weiter zu verbessern, die starke Tendenz zur Konzentration der Marktergebnisse zu brechen und die extreme Armut aufzuheben vermag. Dieses Problem ist am ehesten bei hohem wirtschaftlichen Wachstum anzugehen. Schon deswegen ist das keineswegs seltene Lamento über Ökonomismus in Chile abwegig; in diesem Land vermochte der Nationalstaat Rahmenbedingungen zu schaffen und zu sichern, die ein privates Vermögenskalkül hervorbrachten, das zu international wettbewerbsfähigen Unternehmen in großer Zahl führte. Hierzu erwiesen sich neoliberale Konzepte, die auf Sequenzbildung verzichten, als irrelevant. Freilich steht Chile am Beginn einer neuen Sequenz, in der die Anforderungen an Staat, Unternehmen und größere Teile der Gesellschaft stark wachsen.

Das Steuerungsmuster der Regierung Chiles ist heute weitaus weniger hierarchisch als zur Zeit der Militärdiktatur; allerdings gibt es für einen Kooperationsstaat wenig Anzeichen. Die intermediären Organisationen der entstehenden Bürgergesellschaft sind zu schwach, um als Staatspartner gesellschaftliche Steuerung auf der Basis ausbalancierter Prinzipien wie Wettbewerb, Gegenmachtbildung und Kooperationdurchsetzen zu können. Es ist offen, wie das Steuerungsmuster unter dem Druck neuer interner und externer Anforderungen und bei stärkerer Zukunftsorientierung verändert werden wird. Dafür, daß im libertär-liberalen Rahmen eine Mobilisierung des endogenen Potentials ausbleibt, gibt es in Lateinamerika viele Belege. In Asien herrschten in technisch-industriellen Aufholphasen solange, bis der Erfolg gesichert war, hierarchische Steuerungsmuster.

Werden die nationalstaatlichen Akteure in Chile stark genug sein, um hohe gesellschaftliche Vorleistungen für die Wirtschaft sicherzustellen, die wachstumsorientierten Kräfte, insbesondere im Bereich der neuen Technologien, zu unterstützen und die Akkumulation von Wissen, das in Unternehmen, Forschungsinstitutionen und lokal verfügbaren Arbeitskräften gebunden ist, zu stimulieren? Werden sie zugleich – durch die Entfaltung der funktionalen, territorialen, sozio-kulturellen, sozialen und politischen Dimension des Nationalstaates – Grundlagen für ein komplexes Organisations- und Steuerungsmuster, das die allmählich wachsende Zahl sonstiger Akteure einbezieht, schaffen können?

Bemühungen, die Wirtschaft aus der Gesellschaft auszubetten, sind kontraproduktiv, weil sie deren Fähigkeit gefährden, Wissen zu erzeugen, zu sammeln, zu verteilen und zu nutzen. Technischer und gesellschaftlicher Fortschritt sind insofern unauflösbar miteinander verschwistert. Auch deswegen ist es übrigens falsch anzunehmen, "Wissensübertragung" verliere "als Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit ... an Bedeutung." Erst die Akkumulation von Wissen verschafft den verschiedenen gesellschaftlichen Akteursgruppen Handlungssouveränität; ohne diese Akkumulation läuft sozialer Wandel ins Leere. Eine schnelle öffentlich-private Akkumulation von Wissen begünstigt die dauerhafte und effektive Einbindung dynamischer Unternehmen in das nationale Institutionengefüge.

Die produktive Verbindung wirtschaftlicher und technologischer Kompetenz auf der kommunalen, regionalen, nationalstaatlichen und möglichst auch der supranationalen regionalen Ebene, politisch unterstützt, abgesichert und ergänzt, schafft eine tragfähige Basis für die weitere gesellschaftliche Entfaltung. Die Verbesserung der Standort- und Wettbewerbsbedingungen sowie die Nutzung der neuen Technologien verlangen eine klare, eindeutige und dauerhafte Markt- und Weltmarktorientierung in offenen Volkswirtschaften, die von offenen, innovativen und erfolgsbewußten Gesellschaften getragen werden. Dies wiederum erfordert einen nationalstaatlichen Reform- und Entwicklungsprozeß, der den eigenverantwortlichen, informierten, lern- und risikobereiten, entscheidungs- und handlungsfähigen Bürger als zentralen Akteur der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft stärkt.

In diesem Zusammenhang sei nur darauf hingewiesen, daß die Entfaltung eines komplexen Wachstumsmusters in einem kleinen Land wie Chile durch die Eingliederung in eine regionale Integrationsgruppe begünstigt, angesichts der Globalisierungstendenz sogar von der Dynamik einer solchen Gruppe mitbestimmt wird. Wichtig bei technologisch anspruchsvollen Produkten sind die Sicherung von Kostenvorteilen und Marktchancen in den regionalen industriellen Agglomerationskernen sowie eine differenzierte Regionalnachfrage, welche die Weltmarktorientierung der Unternehmen stärkt. Zum einen kann die regionale Integration in Chile – wie in Irland, sofern also der Standortvorteil aus eigener Kraft deutlich erhöht wird – die Ansiedlung einer großen Zahl aus- und dann wahrscheinlich auch inländischer Hochtechnologieunternehmen stimulieren, die zunächst hauptsächlich in die eigene Region, dann auf den Weltmarkt exportieren. Zum andern verfügt Chile über Politiker und Experten, die auf die weitere Gestaltung des MERCOSUR – bis hin zu einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft – wichtigen Einfluß zu nehmen vermögen.

 

Entwicklungsstrategische Lehren des "chilenischen Modells"

Zwar löste in Lateinamerika einseitiges Marktvertrauen das langjährig einseitige Staatsvertrauen ab; doch ist es zu einfach, die verbleibenden Probleme allein dem Neoliberalismus anzulasten, der sich in verschiedenen Ansätzen und unterschiedlicher Geschwindigkeit in der Region durchsetzt. Er ist immerhin für den Umbruch zu einem neuen Wachstumsmuster verantwortlich. Einen Kontinuitätsbruch hin zu neuen nationalen Akteursgruppen müssen die Gesellschaften der Region selbst durchsetzen. Nur sie können die Modernisierungshemmnisse aufheben und ein erfolgversprechendes Organisations- und Steuerungsmuster einüben. Ungewiß ist, ob im Verlaufe der Entfaltung des neuen Wachstumsmusters solche Akteursgruppen heranwachsen. In Chile gibt es Anzeichen hierfür.

Die Argumentation, Chile würde auf den Primärgüterexport (wie bis 1930) zurückfallen, damit auch auf die diesem entsprechende gesellschaftliche Ungleichheit, verkennt, daß es nicht entscheidend ist, ob der rohstoffintensive Export eine Zeitlang der dominante Wachstumsmotor ist, sondern vielmehr, wie dieser Umstand für den Entwicklungsprozeß genutzt wird. Die Kunst der chilenischen Politik besteht darin, die natürliche Faktorausstattung zum Ausgangspunkt einer exportorientierten Wachstumsstrategie zu machen, um die Fähigkeiten der unternehmerischen und staatlichen Akteure zu verbessern und so schrittweise ein optimales Umfeld für Exporte mit höherer Wertschöpfung zu schaffen. Heute kann Chile nicht mehr als rohstofforientiertes Billiglohnland bezeichnet werden. Anzumerken ist, daß auch Industrieländer wichtige Agrar- und Nahrungsgüterexporteure sind. So übersteigt Argentiniens Anteil am Weltagrarexport erst seit 1997 den Dänemarks (2,8 Prozent vs. 2,4 Prozent); das gleiche gilt für den Anteil am Weltnahrungsgüterexport (2,3 Prozent vs. 2,2 Prozent).

Das Wachstumsmuster Chiles wird auf absehbare Zeit durch den Export von Rohstoffen und rohstoffnahen Industriegütern geprägt sein. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß arbeitsintensive Industriegüter traditionellen Typs eine so große Bedeutung wie zeitweise in den asiatischen Industrialisierungsländern gewinnen; eine entsprechende Wachstumsphase kann nicht wiederholt werden. Langlebige Konsumgüterindustrien einschließlich der Kfz-Industrie siedeln sich in den Agglomerationskernen der Länder mit großer Nachfrage, größtenteils in Brasilien und Mexiko, an. In Chile bleibt es bei der Montage importierter Teile und Komponenten. Den Zugang zu den differenzierten Märkten der Industrieländer werden im übrigen Industrieunternehmen mit hinreichend geringen Transportkosten suchen, die eher Wissens- als Skalenvorteile nutzen.

Die kleine offene Volkswirtschaft kann einen ähnlichen Weg wie die der skandinavischen Länder oder Irlands einschlagen, sofern sie zu einem attraktiven Standort in einem funktionierenden regionalen Integrationsraum zu werden vermag. Die Unternehmen würden die Arbeitsproduktivität in "upgrading"-Prozessen steigern und – ähnlich wie etwa die finnische Nokia-Corporation – in "high-tech"-Branchen vorstoßen, um den regionalen "first mover advantage" auszuspielen. Zum andern würde Chile – wie Irland – ein Zentrum des regional orientierten "export-platform manufacturing" und vielleicht auch von internationalen Finanzdienstleistungen werden. Es geht nicht darum, erfolgreiche europäische Kleinstaaten zu kopieren; das ist gar nicht möglich. Vielmehr kommt es darauf an, bei Kenntnis solcher Erfolgsfälle kreativ und innovativ die Spezifika des eigenen Wachstumsmusters auszuprägen.

Auch eine weitere Argumentationskette ist unzutreffend. Führt die exportorientierte Wachstumsstrategie – ähnlich wie die Importsubstitution – zu verfestigten Machtpositionen, die der weiteren institutionellen Differenzierung im Wege stehen? Eher läßt sich das Gegenteil beobachten:

  • Die exportierenden Unternehmer tragen deutlich zum Abbau traditionaler Werte und Verhaltensweisen der vermögenden Schichten, aus denen sie größtenteils stammen, bei.
  • Die Wirtschaft entfaltet sich seit Mitte der 80er Jahre zwar dynamischer als der Nationalstaat und die Gesellschaft, womit ihr Einfluß auf die Wirtschaftspolitik steigt. Gerade die wirtschaftliche Dynamik aber erzeugt in der Gesellschaft Staats- und Marktvertrauen. Sie trägt zur Sicherung des politischen Grundkonsens über die makroökonomische Steuerung und das weltmarktorientierte Wachstumsmuster bei.
  • Die institutionelle Differenzierung wird in verschiedenen Bereichen vorangetrieben, wie die Rechts-, Gesundheits- und Bildungsreform sowie die Entfaltung im mesoökonomischen Raum belegen. Dies schließt Schwächen einer Reihe von Institutionen sowie den unzureichenden Systembezug einiger institutioneller Reformen nicht aus.

Das hohe wirtschaftliche Wachstum in Chile unterstreicht, daß eine radikale Liberalisierung allenfalls ein erster Schritt zur Schaffung eines geeigneten wirtschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Umfeldes für wettbewerbsorientierte Unternehmen ist. Das ressourcenbasierte Wachstumsmuster beruht eben nicht allein auf dem Marktmechanismus und auch nicht allein auf dem vermehrten Einsatz von Kapital, Arbeit und Rohstoffen. Auch der Export von Obst und Gemüse verlangt ein günstiges Investitionsklima, vor allem Vertrauen in die politischen Akteure, eine exportorientierte Wachstumsstrategie und Wechselkurspolitik, dynamisch lernende Unternehmen, eine zunehmend dichte Mesosteuerung sowie die flexible Anpassung der Makro- und Mesoanreize an veränderte Bedingungen.

Die Argumentation, die nationalstaatliche Gestaltungskraft, die im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß seit drei Jahrhunderten richtungsweisend und integrativ wirkt, erodiere wegen der Globalisierung, womit der Moderne eine ihrer Basisinstitutionen entzogen und damit auch die andere Basisinstitution, die systematische kapitalistische Produktion, in Frage gestellt werde, trägt nicht. Der Nationalstaat bleibt auf absehbare Zeit der zentrale Konstitutions-, Bezugs- und Integrationsrahmen für Wirtschaft und Gesellschaft, wobei sich allerdings seine Charakteristika unter dem Globalisierungsdruck verändern; so ersetzt der Kooperations- den klassischen Interventionsstaat. In Chile ermöglicht es eine bestimmte endogene Konstellation, einen attraktiven politisch-institutionellen und marktwirtschaftlichen Rahmen für wettbewerbsorientierte Unternehmen zu erhalten. Nationalstaaten mit schwachen Akteuren und Institutionen hingegen lösen, wie sich z.B. in Kolumbien und Ekuador zeigt, chaotische Situationen aus.

In Chile ist deutlich, daß die weltweite Modernisierungstendenz zu Ähnlichkeit, nicht aber zu Nivellierung und Vereinheitlichung führt. Die Entfaltung des institutionellen, einschließlich des marktwirtschaftlichen Profils ist ein spezifischer Prozeß, der eine neue kulturelle Synthese anstreben muß. "Je ähnlicher die nationalen Volkswirtschaften werden, um so wichtiger werden die verbleibenden Differenzen für die Entwicklung von Wachstum und Wohlstand." Die Entfaltung einer neuen kulturellen Synthese aus Eigenem und Fremden, also eines tragfähigen Verhältnisses von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit, stellt hohe Anforderungen an öffentliche und private Akteursgruppen; eigenständige unternehmerische und nationalstaatliche Profile sind Kernbedingungen der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Chile unternimmt Schritte zur Entfaltung eines spezifischen Profils; vor allem deswegen kann das Land ein Vorbild für das übrige Lateinamerika darstellen.

Die Argumentation, wo es Wettbewerbssieger gäbe, müsse es auch Wettbewerbsverlierer geben, läuft ins Leere:

  • Unternehmen, nicht Nationalstaaten, stehen im Wettbewerb.
  • Chiles Unternehmen treten mit solchen anderer rückständiger Länder in den Wettbewerb; die Diversifizierung von Produkten und Absatzmärkten eröffnet einen Spielraum dafür, daß alle beteiligten Länder aus dem Export Nutzen ziehen.
  • Asiatische und auch lateinamerikanische Unternehmen zeigen, daß die exogenen Hemmnisse des Vordringens in den intraindustriellen Wettbewerb überwindbar sind.
  • Weder Gewinner noch Verlierer von morgen stehen fest; über den relativen Abstieg und Aufstieg von Unternehmen und Ländern entscheidet die jeweilige Transformationsfähigkeit.
  • Absolute Verlierer sind die Unternehmen, die nicht im Wettbewerb stehen, und die Länder, "die an dem Rennen nicht teilnehmen".

Chile ist gegenwärtig zur Gewinnergruppe zu rechnen; allerdings ist das Land ein fragiler Gewinner, ein Gewinner vor allem im regionalen Rahmen. Interesse und Fähigkeit öffentlicher und privater Akteursgruppen reichen aus, um die Dynamik eines einfachen Wachstumsmusters zu sichern und Vorstöße in Richtung auf ein komplexes Wachstumsmuster zu unternehmen. Ersteres setzt die traditionelle intellektuelle Unterforderung der Gesellschaft fort, das letztere stellt hohe Anforderungen an den gesellschaftlichen Lernprozeß. Will Chile ein kreativer Nachahmer werden, müssen Staat und Wirtschaft das gesellschaftliche Lernpotential mobilisieren. In diesem Falle kann das Land als "early follower" daraus Nutzen ziehen, daß der Vermehrung von Wissen kaum Grenzen gesetzt sind und manche, durchaus nicht die meisten Grenzen des Zugangs zu Wissen heute durchlässig sind.

 


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