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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2000


Hansgeorg Conert
Stephany Griffitth-Jones
Martein Klein / Werner Meng / Reinhard Rode
Daniel Cohen
Winfried Pinger
Klaus-Dieter Tangermann
Attila Ágh
Thomas Pedersen
Andrei S. Markovits/ Simon Reich
Heribert Adam / Frederik Van Zyl Slabbert / Kogila Moodley

Hansgeorg Conert:
Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie
Münster 1998
Verlag Westfälisches Dampfboot, 579 S.

Im Verlauf der Debatte über Globalisierung und ihre vielfältigen Dimensionen sind nicht nur linke Expertinnen und Experten auf hochinteressante Analysen und Trendaussagen von Karl Marx gestoßen. Auch Intellektuelle des " Mainstream" zogen das ein oder andere Zitat aus dem opulenten Oeuvre des spätestens 1989 ad acta gelegten Bürgerschrecks. Mit der differenzierter werdenden Thematisierung des "Gespenstes" Globalisierung scheint die ein oder andere Erkenntnis wieder aktuell zu werden. Aber auch zahlreiche andere Merkmale der heutigen sozio-ökonomischen Entwicklungen können mit einigen der auf Marx zurückgehenden Konzeptionen angemessener analysiert und "verstanden" werden.

Gerade die neoliberale Hegemonie verschleiert, so zitiert Conert Theodor W. Adorno, "daß die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen, die doch als rein wirtschaftliche, kalkulable sich geben, in Wirklichkeit nichts anderes als geronnene Beziehungen zwischen Menschen sind..." (S.12). Hansgeorg Conert, Hochschullehrer an der Universität Bremen, macht vor dem Hintergrund des heute modischen "Einheitsdenkens" (P. Bourdieu) mit seinem umfangreichen und gehaltvollen Buch den Versuch einer "Rückbesinnung" auf Politische Ökonomie: daher "könnte eine historische, theoretische und aktuell-empirische Darlegung der Voraussetzungen, Grundlagen, Triebkräfte, und Widerspruchsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise sowie deren Kritik geeignet sein, den Zusammenhang aktueller sozialer, national- und weltwirtschaftlicher, ökologischer und politischer Fehlentwicklungen und Gefahrenpotentiale mit den konstitutiven Strukturen und Funktionsbedingungen der heute weltweit dominanten Wirtschaftsweise einsichtig zu machen" (S.12).

Im ersten Drittel des Buches werden "Wirtschafts-, sozial- und ideengeschichtliche Aspekte der Marxschen Gesellschafts- und Ökonomiekritik" dargelegt und diskutiert (Teil I). In sehr verständlicher Weise erläutert Conert zentrale und für das Verständnis der heutigen Entwicklungen wesentliche Elemente der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und der wichtigsten Legitimationsversuche (Locke, Hobbes, Mandeville, Smith) und Marxschen Kritikansätze (Entfremdung, Fetischbegriff, Klassenanalyse, dialektischer Materialismus u.v.a.m.).

In den Kapiteln des Teils II beschreibt und analysiert Conert "Tendenzen der ökonomischen und sozialen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise von Marx bis zur Gegenwart". In knappen Beschreibungen charakterisiert er die wichtigsten ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen und Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise in Deutschland. Auch hier skizziert er einerseits zentrale Aspekte der Realentwicklung und andererseits zieht er unterschiedliche Interpretationsmuster heran, erläutert beispielsweise in einem ausführlichen Diskurs die Ideologie des Neoliberalismus. Vor allem beschreibt Conert die derzeitigen Probleme und Herausforderungen des "postfordistischen" Kapitalismus, die sich großteils aus den Prinzipien, Funktionsdefiziten und Zwängen kapitalistischer Mechanismen ergeben. Zudem analysiert er in einem weiteren Kapitel das "Scheitern des Staatssozialismus" und entwirft darauf aufbauend eine Alternative zum herrschenden Kapitalismus. In den "Umrissen des real-utopischen Entwurfs einer emanzipierten Gesellschaft und bedarfszentrierten Produktionsweise" setzt er direkt an den zuvor aufgedeckten Systemdefiziten und akuten Problemlagen an, d.h. er berücksichtigt beispielsweise ökonomische Funktionsmängel, soziale Probleme und ökologische Handlungsnotwendigkeiten. "Die hier skizzierte prospektive Gesellschaft ist allgemein gekennzeichnet durch permanentes konsensuales Bemühen um Verwirklichung des genuinen Sinngehalts von Werten wie personale Autonomie, soziale Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Vernunft und um strikte Gewährleistung gesellschaftlicher und politischer Schutz- und Partizipationsrechte" (S.460). Zu den leitenden Normen dieser zukünftigen Gesellschaft gehört, daß alle Wirtschaftstätigkeit unter den Imperativen individueller und kollektiver Bedarfsdeckung, partizipatorischer Regulation der ökonomischen Prozesse und deren Ausrichtung an ökologischer Nachhaltigkeit steht. Dazu soll die ökonomische Sphäre in das Geflecht gesellschaftlicher Strukturen, Beziehungen und Prozesse "eingebettet" werden. Das verlangt wiederum die "Beteiligung von Vertretern der jeweils unmittelbar betroffenen, sowie der tangierten, latent entgegengerichteten Interessen an der Beobachtung der betrieblich parzellierten Wirtschaftsprozesse mit einem gewissen Interventionsrecht" (S. 462). Die gesellschaftlichen Bewegungsprozesse basieren auf "sozialer Selbstbestimmung" und "gesellschaftlicher Selbstverwaltung" (S. 466ff.), auf weiterer Demokratisierung und stärkerer Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips.

Über die Verwirklichungschancen und -möglichkeiten äußert sich Conert sehr zurückhaltend. Er vertritt die weit verbreitete Auffassung, daß es so wie derzeit kaum weitergehen könne. Den aktuellen Herausforderungen könne nur mittels einer "Orientierung an und Durchsetzung von diametral anderer Logik und Moral" erfolgreich begegnet werden (S. 476). Mit vielen seiner Empfehlungen hat der Autor einen hochplausiblen Handlungskorridor und -horizont skizziert und zudem fundiert in einem theoretischen Gerüst, das aus dieser emanzipatorischen Sicht aktueller ist als mancher Neo-Ansatz sich heute zu geben versucht. Implizit knüpft Conert an zahlreiche Studien und Strategie- und Handlungsvorschläge für eine nachhaltig-zukunftsfähige Entwicklung (Sustainable Development) an, wie sie beispielsweise auch in mannigfaltigen Lokale Agenda 21-Prozessen in immer mehr Städten und Gemeinden - weltweit - initiiert werden.

Fazit: Das Buch kann sowohl als anspruchsvolle Einstiegslektüre sowie als Handbuch benutzt werden, da die Kapitel und Abschnitte meist in sich abgeschlossene Texte darstellen und nicht hintereinander gelesen werden müssen. Der Schreibstil ist sehr verständlich, wenn auch einige Sätze etwas hölzern daherkommen, was angesichts der komplexen und umfangreichen Materie wiederum tolerierbar scheint. Allerdings fehlt leider ein Sachwortverzeichnis.

Sowohl für eingefleischte Politökonomen und deren Gegner, als auch für "Anfänger" und Studierende bietet Conerts Band mannigfaltige Einsichten und interessante Denkanstösse, um die sozioökonomischen Trends besser zu durchschauen und sich möglichst zielstrebiger für eine nachhaltig-zukunftsfähige Gesellschaft zu engagieren.

Edgar Göll
Berlin

Stephany Griffitth-Jones:
Global Capital Flows - Should they be regulated
London/New York 1998
MacMillan Press/St. Martin’s Press, 206 S.

Die Titelfrage "Global capital flows should they be regulated?" beantwortet die Verfasserin bereits in ihrer Einführung: "This book suggests regulatory measures – to be taken both nationally and internationally – by source countries to encourage smoother capital flows to developing and transition economies ..." (S. 16 f.) Diese Absicht teilt auch James Tobin, der das Vorwort zu diesem Buch beigesteuert hat. Er verweist auf die lange Nachkriegsperiode von 1947-1972, in der die größeren kapitalistischen Demokratien Kontrollen über ihre Währungstransaktionen und Kapitalbewegungen ausgeübt (S. XIV) und sich nicht in Abhängigkeit von der "Droge Freihandel" begeben haben, die sie heute, wie Tobin bemerkt, den Schwellenländern und Transformationsökonomien in Mittel- und Nordosteuropa andienen, so als ob mit diesem Mittel die Lösung ihrer Entwicklungsprobleme erreicht werden könne.

Der Grund dafür, daß Kapitalmärkte nicht dereguliert werden sollten, sind die Systemrisiken, die nicht mehr zu bewältigen sind, wenn es politische Regulierung nicht mehr gibt. Systemrisiken sind "the danger that disturbances in one financial institution, market or country will generalize across the whole financial system, whether within one country or, worse still, in several countries." (S. 6) Regulierungsmaßnahmen sind also darauf ausgelegt, die Auswirkungen des immer möglichen Scheiterns des einen oder anderen Schuldners zu begrenzen. Nicht das ganze System soll in Mitleidenschaft gezogen werden können. Jedoch ist dies – wie Stephany Griffith-Jones mit Bezug auf Charles Kindleberger zeigt - in der Geschichte der Finanzkrisen niemals vollständig gelungen. Es haben sich immer in der Geschichte periodisch "speculative manias" zugetragen, in denen große Vermögen vernichtet worden sind und das gesamte Finanzsytem in eine schwere, und manchmal lang andauernde Krise geraten ist. Wenn erst einmal eine Spekulationswelle ins Rollen gekommen ist, kann sich kein Akteur auf Finanzmärkten dieser Manie entziehen. Stephanie Griffith-Jones zitiert John M. Keynes: "It is better for reputations to fail conventionally than to succeed unconventionally" (S. 4).

Warum das so ist? Finanzmärkte sind instabil und fragil, weil sie es - wie ebenfalls Keynes heausgearbeitet hat -, mit der Zukunft zu tun haben. Die Sicherheiten von Bankkrediten stammen zwar aus der Vergangenheit und die Entscheidung über deren Verwendung wird in der Gegenwart getroffen - aber in Bezug auf ungewisse zukünftige Erträge. Wenn nun angesichts dieser Ungewißheit die Kreditwürdigkeit eines Kreditnehmers sinkt, kann es zur Rationierung von Krediten in einer Situation kommen, wo der Zufluß liquider Mittel den Kreditnehmer durchaus retten könnte. Es kommt also zu "adverse selection" angesichts unzulänglicher und obendrein asymmetrischer Informationen. Dies verweist auf eine zweite Eigenschaft von Finanzmärkten: Sie sind nicht effizient im Sinne der Markttheorie. Zur adverse selection und zu den asymmetrischen Informationen kommt ja noch das Trittbrettfahrer-Problem hinzu, das hauptverantwortlich für eine finanzielle Panik, für das vom Internationalen Währungsfonds angesichts der asiatischen Finanzkrise beklagte "herding", sein kann. Obendrein - und dies hat bereits Keynes betont – sind die Akteure auf Finanzmärkten eher für kurzfristige Kreditverträge zu haben als für langfristige Bindungen. Daß dies negative Wirkungen für die ökonomische Produktivität einer Gesellschaft haben kann, wenn langfristige Investitionen in die Erweiterung der Produktion oder die Infrastruktur vernachlässigt werden, ist schon oft dargestellt worden.

So instabil wie die Finanzmärkte sind die Devisenmärkte, auf denen Währungen gehandelt werden. Die Folge: Auch die Wechselkurse, die für die Konkurrenzfähigkeit eines "Standorts" so bedeutsam sind, werden auf unvollkommenen Märkten mit hohem systemischen Risiko gebildet (S. 17-21).

Nach der Darstellung der Risiken auf unregulierten Finanzmärkten widmet sich die Verfasserin im zweiten Kapitel dem Umfang, der Flüchtigkeit (volatility) und den "Marktkaskaden", d.h. der Frage, wie die Krise von einem Markt zu anderen überspringt (contagion effect). Im späteren 5. Kapitel analysiert sie diesen contagion effect als "Tequila-Effekt" im Zusammenhang mit der Mexiko-Krise von 1994/1995. Daß die globalen Finanzflüsse in den vergangenen 15 Jahren enorme Zuwachsraten gezeigt haben, wird von Stephany Griffith-Jones anhand beeindruckender Daten gezeigt. Bereits im Jahre 1993 betrugen die Umsätze auf den internationalen Devisenbörsen täglich 1.174,7 Milliarden US-Dollar. Der größte Posten sind Portfolio-Investitionen, die wegen ihrer Kurzfristigkeit und Nicht-Fixiertheit der Anlage sehr viel volatiler sind als Direktinvestitionen, die weniger spektakulär gewachsen sind. Doch welche Qualität verbirgt sich hinter der Zunahme der Finanzflüsse? Die Verfasserin identifiziert fünf Trends: 1. Die Globalisierung und Integration der Kapitalmärkte; 2. Die wachsende Größe und Bedeutung der Finanzmärkte in allen Industrieländern; 3. Die Entstehung neuer Finanzinstitute, insbesondere die Bildung von komplexen Institutionen; die traditionelle Bankgeschäfte und Wertpapier- und Investitionsgeschäfte zusammenführen; 4. Die Ausweitung von finanziellen Instrumenten, also die Entwicklung von Finanzinnovationen; und 5. Die institutionelle Konzentration von Spargeldern in großen Fonds, z.B. in Pensions-Fonds.

Die Frage nach der Herkunft der globalen Finanzen wird im dritten Kapitel aufgeworfen. Die Autorin zeigt, daß ein großer Teil der Finanzflüsse zwar immer noch von transnational operierenden Unternehmen gespeist wird, aber "institutional investors" eine immer größere Bedeutung erlangen, also Pensions-Fonds, Mutual-Fonds und Hedge-Fonds. Diese sind Ausdruck einer Strukturveränderung des modernen Kapitalismus. Leider geht die Autorin darauf nicht so gründlich ein, wie es sinnvoll gewesen wäre, um das Phänomen in seiner Dynamik besser verstehen zu können. Pensions-Fonds werden von den Ersparnissen von Bürgern gebildet, die Beträge für ihre Alterssicherung zurücklegen. Mutual-Fonds kommen durch Sparbeträge kleiner Leute, aber auch durch überschüssige Liquidität von Unternehmen zustande, die nun mit den gesammelten Geldern auf den globalen Märkten spekulieren. Besonders aggressiv sind dabei offene Investitionsfonds, weil hier die Manager mit hohen Renditen die Einzahler bei der Stange halten müssen. Sie könnten ja den Fonds verlassen und in einen anderen wechseln, der eine höhere Rendite vrspricht. Besonders hohe spekulative Risiken aber gehen Hedge-Funds ein, in die z.T. Pensionsfonds und Mutual-Funds einzahlen, um dann mit gewaltigen Beträgen auf den internationalen Kapitalmärkten operieren zu können. Die Pleite eines größeren Hedge-Fonds würde tatsächlich den Fall des Systemrisikos bedeuten, wie die Krise und die Rettung des Long-Term-Capital-Management-Fund im Herbst des Jahres 1998 gezeigt haben. Darauf geht die Verfasserin allerdings nicht ein, da sie das Buchmanuskript offenbar vor diesem Datum abgegeben hatte. Dies tut der Darstellung aber keinen Abbruch, da in diesem Kapitel in höchst übersichtlicher Weise die Fährnisse, die für das Finanzsystem mit der Heraufkunft der "institutional investors" entstanden sind, dargelegt werden. Es gibt in der Literatur über das globale Finanzsystem keine dem Rezensenten bekannte Schrift, die sich ähnlich informiert mit dieser Frage auseinander gesetzt hätte. Dies liegt auch daran, daß Stephany Griffith-Jones auf originäres Interview-Material zurückgreift und dieses systematisiert. Sie präsentiert also Einsichten, die tatsächlich in der Literatur neu sind. Das dürfte sich erst ändern, wenn das Betreben der internationalen Finanzorganisationen (von der BIZ und den großen Zentralbanken bis zum IWF) verwirklicht worden ist, die Transparenz der globalen Finanzmärkte zu erhöhen und - im Rahmen des von Tietmeyer vorgeschlagenen "global financial forum" - die Hedge Funds, die kurzfristigen Kapitalbewegungen und die Off-shore-Bankzentren in der Karibik und anderswo unter die Lupe zu nehmen.

Im darauffolgenden vierten Kapitel setzt sie sich noch einmal mit der Frage der volatility auseinander und verweist auf die Konsequenzen der Kurzsichtigkeit von Akteuren und der Kurzfristigkeit ihrer Entscheidungen. Danach folgt ein langes Kapitel über die Mexiko-Krise. Dazu hatte sich Stephany Griffith-Jones schon an anderer Stelle ausführlich geäußert. Sie faßt die Daten noch einmal zusammen und liefert Einschätzungen, die höchst interessant sind, weil sie ebenfalls auf Interviews basieren, die sie mit Akteuren aus Politik und Finanzinstitutionen geführt hat. Die Lehren, die sie aus der Mexiko-Krise zieht, sind freilich eher konservativ: überzogene Leistungsbilanzdefizite sollten vermieden, eine Überbewertung der Währung sollte unterbunden werden, negative Auswirkungen auf die interne Geldwertstabilität sollten nicht zugelassen werden, die öffentliche Schuld sollte auf jeden Fall vom Fremdwährungsrisiko befreit werden, d.h. nicht auf Dollar lauten. Schließlich betont sie, wie wichtig es ist, hohe Devisen-Reserven zu besitzen, um externe Schocks abfedern zu können. Diese Regeln für die Währungspolitik eines verschuldeten Landes sind nicht gerade innovativ und wohl auch nicht besonders wirksam, wenn nicht analytisch klarer gezeigt wird, wie denn diesen Normen unter Bedingungen der Offenheit von Märkten und Währungskonvertibilität Rechnung getragen werden kann.

Dies läßt sich auch von den Maßnahmen sagen, die die Verfasserin in den abschließenden drei Kapiteln zur Regulierung der capital-flows anführt. Im sechsten Kapitel gibt sie einen Überblick über mögliche Maßnahmen, der wegen seiner Systematik sehr hilfreich ist. Sie zitiert auch als positives Beispiel Chile wegen der "marktkonformen" Kapitalverkehrskontrollen. Im nächsten Kapitel beschreibt sie die "weichen" regulatorischen Maßnahmen von der Koordination der Politik der Zentralbanken bis hin zur Harmonisierung von Bestimmungen über Banksicherheiten, Mindestkapital etc., wie sie im Rahmen der Bank für internationalen Zahlungsausgleich auch diskutiert werden. Im letzten Kapitel schließlich wird sie konkreter. Sie plädiert für größere Reserveverpflichtungen von Mutual Funds, für Steuern auf globale Kapitalströme, wie sie schon Keynes und im Anschluß an Keynes James Tobin vorgeschlagen hatten (Tobin Tax). Erstaunlich ist, daß sie diese Vorschläge nur sehr kurz, auf wenig mehr als einer Seite abhandelt, obwohl sie doch in der Einleitung ihres Buches geschrieben hatte, daß sie ein Plädoyer für die Regulierung der Finanzmärkte zu begründen versuche.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist das Buch von Stephany Griffith-Jones eine Perle unter den vielen Schriften über internationale Finanzen. Die Funktionsweise der Finanzmärkte wird sowohl von der Nachfrage- als auch von der Angebotsseite sehr genau dargestellt. Es werden die Verflechtungen der Finanzmarktsegmente gezeigt, und die institutionellen Veränderungen, die in den vergangenen Jahren eingetreten sind, werden zum Thema gemacht.

Allerdings fehlt eine Reflexion des Zusammenhangs von finanzieller und realer ökonomischer Sphäre. Spielen sich die Entwicklungen auf Finanzmärkten so abgehoben von der realen Ökonomie ab, daß diese gar nicht mehr zum Thema werden muß, oder ist nicht das Blickfeld auf die Finanzmärkte manchmal mit Scheuklappen versehen, so daß die reale Ökonomie, Arbeit, Investitionen, Konsum etc. jenseits des analytischen Horizonts liegt? Die Frage der Entkoppelung von Finanzmärkten und die Keynes’sche Fragestellung nach dem Verhältnis von Zinsen auf Finanzanlagen und Grenzleistungsfähigkeit des produktiv investierten Kapitals, die so entscheidend für andere ökonomische Fragen z.B. die nach der Beschäftigungswirkung der Transaktionen auf Finanzmärkten ist, wird in der Arbeit von Stephany Griffith-Jones souverän ausgeklammert.

Möglicherweise wäre dies Stoff für ein neues Buch. Das, was die Verfasserin auf ca. 200 Seiten präsentiert hat, ist jedoch für alle diejenigen lohnenswerter Lesestoff, die sich über die Krisentendenzen der globalen Finanzmärkte informieren wollen und gleichzeitig Ideen erwarten, wie "der Tiger gebändigt werden kann", wie also die globalen Finanzmärkte reguliert werden können.

Elmar Altvater

Otto Suhr Institut der FU-Berlin

Martein Klein / Werner Meng / Reinhard Rode (Hg.):
Die Neue Welthandelsordnung der WTO
Amsterdam 1998
GIB Verlag Fakultas, 240 S.

Die Schaffung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahre 1994 stellt den Welthandel auf eine neue institutionelle Grundlage. Mit den Veränderungen, die dies mit sich bringt, setzt sich das vorliegende Buch auseinander. Die sieben Artikel des Buches greifen verschiedene Aspekte des Themas heraus und diskutieren diese in multidisziplinärer Weise - Politikwissenschaft, Völkerrecht und Volkswirtschaft sind vertreten.

Dem Buch sind viele Leser schon aus dem Grund zu wünschen, daß die WTO und die Implikationen ihrer Existenz der weiteren Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sind und nur wenig diskutiert werden – im Gegensatz zu anderen Institutionen wie Weltbank und IWF. Gerade in der Linken ist die Diskussion oft angstbesetzt und emotionalisiert. Es wird befürchtet, daß die WTO eine Stärkung der Interessen großer Länder, v.a. der USA und mächtiger Gruppen, mit sich bringen werde. Dabei kann gezeigt werden, daß gerade kleinere Länder durch die zunehmende internationale Verrechtlichung gewinnen.

Der erste Beitrag des Politikwissenschaftlers Reinhard Rode untersucht den ‘Regimewandel vom GATT zur WTO’. Seine Analyse stellt gewachsene Robustheit und damit verbesserte Leistungsfähigkeit der WTO fest. Hervorgehoben werden die gewachsene rechtliche Verbindlichkeit, supranationale Züge durch regelmäßige Ministerkonferenzen und Dreiviertel-Mehrheitsbeschlüsse. Defizite werden aus der Heterogenität der Mitglieder abgeleitet - während die wichtigsten Handelsstaaten (USA, EU, JAPAN) Freihandel und Multilateralismus favorisierten, tendiere die Mehrheit der Mitgliedsländer - die Entwicklungsländer – dazu, sich für ‘Umverteilung’ einzusetzen. Daraus wird gefolgert, dass hinter die Stabilität liberaler Werte ‘ein großes Fragezeichen’ gesetzt werden müsse. Dennoch wird die WTO als ein wichtiger Schritt von einer machtorientierten zu einer regelorientierten Welthandelspolitik dargestellt. Dieser bleibt jedoch relativ, da die Staaten trotz zunehmend stabilerer Kooperationen ihre einseitigen Interessenvorbehalte nicht aufgegeben haben.

Der folgende Beitrag des Juristen Werner Meng weist, komplementär zum ersten Beitrag, eine Konkretisierung von Rechtsregeln und deren Ausdehnung auf neue Bereiche nach. Die gewachsene Rolle des WTO-Rechts als Steuermechanismus der Welthandelsordnung schaffe mehr Rechtssicherheit und erschwere nationale Alleingänge. Die Ordnungskraft des WTO-Rechts werde durch Konkretisierung, Erweiterung, und Institutionalisierung gestärkt. Einschränkungen blieben durch noch ausgeklammerte Bereiche wie Wettbewerb, Soziales und Umwelt. Dazu komme die allgemeine Schwäche des Völkerrechts, nämlich die Einschränkung seiner Durchsetzbarkeit durch die realen Machtverhältnisse. Als Zentralproblem des internationalen Handelsrechts wird die Tendenz der Staaten identifiziert, zum Protektionismus zu neigen, weil die Begünstigten von Renten des Protektionismus gewöhnlich gut organisiert sind, während die Kosten nicht in Rechnung gestellt werden. Als ein wichtiger Fortschritt der WTO gegenüber dem GATT wird die einheitliche Vertragsstruktur herausgestellt. Diese erlaubt nicht mehr, einzelnen Zusatzabkommen ‘a la carte’ anzugehören. Vielmehr sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle Vertragspartner einheitlich an alle multilateralen Handelsübereinkünfte gebunden. Eine andere offene Flanke des WTO-Rechtssystems wird darin gesehen, dass die Verletzung von Rechten oder Vorteilen eines WTO-Abkommens nicht zur Pflicht zum Ersatz aller entstandenen Schäden führt, sondern nur zur Beseitigung der Verletzung für die Zukunft. Daher bleibe wirtschaftliche Macht als Druckmittel auf der Tagesordnung.

Der Politologe Reinhard Wolf untersucht die ökologische Dimension von GATT und WTO. Viele Umweltorganisationen stehen in der Tat einer Handelsliberalisierung negativ gegenüber. Dabei ist zwischen ‘fundamentaler’ Kritik an einer Ausweitung des Handels per se zu unterscheiden, die den Anstieg von Umweltbelastungen durch Wachstum und Transport kritisiert, und der Kritik an spezifischen GATT-Bestimmungen, die die nationale Handlungsfreiheit bei umweltpolitischen Fragen einschränken. Die Fundamentalkritik wird dadurch entkräftet, dass zum einen erst ein Anstieg der Wirtschaftsleistung einen wirksamen Schutz der Umwelt ermöglicht, und dass ferner zunehmender Wettbewerb Anreize schafft, Umweltprodukte und -verfahren zu verbessern und generell Ressourcen effektiver zu nutzen. Problemen beim Zugang für umweltbelastende Produkte könne durch die Erstellung klarer und konsistenter Regeln begegnet werden. Unterschiedliche Standards seien nur dann als problematisch anzusehen, wenn die ökologischen Folgen niedrigerer Umweltstandards höhere Belastungen auch für andere Staaten nach sich zögen. Die Chancen für eine ökologische Reform werden von Wolf gering eingeschätzt, da diese als Bedrohung der Export- und Entwicklungschancen ärmerer Länder angesehen wird. Auf der anderen Seite droht eine Koalition von Umweltgruppen und Protektionisten in den Industriestaaten, die auf eine solche Reform drängen. Die von Importrestriktionen benachteiligten Gruppen - Exporteure in Entwicklungsländern und Konsumenten in den Industrieländern - seien nicht stark genug organisiert, um diesem Trend entgegenzuhalten.

Das folgende Kapitel des Juristen Michael Hahn untersucht das System der WTO-Beihilfenkontrollen. Bekanntermaßen tragen staatliche Beihilfen für einheimische Produzenten und Ausgleichszölle in entscheidender Weise zur Wettbewerbsverzerrung bei. Wesentlich strengere und klarere rechtliche Vorgaben (Definition von Beihilfen, Kategorisierung von Subventionen) stellen einen wichtigen Fortschritt auf dem Weg zu einer Welthandelsordnung dar. Insbesondere die Stärkung des zwischenstaatlichen Streitbeilegungsmechanismus ist hier zu nennen. Dieser geht nun wesentlich über den bisherigen appellativen Charakter hinaus: Zum einen ist der tatsächliche Einsatz von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen zulässig; noch wichtiger für kleine Länder ist aber der Signalcharakter von auf Rechtswegen durchsetzbaren Schiedsprüchen des WTO-Systems.

Der Beitrag des Ökonomen Uwe Eiteljörge beschäftigt sich mit dem wichtigen Bereich des Handels mit Dienstleistungen, der nun zum ersten Mal in das rechtliche System des Welthandels aufgenommen wird. Der Dienstleistungsbereich stellt in allen Industrieländern schon seit über zwei Dekaden den wichtigsten Wirtschaftsbereich dar, und praktisch überall ist sein Anteil im Steigen begriffen. Daher ist die prinzipielle Gleichstellung des Handels in Dienstleistungen mit dem in Gütern als ein Meilenstein auf dem Weg zur Liberalisierung des Welthandels zu sehen. Die Bewertung des GATS (General Agreement on Trade in Services) ist trotzdem nur qualifiziert positiv. Auf der eine Seite wurden die ursprünglichen Erwartungen an das Abkommen weit übertroffen. Ein Vergleich mit dem GATT (dem Abkommen für den Handel mit Gütern) zeigt, dass das GATS wesentlich weitergeht: Der Geltungsbereich umfasst neben dem ursprünglichen, grenzüberschreitenden Handel auch drei weitere Erbringungsarten, und nicht nur Maßnahmen der zentralen Behörden (wie das GATT), sondern alle Verwaltungsebenen. Auf der anderen Seite fallen die Allgemeinen Verpflichtungen des GATS wesentlich schwächer aus (öffentliches Beschaffungswesen ausgenommen, andere weitreichende Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip, Zulassung von Monopolen in weiten Bereichen). Insgesamt ist das GATS als ein erster Beginn, als ein kleinster gemeinsamer Nenner der Verhandlungspartner anzusehen. Es scheint noch unklar, ob sich die erwarteten positiven Wirkungen einstellen werden und ob eine tiefgreifende Liberalisierung des Dienstleistungshandels tatsächlich kommen wird: Unschärfe in vielen Bereichen und aus der Sektorspezifität und den Listen-Modalitäten resultierende mangelnde Transparenz werden als Hindernisse dargestellt, die es schwer machen, in sukzessiven Runden Liberalisierungserfolge zu erzielen.

Der Politikwissenschaftler Norbert Minhorst untersucht die Auswirkungen der WTO auf die Entwicklungs- und Schwellenländer. Obwohl die Entwicklungsländer zunächst den Bemühungen um Handelsliberalisierung skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, setzte sich später stärker eine Sichtweise durch, die die Vorteile der Möglichkeiten für Export-geleitete Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Dieser Sinneswandel beruhte auf der einen Seite auf dem Scheitern der Bemühungen der UNCTAD, eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu erreichen, zum anderen auf den Erfolgen der rapiden exportorientierten Entwicklung ostasiatischer Länder. Der Autor zitiert Schätzungen, die davon ausgehen, dass etwa ein Drittel der Gewinne aus dem Handel mit Waren auf die Entwicklungsländer entfällt. Ihr Umfang könne den der gesamten Entwicklungshilfe erreichen, einige Schätzungen kommen sogar auf das Doppelte. Allerdings werden für Afrika Netto-Verluste erwartet, beruhend auf der Verteuerung von Agrarprodukten (die wiederum durch den Rückgang von Subventionen bewirkt wird). Die größten direkten Vorteile werden aus der Wiederaufnahme von Agrar- und Textilhandel in die WTO erwartet. Ebenso bedeutend seien indirekte Vorteile wie das neue Streitschlichtungsverfahren, der Trade Policy Review Mechanismus und verstärkter Wettbewerb.

Im abschließenden Kapitel vergleicht der Volkswirt Martin Klein die WTO mit den beiden anderen internationalen Organisationen, die die Weltwirtschaft maßgeblich beeinflussen: Weltbank und IWF. Der Autor erinnert daran, dass die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit sich ursprünglich auch auf eine Internationale Handelsorganisation stützen sollte, die jedoch am US-amerikanischen Widerstand zunächst scheiterte. Daher wird prognostiziert, dass die ‘Spätgeburt’ WTO nicht die organisatorische Unabhängigkeit von Weltbank und IWF erreichen werde. Zugleich wird aber die wesentlich höhere Regelgebundenheit der WTO als eine Stärke identifiziert, da sie der WTO eine klar definierte Rolle gäbe. In der Tat ist die Rolle sowohl der Weltbank als auch des IWF derzeit in Frage gestellt: die der Weltbank aufgrund zunehmender Armut in vielen Ländern und begrenzter Entwicklungserfolge in vielen ärmeren Ländern, die des IWF aufgrund seiner weitgehenden Unfähigkeit, der derzeitigen internationalen Finanzkrise wirksam entgegenzutreten. Beide Institutionen verlieren relativ an Bedeutung gegenüber privaten Finanzflüssen. Der Autor arbeitet die Konflikte heraus, die sich sowohl aus unterschiedlichen Zielsetzungen als auch aus den verschiedenen Organisationskulturen der drei Institutionen ergeben. Angesichts der steigenden internationalen Interdependenzen ergibt sich die Notwendigkeit, einen modus vivendi zu finden, der einen höheren Grad der Kooperation ermöglicht.

Insgesamt stellt dieser Band eine lesenswerte und gut verständliche Einführung in die Problematik der heutigen Welthandelsordnung dar. Ein wesentlicher Aspekt, der bei der Lektüre deutlich wird, ist die Zukunftsoffenheit dieser Ordnung. Im Gegensatz zur Meinung vieler öffentlicher Diskussionsteilnehmer ist die Welthandelsordnung zwar zu einem höheren Grad institutionalisiert. Es wird aber gezeigt, dass es keine Zwangsläufigkeit gibt. Gerade der multidisziplinäre Ansatz trägt dazu bei, dies deutlich zu machen.

Ein noch höherer Gebrauchswert für den Leser hätte sich ergeben, wenn die einzelnen Artikel mehr aufeinander Bezug genommen hätten. Ein Schlußkapitel, das die verschiedenen Diskussionsstränge zusammengeführt hätte, wäre auch wünschenswert gewesen.

Dirk Hansohm
Namibian Economic Policy Research Unit, Windhoek

Daniel Cohen:
The Wealth of the World and the Poverty of Nations
Cambridge 1998
The MIT Press, 136 S.
Winfried Pinger (Hg.):
Armutsbekämpfung. Herausforderung für die deutsche Entwicklungspolitik
Bad Honnef 1998
Horlemann, 188 S.

Armut und Elend bilden den eigentlichen Kern der Unterentwicklungsproblematik, und in der Dritten Welt treten diese Phänomene denn auch nicht nur in besonders krassen Erscheinungsformen auf, sondern erweisen sich zudem als überaus hartnäckig. Seit geraumer Zeit verzeichnen aber auch die Industrienationen ein zunehmendes Armutsproblem, das von einer steigenden Einkommenskonzentration im oberen Viertel der Gesellschaftspyramide begleitet wird.

Während der von Winfried Pinger edierte Band sich im wesentlichen mit der Armut in Entwicklungsländern befaßt, richtet das Buch von Daniel Cohen, das die strukturprägenden Wandlungstendenzen in der Weltwirtschaft und -gesellschaft thematisiert, den Blick auf die Armutssituation in Nord und Süd.

Cohen macht in der derzeit allerorten geführten Globalisierungsdebatte eine Reihe grundlegender Fehldeutungen aus, die er mit seinen Ausführungen zu korrigieren beabsichtigt. So lehnt der an der Universität Paris lehrende Ökonom die populäre These ab, daß die zunehmenden sozialen Probleme in den Industriestaaten primär auf die steigende Konkurrenz von wettbewerbsstarken Drittweltländern und damit verbundene negative Implikationen für Beschäftigung und Einkommen zurückzuführen sind. Er vermag überzeugend nachzuweisen, daß der wachsende Fertigwarenimport aus dem Süden nur eine nachgeordnete Rolle in der Erosion des Wohlstandsniveaus in den "reichen" Staaten spielt. Die vielerorts anzutreffende Angst vor den Auswirkungen der Globalisierung lenkt nach Cohen von den wirklichen Triebkräften des Wandels in der industrialisierten Welt ab und begünstigt protektionistische Bestrebungen, deren Realisierung zwangsläufig die Entwicklungschancen zahlreicher Drittweltökonomien beeinträchtigen würde. Während einige traditionelle Branchen zweifellos einem Verdrängungsdruck durch verarbeitete Produkte aus der Dritten Welt ausgesetzt sind, resultieren die im Gang befindlichen Veränderungen im wesentlichen aus "hausgemachten" Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken die "dritte industrielle Revolution" konstituieren. In diesem Prozeß kommt dem rasanten Fortschritt der Informationstechnologie und der verbesserten Bildung und Ausbildung der Masse der Erwerbspersonen in den westlichen Gesellschaften eine herausragende Bedeutung zu. Dort läßt sich eine zunehmende Marginalisierung ungelernter Arbeitskräfte sowie ein deutlicher Trend zu mehr sozialer Ungleichheit beobachten, die nur zu einem geringen Teil durch den Faktor "Handel mit der Dritten Welt" erklärt werden können.

Als dominierendes betriebswirtschaftliches Charakteristikum in den Schlüsselbranchen des Westens nennt Cohen die zunehmende Homogenität der Kompetenz der in einzelnen Produktionseinheiten tätigen Arbeitskräfte. Die neue (post-fordistische) Stufe der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung ist durch eine deutlich steigende Ungleichheit innerhalb aller soziokulturellen Gruppen gekennzeichnet, während zuvor die Differenzen zwischen diesen Segmenten stärker waren. Da vor allem ungelernte Arbeitskräfte zu den Verlierern der neuen Entwicklung gehören, scheinen Programme zur weiteren Erhöhung des Anteils besser (aus)gebildeter Erwerbspersonen ein probates politisches Instrument zu offerieren. Dem stellt Cohen die These entgegen, daß die wachsende Ungleichheit innerhalb sozio-kultureller Gruppen gerade aus dem Mißverhältnis zwischen dem Angebot an skilled workers und der verfügbaren Zahl gutbezahlter Arbeitsplätze resultiert. Das impliziert, daß auch für gut ausgebildete Arbeitskräfte das Risiko steigt, im Laufe ihres Erwerbslebens den Job zu verlieren.

Interessant ist der Vergleich zwischen dem Armutsproblem und der Arbeitsmarktentwicklung in den USA und Europa, wobei Cohen hinsichtlich der Alten Welt allerdings zumeist den Blick auf die Situation in Frankreich verengt. Während die USA seit einigen Jahren ein sog. Jobwunder erleben, nimmt die Zahl der Erwerbslosen in den meisten europäischen Volkswirtschaften weiter zu. Ein Großteil der neuen Arbeitsplätze in den USA sind allerdings solche mit Niedriglöhnen, so daß viele Personen trotz Beschäftigung kaum das Existenzminimum erreichen. Sowohl die sich weiter öffnende Einkommensschere in den USA als auch die wachsende Erwerbslosigkeit in Europa sind laut Cohen primär Ausdruck und Folge der rückläufigen Nachfrage nach unqualifizierten Arbeitskräften. 1990 lag die Erwerbslosenquote in dieser Gruppe in Frankreich viermal höher als im Segment der qualifizierten Arbeitskräfte. Für die geringere Arbeitslosenrate in den USA sind partiell die beachtlichen Wachstumsraten verantwortlich, ausschlaggebend sind aber die minimalen staatlichen Reglements bei der Lohnhöhe und Kündigung. Trotz der niedrigeren Erwerbslosenquote macht im Vergleich zu Europa ein wesentlich höherer Anteil der Arbeitskräfte konkrete Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit: "Each month, close to 2 percent of the working population in the United States becomes unemployed; the corresponding figure for France is 0.4 percent. But an American will, on the average, remain jobless for less than 3 months; his french counterpart will spend more than a year looking for a job."(90)

Cohen befürwortet staatliche Interventionen zur Abwendung negativer wirtschaftlicher Entwicklungen, konstatiert im europäischen Fall jedoch eine ernsthafte Einschränkung der wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit durch die riesige Staatsverschuldung. Bezüglich der Krise des Wohlfahrtstaates plädiert er für eine Abkehr von indirekten Subventionen zugunsten direkter Zahlungen an die Betroffenen. Um Diskriminierungen zu vermeiden, schlägt er ein sog. negative income tax-Modell vor, "guaranteeing each working-age individual a minimum income whether the individual finds a job or not."(102)

Ohne damit die Position des Autors in allen Punkten zu übernehmen, ist zu konstatieren, daß Cohen mit seinem schmalen Band einen wichtigen Beitrag zur Globalisierungsdebatte leistet, wobei seine Fähigkeit hervorzuheben ist, komplexe Zusammenhänge und schwierige theoretische Erklärungsansätze kurz und prägnant auf den Punkt zu bringen. Nur partiell akzeptabel ist allerdings seine Deutung der Entwicklungsprobleme der Dritten Welt, die Gegenstand der ersten beiden Kapitel bilden und im Epilog erneut erörtert werden. Während die pessimistische Ursachenanalyse der afrikanischen Entwicklungsmisere noch nachvollziehbar ist, geht es nicht an, Singapur und Hongkong als kopierfähige Muster erfolgreicher nachholender Entwicklung zu propagieren. Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung Asiens ist der Autor überaus optimistisch, während er die (kaum verallgemeinerbaren) Erfahrungen von Mauritius als Beleg dafür nimmt, daß auch in anderen Regionen entwicklungspolitische Durchbrüche möglich sind. Zudem ist kritisch anzumerken, daß ökologische Aspekte in den Ausführungen Cohens völlig ausgeblendet werden.

Der von Pinger herausgegebene Band vereinigt 17 Beiträge, die das Thema Armut und Armutsbekämpfung aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen behandeln. Gemeinsam ist ihnen der Bezug zur entwicklungspolitischen Konzeption und Praxis. Ein Großteil der Autoren gehörte oder gehört Institutionen mit entwicklungspolitischer Aufgabenstellung an. U.a. kommen der ehemalige Ressortminister Spranger, sein Staatssekretär Repnik sowie die derzeitige Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Uschi Eid, zu Wort. Die meisten Artikel befassen sich auf eher grundsätzliche Weise mit der Armutsproblematik, während einige Beiträge konkrete entwicklungspolitische Programme in bestimmten Ländern thematisieren.

Zu Beginn der 90er Jahre wurde die Armutsbekämpfung zum obersten Ziel und zur Querschnittsaufgabe der BMZ-Aktivitäten erklärt. Dies ist ein hehrer Anspruch, der freilich in der Wirklichkeit nur zum Teil umgesetzt wurde, was Exminister Spranger in seinem Beitrag nicht daran hindert, kaum Differenzierungen zwischen Konzept und Praxis der deutschen Entwicklungs(hilfe)politik vorzunehmen.

Im Hinblick auf die Erklärung der zentralen Ursachen der Armut besteht zwischen den Autoren weitgehende Übereinstimmung. Dies gilt noch stärker in bezug auf den richtigen Ansatz zur Bekämpfung und Überwindung der miserablen Lebensbedingungen, unter denen die Mehrheit der Bevölkerung der Dritten Welt ihr Dasein fristet. Der Entwicklungshilfe wird nur eine unterstützende Funktion beigemessen, die umso wirkungsvoller ausfalle, je stärker sich die politische Führung der einzelnen Länder dem Ziel der Armutsreduzierung verpflichtet fühle. Als entscheidend wird die Schaffung von Rahmenbedingungen angesehen, welche die Voraussetzungen dafür bieten, daß die Armen mittels eigener Anstrengungen ihr Los nachhaltig verbessern können. In diesem Kontext sollen entwicklungspolitische Maßnahmen vorrangig als Hilfe zur Selbsthilfe wirken. U.a. wird der bisher in der Regel nicht gegebene Zugang der Armen zu formellen (Klein-)Krediten als vielversprechende Möglichkeit zur wirtschaftlichen Besserstellung propagiert, wobei das erfolgreiche Beispiel der Grameen-Bank in Bangladesh als Referenzpunkt dient. Nicht nur dieser Punkt wird in mehreren Artikeln angesprochen, Wiederholungen bzw. thematische Überlappungen gibt es auch bei anderen Aspekten oder Teilbereichen der Armutsproblematik. Vor allem die besonders benachteiligte Stellung von Frauen und entsprechende entwicklungspolitische Gegenmaßnahmen werden mehrfach erörtert. Darin spiegelt sich nicht nur die Nähe der entwicklungstheoretischen und -politischen Grundüberzeugungen der verschiedenen Autoren oder deren weitgehender Konsens über die essentiellen Elemente der behandelten Problematik, sondern zumindest zum Teil auch die mangelnde editorische Abgrenzung der einzelnen Beiträge.

Die weit überwiegende Mehrheit der Autoren sieht in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit sozialen Ausgleichsmechanismen die ideale Grundlage für eine effiziente Armutsbekämpfung. Dabei dient in der Regel implizit oder explizit das Modell der Bundesrepublik als Vorbild, was sich kaum mit dem vom Herausgeber in der Einleitung konstatierten Scheitern der Modernisierungstheorie verträgt. Die Privatwirtschaft solle gestärkt werden, die Funktion des Staates auf die Herstellung und Sicherung entwicklungskonformer Rahmenbedingungen beschränkt bleiben. Die als notwendig erachteten Veränderungen stellen häufig quasi das genaue Gegenteil der real gegebenen Situation dar. Das Plädoyer für marktwirtschaftliche Reformen klingt streckenweise recht einleuchtend, bei einigen Autoren überschreiten die Ausführungen allerdings die Grenze zur Ideologie.

Gerade wegen der gigantischen Dimension der Armutsproblematik ist vor übertriebenen Hoffnungen in die positiven sozialen Begleiteffekte marktwirtschaftlicher Programme zu warnen. In zahlreichen Ländern hatten Modernisierungsmaßnahmen, die ökonomisch durchaus Sinn machten, eher negative soziale Konsequenzen. Auch die zunehmende Armut in den Industriegesellschaften mahnt zur Zurückhaltung bei allzuviel Lob für das System der Sozialen Marktwirtschaft.

In mehreren Beiträgen wird die Notwendigkeit einer Unterstützung des Klein- und Kleinstgewerbes (informeller Sektor) betont. Ausgespart bleibt die Frage, wer denn die durch die angestrebte höhere Produktivität erzeugten zusätzlichen Waren abnehmen soll und wo die aus einem modernisierten Kleingewerbe hinausgedrängten Personen eine wirtschaftliche Alternative finden sollen. Die niedrige Durchschnittsproduktivität des Kleingewerbes und der hohe Anteil des Kleinsthandels sind ganz wesentlich dafür verantwortlich, daß im informellen Sektor überhaupt so viele Menschen eine Überlebenschance finden. Wer Einzelerfolge entsprechender entwicklungspolitischer Förderprogramme quasi gesamtsektoral hochrechnet, verkennt essentielle Funktionszusammenhänge der Armutsökonomie. Die Dimension der Armutsproblematik verlangen nach einem auf (relativ) arbeitintensiven Wachstum basierenden Lösungskonzept, das freilich mit der Realität sich öffnender Märkte der Entwicklungsländer im Zeichen der Globalisierung kaum kompatibel ist. Auch wenn zentrale Thesen und Argumentationslinien mehrerer Autoren Kritik bzw. Widerspruch hervorrufen, bieten die meisten Beiträge des Bandes eine anregende Lektüre.

Karl-Dieter Hoffmann
Katholische Universität Eichstätt

Klaus-Dieter Tangermann (Hg.):
Demokratisierung in Mittelamerika
Münster 1998
Verlag Westfälisches Dampfboot, 240 S.

Ein politisches Buch eigens über Mittelamerika, noch dazu in Deutsch, ist eine Seltenheit und alleine deshalb schon zu begrüßen. Schon lange sind die drei unruhigsten Zwergstaaten des amerikanischen Isthmus - Guatemala, Nicaragua und El Salvador - aus den politischen Schlagzeilen verschwunden. Das heißt aber nicht, daß sie seither uninteressant geworden sind. Das Ende des Ost-West-Konflikts in Europa beendete hier Jahrzehnte von Bürgerkriegen und militärischer Unterdrückung von rechts und links. Angefangen in Nicaragua, wo unter maßgeblicher Beteiligung des deutschen SPD-Politikers Hans-Jürgen Wischnewski 1987 ein Friedensabkommen zwischen den rechtsgerichteten Contra-Rebellen und den roten Comandantes, den Sandinistas, erreicht werden konnte, das 1990 in den ersten freien und demokratischen Wahlen des Landes kulminierte.

Der brutalste Stellvertreterkrieg der beiden Supermächte USA und Sowjetunion nach Vietnam tobte zwölf Jahre lang in El Salvador, einem Ministaat von der Größe Hessens. Erst das Ende des Kalten Krieges ermöglichte in der Silvesternacht des Jahres 1991 auf 1992 den Frieden. Sehr spät folgte Guatemala, das nicht vor 1996 in der Lage war, den 36 Jahre währenden und verhärteten Bürgerkrieg zu beenden.

Klaus-Dieter Tangermann, einst taz-Redakteur und bis 1997 Interessensvertreter der Grünen-Stiftung "Buntstift" in Mittelamerika, hat nun gemeinsam mit sieben Soziologen und Politikwissenschaftlern aus Costa Rica, Panama und Argentinien über einen längeren Zeitraum die Demokratieentwicklung in der Region beobachtet. Im vorliegenden Werk stellen die Autoren ihre Untersuchungsergebnisse über die mittelamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras, Nicaragua, El Slavador und Costa Rica vor. Auf einen Schwachpunkt sei gleich an dieser Stelle hingewiesen. Einige Kapitel reichen bis zum Jahr 1997, andere nur bis zum Jahr 1995. Deshalb sind eine Reihe von Aussagen des Buches nicht mehr haltbar, da sie von den politischen Ereignissen vor Ort überholt wurden.

Das Autorenteam richtete sein Augenmerk sowohl darauf, wie stark in den genannten Staaten der Demokratisierungsprozeß vorangeschritten ist, als auch, wie sehr benachteiligte Bevölkerungsschichten darin überhaupt einbezogen sind. Tangermann: "Uns interssierte die Frage der Tiefenwirkung, den die neuen mittelamerikanischen Demokratien erlangt haben und wo die Hindernisse für die Vertiefung der Demokratie liegen."

Die Autoren weisen darauf hin, daß die Demokratien in der Region "auf einem Kompromiß unter den etablierten Eliten statt auf einem gesellschaftlichen Interessenskonsens beruhen, in den die Opposition einbezogen wäre". Und weiter: "Die Erwartung der Bevölkerung auf stärkere Beteiligung am politischen Entscheidungsprozeß wurde mit Ausnahme der Einführung sauberer Wahlen enttäuscht."

Obwohl diese Aussage im Buch glaubhaft und hinreichend begründet wird, ist sie so nicht haltbar! Sie läßt wesentliche Aspekte außer Acht oder ist, wie im Fall der Entwicklung in Guatemala, veraltet. In El Salvador zum Beispiel hat sich die ehemalige Guerrilla-Organisation FMLN in eine Partei verwandelt; ihre Vertreter stellen viele Bürgermeister im Lande. Hier partizipiert also sehr wohl die Opposition am Demokratieprozeß. Und in Guatemala beschreitet der Präsident Alvaro Arzu völlig neue Wege zur Konsolidierung der Demokratie in der breiten Bevölkerung. Nach dem Vorbild Südafrikas wurde hier eine Wahrheitskommission (unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Tomuschat) tätig, die mit der verhängnisvollen Einmischung der CIA ebenso abrechnete wie mit den Menschrechtsverletzungen der Guerrilla. Indem eine demokratische Regierung die Wahrheit aufdeckt, die schwer über dem Land lastet, wird für jedermann sichtbar, was eine demokratische Regierung im Gegensatz zu einer autoritären auszeichnet. Und sie wird dafür auch anerkannt. Solche Beispiele sind im Buch Tangermanns sehr selten - zu selten.

Die Autoren weisen zu recht darauf hin, daß die armen Bevölkerungsschichten ihre demokratischen Regierungen vor allem danach beurteilen, ob sie ihnen zum wirtschaftlichen Fortschritt verhelfen. Hier unterscheiden sich die kleinen Staaten jedoch oft gravierend von einander, obwohl die Regierungen nunmehr alle demokratisch sind. Dies hat nicht immer nur mit gesellschaftlichen Prozessen innerhalb der Eliten zu tun, wie im vorliegenden Buch häufig argumentiert wird, sondern auch ganz banal mit äußeren, nicht kontrollierbaren Einflüssen.

Zum Beispiel wird die gesamte mittelamerikanische Region relativ häufig von Naturkatastrophen heimgesucht: von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Hurricanes. Diese Umwelteinflüsse haben die Autoren des vorliegenden Bandes bei ihren politischen Analysen völlig unberücksichtigt gelassen. Doch wenn Nicaragua etwa Mitte der siebziger Jahre von einem dramatischen Erdbeben nahezu völlig verwüstet wird und im November 1998 der Hurricane "Mitch" eine Flut- und Schlammlawine über das ganze kleine Land ergießt, so daß es jeweils für Jahrzehnte in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen wird, dann sind die darauf einsetzenden Migrationswellen von Nicaraguanern, etwa nach Costa Rica, nicht der Regierung in Managua anzulasten. Die Demokratie hat es in den Ländern, die häufig von schweren Naturkatastrophen heimgesucht werden, von vornherein schwerer, sich durchzusetzen als anderswo, da häufig der Notstand ausgerufen werden muß, wodurch viele der demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt werden. Dies gilt es gerechterweise zu berücksichtigen, wenn über die Demokratiefähigkeit und –möglichkeit Mittelamerikas gesprochen wird!

Bedauerlicherweise bewegt sich das von Tangermann herausgegebene Werk jedoch hauptsächlich im politik-theoretischen Bereich, auch sprachlich, und erklärt allzuoft langatmig den jeweiligen methodischen Untersuchungsansatz. Es fehlt - mit Ausnahme des hervorragend recherchiert und geschriebenen Kapitels "Frau und Politik" - schlicht die Bodenhaftung, also das konkrete Beispiel mit einer klaren Aussage.

Warum nehmen die Autoren keine Kenntnis davon, daß etwa die demokratische Regierung El Salvadors Respekt in der Bevölkerung durch eine in der Region beispiellose Alphabetisierungskampagne unter Erwachsenen gewonnen hat? Polio wurde ausgerottet, die Lebenserwartungen sind gestiegen, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt seit 1996 1800 Euro (in Nicaragua nur etwas mehr als 400 Euro). Keine Rede davon im vorliegenden Buch. Statt dessen verlieren sich die meisten Autoren, selbstverliebt in ihr politikwissenschaftliches Vokabular, in gewundenen Formulierungen; ein typischer Satz lautet: "Denn die Artikulation eines erheblichen Teils gesellschaftlicher Kollektivinteressen findet in mehr oder weniger unmittelbaren politischen Handlungsformen mit stark kollektiv-partizipatorischen Elementen statt und nicht in den für liberale Demokratien typischen eher symbolischen Repräsentationsformen." (S.11)

Hierbei stellt sich die Frage: Welche Leser wollen die Autoren eigentlich ansprechen? Das Sprachniveau und die vielen langatmigen Fußnoten und Literaturnachweise (sie nehmen etwa ein Drittel des Buches ein) lassen den Rückschluß zu, daß das Buch sich primär an Politikwissenschaftler wendet. Doch wenn dies so ist, sind viele historischen Erläuterungen unnötig. Sie können, ja müssen als bekannt vorausgesetzt werden. Statt dessen hätte dem Buch mehr Aktualität gut getan. Vor allem aber eine lesbarere Sprache für eine breitere Leserschicht.

Dennoch bleibt positiv festzuhalten, daß es eine Reihe von Aspekten gibt, die lesenswert und lesbar und nirgendwo sonst auf dem deutschen Buchmarkt anzutreffen sind. Dazu zählen die drei Kapitel über Demokratisierung und politische Veränderungen in Nicaragua sowie das Kapitel, das die Beteiligung von Frauen an politischer Macht untersucht. Alleine die hierzu geführten und im Buch wörtlich veröffentlichten Interviews - darunter von der Guerrillera zur Abgeordneten - sind das Buch schon wert.

Josef-Thomas Göller
Freier Journalist für internationale Politik

Attila Ágh:
Emerging Democracies in East Central Europe and the Balkans
Northampton, Mass. 1998,
Edward Elgar, 359 S.

Der ungarische Politologe Attila Ágh ist einer der wenigen osteuropäischen (er würde wahrscheinlich auf "mitteleuropäischen" bestehen) Forscher, die über ihr eigenes Land hinaus sich mit der Transformationsgeschichte anderer Länder ihrer Region beschäftigt haben. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Vergleichs der demokratischen Entwicklung von zwölf mittel- und südosteuropäischen Ländern, nämlich Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien, Mazedonien, Albanien, Bulgarien und Rumänien. Damit umfaßt Ághs Untersuchung alle postkommunistischen Länder Europas außerhalb der ehemaligen Sowjetunion.

Die Analyse konzentriert sich dabei auf die politische Entwicklung. Sie beginnt in jedem Land mit einem kurzen historischen Abriß, beschreibt dann den unmittelbaren Umbruch 1989/90 und setzt dann die Darstellung der politischen Geschichte im Rhythmus der jeweiligen Wahlen fort. Ágh behandelt zwar wirtschaftliche, soziale und kulturelle Prozesse nur am Rande, bettet aber die innenpolitische Entwicklung nachvollziehbar in diesen Kontext sowie in die internationale Politik ein. Von diesem Gliederungsmuster weicht Ágh nur im Fall des ehemaligen Jugoslawien ab, das er in zwei Kapiteln zur Desintegration der Föderation und zur Nationalstaatsbildung der Nachfolgestaaten aufteilt, die jeweils nach den Teilrepubliken Slowenien, Bosnien, Kroatien, Serbien und Mazedonien gegliedert sind.

Wichtigster Gegenstand der Analyse sind die politischen Parteien als zentrale Akteure der politischen Entwicklung. Jedes Länderkapitel hat daher als Anhang - neben einer Chronologie - auch eine Liste von Kurzbeschreibungen der stärksten Parteien. Im Text selbst sind alle Wahlen auch tabellarisch dargestellt mit dem prozentualen Stimm- und Sitzanteil und der absoluten Zahl der Mandate für die wichtigsten Parteien. Im Ergebnis erhält der Leser ein Handbuch der Politik der behandelten Länder, das einen hervorragenden und ausgewogenen Überblick bietet, der bis ins Jahr 1997 reicht. Diese zeitliche Begrenzung wirkt sich wirklich nachteilig nur in Serbien aus, das durch den Kosovokonflikt besonderen Veränderung in den letzten beiden Jahre unterworfen war.

Etwas störend empfand der Rezensent den Gebrauch von Abkürzungen für Parteien. Ágh erwähnt eine Partei in der Regel beim ersten Mal mit ihrem vollen Namen in Englisch, dem dann in Klammern die Abkürzung in der Landessprache folgt. Im weiteren Text benutzt er die Abkürzung des englischen Namens, die aber vorher nicht richtig eingeführt wird, was etwas verwirrend wirkt. Dabei hat sich auch einer der wenigen Fehler eingeschlichen: Auf S.78 wird als ungarische Abkürzung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiter Partei MSZDP angegeben, was aber die Abkürzung der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei ist. Die richtige Abkürzung - wie man bei Ágh auf S.111 sehen kann - lautet MSZMP.

Die länderspezifische Betrachtung ist eingerahmt durch zwei Kapitel, eine Einführung über Demokratisierung in regionaler Perspektive und eine Schlußfolgerung über die Europäisierung der Region. In der Einleitung hebt Ágh besonders den strukturellen Unterschied zwischen den mitteleuropäischen Ländern und den Staaten des Balkans hervor. Während die ersteren sich rasch dem westeuropäischen Modell anpassen (können), leiden die letzteren unter einer sozio-kulturellen und politischen Erblast, die diesen Prozeß deutlich schwieriger und langwieriger gestaltet. Das gilt für den Umbruch selbst, der in Mitteleuropa eher konsensual verhandelt ablief, während er auf dem Balkan häufig gewaltsame und konfliktäre Formen annahm. Aber auch der spätere Demokratisierungsprozeß weist diese Differenzen auf, der dann wieder die wirtschaftlichen und gesellschaftliche Entwicklung auseinandertreibt. Das Schlußkapitel fällt dagegen ziemlich dünn aus und gibt lediglich eine sehr knappe Zusammenfassung der Integrationsansätze, die den schwächsten Teil des Buches ausmacht. So fehlt etwa bei den Kopenhagener Kriterien das Kriterium der Integrationsfähigkeit der EU. Im Anhang vermißt man bei der Chronologie der Beziehungen zur EU den Assoziationsvertrag mit Slowenien und das Weißbuch zum Binnenmarkt, während der Amsterdamer Gipfel mit einer "Entscheidung über den Beitritt" aufgelistet wird. Positiv ist allerdings die etwas detailliertere Beschreibung der regionalen Integrationsansätze CEFTA, Hexagonale und Schwarzmeerkooperation.

Die in der Einleitung entworfene analytische Strategie der Differenzierung zwischen Mitteleuropa und Balkan wird leider im Länderteil kaum explizit fortgesetzt, sondern dieser Teil illustriert eher implizit die eingangs gemachten Thesen. Damit bleibt das Gesamtwerk doch überwiegend deskriptiv. Als solches ist es aber durchaus zu empfehlen. Der Stil ist zwar nicht journalistisch, sondern wissenschaftlich, aber angenehm zu lesen. Jedes Länderkapitel steht für sich selbst. Wer über ein gutes Kompendium der Politik unserer Nachbarregion zwischen 1989 und 1997 verfügen will, dem kann man dieses Buch unbedingt empfehlen.

Michael Dauderstädt

Thomas Pedersen:
Germany, France and the Integration of Europe. A Realist Interpretation,
London und New York, 1998
Pinter, 229 S.

Der dänische Politologe Pedersen betrachtet das deutsch-französische Verhältnis als den politischen Kern der EU, von intra-hegemonialen Spannungen ebenso geprägt, wie von der sich unter den gegebenen Bedingungen wohl schlußendlich ein wenig mehr durchsetzenden politischen Vormacht Deutschlands. Während Frankreich eine Direktorats-Lösung für die Einflußverteilung in der EU anstrebe und deshalb einen engeren Handlungsspielraum als die deutsche Regierung habe, könne diese Elemente des Direktorats (die Großmächte bestimmen) mit föderalistischen Ansätzen (Koalitionen der Mitgliedstaaten entscheiden) kombinieren. Beide verdeckten, ja ummantelten die Strategie der kooperativen Hegemonie des Landes in der geopolitischen Mittellage. Die übrigen Staaten der Europäischen Union hätten sich mit der kooperativen Hegemonie Deutschlands, in Kombination mit Frankreichs weitreichendem Einfluß, abgefunden, wenn auch in unterschiedlichem Maß, jeweils ihrem eigenen Status entsprechend. Am wenigsten Großbritannien, das hin und wieder versuche, die deutsch-französische Vormacht zu balancieren, ein ums andere Mal aber widerwillig in den Integrationsprozeß hineingezogen werde. Dem folgten Spanien und Italien, die immer wieder als Gehilfen an der Gestaltung der asymmetrischen Föderation teilhaben könnten. Und schließlich folgten die kleineren Staaten, die mit Zahlungen (nicht nur in pekuniärer Form) abgefunden würden.

Das ist, stark vergröbert, das Bild des europäischen Integrationsprozesses, das den hier vorgelegten ebenso theoretisch wie historisch ausgerichteten Analysen zugrunde liegt. Pedersen geht von zwei einsichtigen Prämissen aus: erstens verfolgen Staaten das Ziel, ihre Macht zu steigern, weshalb sie zweitens auf relative Gewinne aus den kooperativen Beziehungen zu anderen Staaten orientiert sind. Und diese Prämissen verbindet er theoretisch weit ausholend (mit seinem Entwurf eines ideational realism) mit dem Projekt der europäischen Integration.

Dieses stellt er als Entwurf eines asymmetrischen Föderalismus dar. Auf den ersten Blick scheint dies eine Tautologie, denn jeder Föderalismus ist von Asymmetrien gekennzeichnet. Bei Pedersen geht es allerdings um die institutionelle Asymmetrie zugunsten der Großmächte innerhalb des Integrationsverbundes. Wobei die kooperative Ausrichtung der Strategien zur Vorherrschaft nicht nur an eine einigermaßen Gleichverteilung von Ressourcen gebunden sind, weil es anderenfalls zu Prozessen der Gegenmachtbildung kommt, sondern auch daran, daß die Vormächte geschickt mit den anderen Staaten umgehen. Je weniger die Vormacht sichtbar ist, desto langfristiger, aber auch nachhaltiger ist der Erfolg einer kooperativen Hegemonie.

Den institutionell abgesicherten, also in ein politisches System gegossenen Erfolg der Vormacht eines Staates erkenne man daran, daß die institutionelle Struktur des asymmetrischen Integrationsverbundes eher ihrer eigenen nationalen politischen Struktur gleiche als der anderer Partnerstaaten. Es mache den Erfolg der deutschen Europapolitik aus, daß die EU eher dem politischen System Deutschlands als dem anderer großer Staaten (also Frankreichs oder Großbritanniens) gleiche. Damit sei nicht zuletzt die politische Sozialisation der Eliten in Deutschland mit den darin geübten Verhaltensweisen relativ problemlos auf die europäische Ebene zu übertragen. Was ihren britischen Kolleginnen und Kollegen immer noch schwer falle, weil sie beispielsweise Kodezisionsverfahren aus dem eigenen politischen System nicht gewohnt seien.

Theoretisch hebt sich Pedersen von Analysen des Neorealismus dadurch ab, daß er die außenpolitische Strategie eines Staates in den Mittelpunkt der Analyse rückt und darlegt, daß zu deren Entwicklung weniger die Konfiguration des internationalen Systems als die politische Kultur, historische Erfahrungen und Ideen beitragen. Der Merksatz lautet: Außenpolitische Strategie läßt sich aus der internationalen Konfiguration nicht ableiten.

Pedersen greift damit eine in der IB-Analyse der letzten Jahre dominante Fragestellung auf, welche Rolle Ideen und Weltbilder für das außenpolitische Handeln spielen. Und er verdeutlicht überzeugend, daß diese Fragestellung sehr wohl ihre Berechtigung im realistischen Diskurs hat und keineswegs für idealistisch (Pedersen spricht hier von pluralistisch-liberal) ausgerichtete Analysen reserviert werden kann. Wie viele andere Autoren derzeit greift er in der Entwicklung realistischen Denkens über Waltz auf Morgenthau zurück. Warum er dann aber den vielen Realismen nun noch eine neue Form zufügen möchte, bleibt unverständlich. Es sei denn, er betreibt damit das beliebte akademische Spiel des "neue Etiketten kleben" (das sich manchmal als Etikettenschwindel erweisen soll, behaupten andere, dem Rezensenten völlig unbekannte Autoren). Wird denn nicht in vielen Studien, eben auch dieser, gerade wieder deutlich herausgestellt, daß unter dem Dach realistischen Denkens sehr viele Fragestellungen zu ihrem Recht kommen, auch solche, die gerne in sehr vordergründig grundsätzlichem Gegensatz dazu formuliert werden? Mauern einreißen und gleichzeitig Mäuerchen bauen, überzeugt nicht recht.

Mehr noch überrascht dies, weil sich Pedersen, dessen Analyse spannend zu lesen ist, gerade in diesem Punkt widerspricht, weist er doch überzeugend darauf hin, daß asymmetrische Föderationen in unipolaren Systemen den höchsten Gewinn für ihre Mitglieder versprechen, erheblichen Gewinn noch in bipolaren Ordnungen und eher geringe Gewinne in multipolaren Konfigurationen.

Sein Hauptpunkt aber ist, mit einigen überraschenden Analogien angereichert, die europapolitische, auf kooperative Hegemonie ausgelegte Strategie Deutschlands. Im Kern lautet sie (vergröbert): Frankreich einbinden, Großbritannien marginalisieren oder kooptieren, die Niederlande zum Fürsprecher bei den kleineren Staaten gewinnen und die übrigen Staaten mit angemessen großen Vorteilen bedenken, um der Europäischen Union die Gestalt des deutschen Föderalismus geben zu können. Sie ist auf Machtteilung ausgerichtet, sucht die ökonomische und ideologische Einbindung möglichst vieler Staaten und wird ungeschminkt nur bei Entscheidungen über die institutionelle Ordnung deutlich. Nur in Parenthese sei angefügt, daß die in Deutschland negativ besetzte Figur des "Zahlmeister Europas" hier eine ganz andere Konnotation erhält, nämlich dessen, der sich seine langfristigen Vorteile qua institutioneller Herrschaft durch kurzfristige Gewinne für andere "erkaufen" kann.

Die Strategie der kooperativen Hegemonie beruht außerdem auf einem stillschweigenden Übereinkommen zwischen der Vormacht und den Zweitmächten darüber, daß die Vormacht die gemeinsamen Interessen nach außen definiert und gegen Dritte verteidigt. Auch hier wird die Bedeutung der internationalen Konfiguration sehr deutlich, denn der kooperative Hegemon hat die Opportunitätsstruktur der internationalen Beziehungen hierfür zu nutzen. Im übrigen ergeben sich hier die stärksten empirischen Einwände auch aus Pedersens Darstellung selbst, betont er doch die Bedeutung militärischer Handlungsfähigkeit ebenso wie das französisch-britische Übergewicht auf diesem Gebiet. Die deutschen Vorschläge für diverse Eurocorps interpretiert er als besonders perfide Strategie. Die deutsche Regierung würde auf diese Weise nämlich mit dem Argument, man wolle den anderen Staaten die Angst vor Deutschlands Militärmacht nehmen, die autonome britische und französische Handlungsfähigkeit beschneiden wollen.

Wie kann die deutsche Strategie erklärt werden? Erstens seien hierfür die geopolitischen Bedingungen zu berücksichtigen. Zweitens (und hier konstruiert Pedersen eine diplomatische Konstante von Bismarck über Stresemann zu Kohl) hätten die Differenzierungen der deutschen Positionen eine große Rolle gespielt, also das, was als Politik des sowohl-als-auch bezeichnet wird, z.B. Vertiefung und Erweiterung, Osterweiterung und Mittelmeerentwicklung. Diese habe nicht zuletzt aus einer kompatiblen Anlage des bundesrepublikanischen politischen Systems Vorteile gezogen. Drittens hätten die deutschen Regierungen eine Politik der kleinen Schritte realisiert, die nicht den großen Sprung in die europäische Föderation, sondern kleine Hüpfschritte versucht habe. Außerdem habe sich das hegemoniale Denken in Deutschland (S.200, leider ohne Quelle) auf ökonomische und ideologische Macht konzentriert und die Tugenden langfristiger Strategien (einer "Politik der Zermürbung") geübt. Denn viertens hätten sich die deutschen Regierungen machtpolitisch selbstdiszipliniert gezeigt, entsprechend dem Konzept der Bündnismacht, das sich hier als List erweist.

Deutschland habe nicht versucht, (West)Europa offen zu dominieren, sondern unter seinem dominierenden Einfluß kooperativ einzubinden, ganz ähnlich, wie dies die USA, von den Reagan-Jahren abgesehen, auch mit Westeuropa versucht hätten. Beide ganz erfolgreich.

Dies belegt Pedersen an historischen Beispielen. Sie sollen aber nicht nur die Theorie der kooperativen Hegemonie illustrieren, sondern erst ermöglichen. Denn nicht allein die jeweils bestehende Konfiguration der internationalen Ordnung und die systemischen Bedingungen, wie sie Buzan beschrieben hat, gerieren die Strategie der Großmächte, sondern auch die Pfadabhängigkeit der jeweiligen politischen Kultur, speziell ihre ideologische Basis.

Der historische Überblick des europäischen Integrationsprozesses liest sich bei Pedersen dann auch als Strategie der jeweiligen Bundesregierungen, sich als (west)europäische Vormacht zu etablieren. Nach der Integration in den Westen wurde speziell die neue Ostpolitik, und die damit zusammenhängenden Vorbehalte in anderen europäischen Staaten genutzt, den Prozeß der Institutionalisierung voranzutreiben. Die französischen Regierungen hätten dies frühzeitig registriert und die Integration Großbritanniens solange verzögert, bis die eigene Stellung als kongeniale Kernmacht gesichert gewesen sei.

Detailliert beschreibt Pedersen die Vorgeschichten der Einheitlichen Europäischen Akte sowie der Verträge von Maastricht und Amsterdam, die allesamt auf deutsch-französische Initiativen zurückgingen, im Fall der EEA mußte diese allerdings durch ein deutsch-italienisches Projekt angestoßen werden. Die Dominanz der Kernmächte habe sich in der institutionellen Entwicklung gerade dann gezeigt, wenn - wie im Fall des Maastricht-Vertrages und der parallel zugespitzten Lage der europäischen Jugoslawienpolitik - Differenzen über nicht-institutionelle Prozesse zurückgestellt worden seien.

Nach Maastricht/Amsterdam habe sich die geopolitische Lage für die Beziehungen innerhalb des kooperativ-hegemonialen Duos allerdings drastisch verändert. Denn die Erweiterung nach Osten begünstige die Bundesrepublik, selbst wenn sie dies nicht nutzen wolle. (Hier zwinkert der realistische Analytiker mit einem Auge.) Und zweitens könne sie doppeltes Spiel spielen, indem sie einerseits auf die zukünftige Dominanz parlamentarischer Verfahren hinarbeiten könne, wozu sie die Argumentation funktionaler spill-over heranziehe, andererseits aber gleichzeitig von einer stärkeren Stellung des Rates profitiere, während Frankreich nur bei letzterem Vorteile realisieren könne. Und außerdem seien die deutschen Positionen ihrer Differenziertheit wegen koalitionsfähiger als die französischen oder britischen. Schließlich werde die Interessenvertretung nach außen wichtiger. Ergo: wie immer der europäische Integrationsprozeß weitergeht, die kooperative Vormacht Deutschlands wird sich stabilisieren. Bedingung dafür aber ist, daß die deutsche Regierung weiterhin eine Politik der Zurückhaltung betreibt und es versteht, die unterschiedlichen Interessen der anderen Großmächte einzubinden. Nicht zuletzt wird dies, was Pedersen in seiner anregenden Diskussion leider nicht thematisiert, davon abhängen, welches Beziehungsgeflecht zu den USA und Rußland aufgebaut werden kann.

Thomas Jäger
Universität Marburg

Andrei S. Markovits/ Simon Reich:
Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht
Berlin 1998
Alexander Fest Verlag, 367 S.

Unter dem Etikett der Berliner Republik wird derzeit eine Diskussion über die Entwicklung der deutschen Außenpolitik geführt, die schon vor dem Ende des Ost-West-Konflikts Mitte der achtziger Jahre angestoßen wurde. Hans-Peter Schwarz (Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit), Christian Hacke (Weltmacht wider Willen) und Arnulf Baring (Unser neuer Größenwahn) hatten die Stichworte gegeben, Werner Weidenfeld an die Stationen des "deutschen Weges" die Fragezeichen gesetzt. Die Tatsache, daß sich Rolle und Bedeutung (west-)deutscher Außenpolitik in den achtziger Jahren geändert haben, erhielt durch das Ende der bipolaren Ordnung einen tieferreichenden katalysatorischen Drall.

An diese (in Deutschland seltsamerweise weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführte) Diskussion knüpfen Markovits und Reich in ihrer Darstellung des deutschen Dilemmas an. Daß in den achtziger Jahren der Historikerstreit um die Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zeitgleich mit der Debatte um neue außenpolitische Rollen geführt wurde, würden die Autoren nicht als Zufall ansehen. Denn das genau sei das deutsche Dilemma: daß die deutsche Regierung der Ressourcen und Fähigkeiten des Landes wegen Führungsaufgaben übernehmen müsse, sie der historisch bedingten Vorbehalte wegen aber nicht übernehmen könne.

Diese These wird in der teilweise provozierenden Studie von vielen Seiten betrachtet und ohne Vorbehalte politischer Korrektheit diskutiert. Die Merkposten über den Kapiteln stammen aus late night shows und sind auf soziale Vorurteile abgestellte spitze Bemerkungen, die nach Autorenansicht die kollektive Wahrnehmung weit besser auf den Punkt bringen können, als Analysen zur politischen Kultur. Schade ist deshalb, daß sie im umfangreichsten Teil ihrer Analyse (wie werden die Deutschen von außen wahrgenommen?) nicht systematisch solche medialen Stereotype analysieren (was zugegebenermaßen äußerst schwierig zu bewerkstelligen ist), sondern Meinungsumfragen aneinanderreihen.

Hinter dem Topos vom deutschen Dilemma steht eine Theorie politischer Hegemonie mit kulturellem Schwerpunkt: Ein dominantes Land ohne kulturelle Macht, so schreiben die Autoren, müsse zur Durchsetzung seiner Interessen auf Waffengewalt zurückgreifen, weil es ihm an Akzeptanz seitens anderer Staaten mangele (300). Das sei von der Berliner Republik nicht zu erwarten, weshalb Deutschland eine Hegemonie bleiben werde: "ein potentiell aufsteigender Hegemon, dem allerdings letztlich sowohl die breite politische Basis als auch die kulturellen oder "weichen" Dimensionen der Macht fehlen" (21). Wenn die Staaten der Europäischen Union auch von der deutschen Politik ökonomisch profitierten, so billigten sie die politische Führungsrolle Deutschlands nicht. Und dies habe mit der großen Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses im sozialen Leben zu tun. Das kollektive Gedächtnis anderer Staaten gegenüber Deutschland sei sehr stark bis ausschließlich von den Erfahrungen des Nationalsozialismus geprägt. Daraus resultiere der Mangel an Akzeptanz gegenüber deutscher Führung.

Die Autoren verfolgen dabei einen an Antonio Gramsci angelehnten Hegemoniebegriff, wie ihn auch Robert Keohane verwendet, in dessen Konzeptionalisierung das kollektive Gedächtnis die "Grenzen des Gebilligten" (30) definiert. Dabei betonen sie, daß die herrschende Erinnerung auch die Erinnerung der Herrschenden ist (39) und sich die Geschichte des kollektiven Gedächtnisses in Ritualisierungen reproduziert. Den unterschiedlichen Inhalten der kollektiven Gedächtnisse gehen die Autoren in einer geographisch und inhaltlich breit angelegten Untersuchung nach, die allerdings wenig neue Informationen enthält. Ihr Ergebnis ist, daß die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus weiterhin prägend ist und das Bild Deutschlands in anderen Gesellschaften bestimmt. Sie untersuchen dies spezifisch auf die Reaktionen zum deutschen Einigungsprozeß (was die Verwertbarkeit der Ergebnisse einschränkt) und kommen zu dem Ergebnis, daß diese desto negativer waren, je geographisch näher die Länder an Deutschland liegen. Und daß sie zweitens in der politische Elite negativer waren als in den Gesellschaften.

Ihre Analyse der zukünftigen deutschen Außenpolitik spannen die Autoren in die Raster idealtypisch angelegter Prognosen von Optimisten und Pessimisten ein. Einerseits möchten sie damit die hinter diesen "Meinungen" stehenden theoretischen Prämissen verdeutlichen; andererseits entlasten sie sich selbst von einem Urteil, denn am Ende (soviel kann hier schon verraten werden) steht eine weniger achselzuckende als kopfwiegende Ambivalenz.

Für die optimistische Variante werden zwei theoretische Ansätze besonders betont. Erstens der institutionalistische, der die zukünftige deutsche Außenpolitik in die Tradition der westdeutschen Außenpolitik stellt und aus den verschiedenen Prozessen der Institutionalisierung und Allianzeinbindung schließt, daß der autonome Handlungsspielraum engeren Grenzen unterliegt. Ein bisschen bleibt dann alles so, wie es war. Und zweitens ein regimetheoretischer, der die Bedeutung absoluter gegenüber relativer Gewinne in der Kooperation zwischen Staaten betont, wobei die Autoren darauf hinweisen, daß gerade in der EU die absoluten Gewinne anfallen. Verbunden wird dieser Ansatz mit der Idee des Handelsstaates, der eher auf Wirtschaft als auf Militär, eher auf Kooperation als auf Konfrontation setzt.

Ihre pessimistische Variante setzt an diesem Punkt ein und hinterfragt das Konzept des Handelsstaates, denn Handel und Wirtschaft hätten in der Vergangenheit aus sich heraus nie Frieden geschaffen, sondern Wettbewerb produziert. Überlegungen zur Instabilität der demokratischen Institutionen in Deutschland schließen sich Spekulationen über ein Aufleben der besonderen deutsch-russischen Beziehungen an. Wobei die letzten beiden Punkte weniger theoriegeleitet als illustrativ sind: ein bisschen ist die pessimistische Variante auch polito-moralisch böse.

Die gesamte Argumentation von Markovits und Reich setzt diese drei Teile zusammen: erstens die historische Gebundenheit der deutschen Frage; die Beschränkung deutscher Führungsansprüche durch die kollektiven Erinnerungen in anderen Gesellschaften; die politikfeldspezifischen Bedingungen der Berliner Außenpolitik. Für diesen letzten Punkt analysieren sie die (angesichts der Kosovo-Krise historisch anmutende) Zurückhaltung, die in der Debatte über out-of-area-Einsätze der Bundeswehr deutlich wurde, woraus sie auf einen sehr engen militärischen Handlungswillen schließen. Daran schließt sich ein Kapitel über die ökonomische Dominanz der deutschen Wirtschaft in Europa an, die ihrem Urteil nach überragend und zum Nutzen aller ist. Drittens betrachten sie die deutsche Kulturpolitik, die vernachlässigt würde, aber auch in dieser Studie nur den Appendix spielt.

Was aber meinen die Autoren, wenn sie davon sprechen, daß die Entspannungspolitik "die natürliche Ordnung der Dinge (...), nämlich Deutschlands Funktion als Brücke zwischen West- und Osteuropa" (77) wiederhergestellt habe? Und wie ist diese Brückenfunktion mit der Einschätzung, Deutschlands Gewicht in Europa sei dem der USA international vergleichbar (55), zu vereinbaren? Schließlich: Welche Folgerungen sind aus der Beobachtung zu ziehen, daß sich die Berliner Republik "zunehmend an der Logik von Macht und Souveränität und weniger an Kooperation und Koexistenz orientiert" (52)?

Die Prognose der Autoren ist angesichts dieser Beobachtungen nicht nur ein wenig unentschieden: "Die Macht Deutschlands wird eher unfreiwillig als absichtlich expandieren und eher ökonomisch als auch auf militärischem Weg." (101) Sie scheint vielmehr die in der Studie aufgezeigten Ambivalenzen sprachlich sanft vereinbaren zu wollen.

Diese sind kompositorisch geschickt in der Spannung von pessimistischen und optimistischen Prognosen angelegt. Erstere geht vom Ende der "Politik der Zurückhaltung" aus, letztere von der machtpolitisch irgendwie - und genau das ist der Knackpunkt der hier vorgelegten Argumentation, daß sie dieses ‘irgendwie’ nicht zu substantiieren vermag - kooperativ reproduzierten Bonner Außenpolitik für die Berliner Republik. Und dieses ambivalente Urteil - sowohl Optimisten als auch Pessimisten haben recht (100)! - formulieren die Autoren explizit: die aus der geo-politischen Lage und aus ökonomischen Ressourcen resultierende Macht wird keine hegemonialen Folgen haben, weil es eine stabile deutsche Demokratie gibt und gleichzeitig die Akzeptanz deutscher Vorherrschaft durch die Erinnerung an die nationalsozialistische Aggression ausgeschlossen ist.

Im Schlußkapitel nimmt die Studie zudem eine eigenartige Wendung, die sich aus der zuvor angelegten Argumentation so nicht richtig erschließen läßt, weshalb sich die Autoren auch damit verabschieden, daß sie den Leserinnen und Lesern die Antwort auf die Kardinalfrage überlassen: Wie löst die Berliner Republik das Problem der angemessenen Machtausübung (326)? Wie wird Deutschland ein normales Land und normalisiert seine Macht (329)?

Die Autoren reduzieren diese Frage auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Normalisierung im Umgang mit der Macht ist an die Normalisierung im Umgang mit der Vergangenheit gekoppelt. Wie letzteres aber bei Selbstbindung an die Erfahrungen von Auschwitz gelingen kann, formuliert das zentrale Problem bei Markovits und Reich. Mit den von ihnen untersuchten Aspekten deutscher Außenpolitik läßt sich diese Frage aber nicht beantworten. Noch nicht einmal ein Begriff von "normaler Macht" ist damit zu definieren.

Für die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gilt: Wie schnell sich soziale Wahrnehmungsmuster im Rahmen ihrer Ambivalenzen ändern können, zeigt das Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Wie rasch sich Einschätzungen anderer Staaten wandeln, ist an der internationalen Einbindung Rußlands abzulesen. Wie deutlich sich politische Präferenzen neu definieren lassen, beweist die Entwicklung in Osteuropa.

Wahrscheinlich wird man von der politischen Kultur in Deutschland bis zu den systemischen und strukturellen Bedingungen internationaler Beziehungen Analysen zusammentragen müssen, um Antworten zu versuchen. Diese beiden systematischen Aspekte fehlen in der hier vorgelegten Studie.

Thomas Jäger
Universität Marburg

Heribert Adam / Frederik Van Zyl Slabbert / Kogila Moodley:
Comrades in Business. Post-Liberation Politics in South Africa.
Kapstadt/Utrecht 1998
Tafelberg Publishers/International Books, 240 S.

Drei Autoren von Gewicht. Heribert Adam, deutscher Sozialwissenschaftler aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, ist seit 1966 in Südafrika zu Hause; 1969 erschien sein Suhrkamp-Band über die "Soziologie einer Rassengesellschaft", an dem wir alle uns orientiert haben, die wir im deutschen Sprachraum um diese Zeit den Konflikt im südlichen Afrika entdeckten. Jetzt ist Adam Professor in Vancouver und regelmäßigen Gast an der Universität von Kapstadt. Zusammen mit seiner Frau Kogila Moodley (die Ehe mit der südafrikanischen Inderin trieb ihn seinerzeit aus dem Lande der Apartheid) hat er 1993 einer ersten gemeinsamen Studie über "Gesellschaft und Politik in Südafrika nach der Apartheid" (also seit 1990) einen Obertitel gegeben, der zum allgemein anerkannten Stichwort für diese Periode wurde : The Negotiated Revolution - die zwischen Nationaler Partei und ANC ausgehandelte Revolution.

Frederik van Zyl Slabbert war seit 1974 Praktiker der südafrikanischen Politik, 1979-86 als Führer der Progressive Federal Party (PFP) Oppositionssprecher im Parlament. Dann stieg er aus dieser frustrierenden Aktivität aus, setzte dem Last White Parliament ein 175-Seiten-Denkmal (Johannesburg 1985), das die Verlage auf dem Schutzumschlag zurecht als "ein bewegendes und außergewöhnliches Buch, einen nüchternen, humorvollen und analytischen Bericht..." anpriesen, und widmete sich künftig dem Aufbau von IDASA, einem Forschungs- und meinungsbildenden Institut, dessen Akronym ursprünglich für "Demokratische Alternativen" zur Apartheid stand; jetzt heißt es einfach Institute for Democracy in South Africa. IDASA war 1987 maßgeblich an den ersten Treffen (in Senegal) zwischen der Exilführung des ANC und Repräsentanten des weißen Afrikaner-Volks beteiligt, aus dem Slabbert stammt. Er hätte nach 1994 auf einem komfortablen Chefsessel im Neuen Südafrika Platz nehmen können, zog es aber vor, sich die Freiheit des intellektuellen Analytikers zu bewahren.

Diese Drei sagen uns nun, was sie über das Neue Südafrika denken (aus dem Vorspann : "...a think-piece rather than original survey research... meant to make ivory tower lectures accessible to a larger audience..."), und wir erfahren nicht, welche Passagen des Buches von wem verfaßt wurden. Für den Titel danken sie Kanya Adam (offenbar die zweite Generation), und der allein ist schon ein harter Knochen für den kritischen Leser. Es gab da 1992 ein bei Indiana University Press und in London verlegtes Buch Comrades against Apartheid mit dem Untertitel The ANC and the SACP in exile. Die "Genossen" sind in unserem Titel dieselben : auch ANC-Aktivisten, die nicht der (bei der Mitgliederwerbung wählerischen) Kommunistischen Partei angehören, reden sich nach wie vor als Comrades an. Ja, jetzt sind sie in business; aber was soll das genau heißen? Nur: jetzt wird’s ernst, jetzt sind sie an der Macht? Oder steht da zwischen den Zeilen: jetzt geht’s los mit dem privaten Geschäfte machen, wie es im nachkolonialen Afrika leider die Regel war und ist?

Der Text beginnt mit zwei ziemlich akademischen Elfenbeinturm-Kapiteln: über den modischen und leider wirklich aktuellen Begriffs-Komplex Ethno-Nationalismus [in Afrika sagte man früher brutaler und eindeutig abwertend: Tribalismus] / Identität / Rassismus / Multikulturalismus weltweit - da ist aus der Adam-Moodley’schen Erfahrung von Québec die Rede, nicht jedoch von Jugoslawien; und über die angebliche Verwandtschaft der Apartheid-Ideologie mit dem deutschen Nationalozialismus - da hat mindestens einer der Autoren mit kritischem Blick Goldhagen gelesen, und es gab natürlich Kontakte; wir erfahren auch einiges über sporadischen Antisemitismus sowohl bei den Weiß- wie bei den Schwarzafrikanern Südafrikas. Aber das Fazit ist doch nach immerhin 33 Seiten, daß die Unterschiede zwischen beiden Wahnvorstellungen überwiegen.

Im folgenden Kapitel fragen sich die Verfasser erneut und mit Bezug auf eine Fülle eher journalistischer Berichte zu diesem Thema, was eigentlich bei der Verhandlungen 1990-94 passiert ist. Sie vertreten die These, daß Präsident F.W.de Klerk einerseits viel weniger selbst am Pokertisch agierte, als es den Anschein hatte, und daß seine zweite Unterhändler-Garnitur (Leon Wessels und Roelf Meyer) von den ANC-Vertretern elegant über ebendiesen Tisch gezogen wurden (das Spiel hieß doch nicht Poker, sondern Fingerhakeln), daß aber andererseits die überlieferte autoritäre Struktur der Nationalen Partei den Erfolg der Verhandlungen garantierte, solange der Führer De Klerk das Ergebnis deckte. Bitter vermerken die Verfasser (spricht hier Slabbert?) S.57: "...Um es direkt zu sagen, die reichen Weißafrikaner verkauften die ärmeren Weißafrikaner, weil sie mehr Zutrauen empfanden, sie könnten in dem "neuen Südafrika" entweder überleben oder es verlassen..." Und warum dämpfte der ANC die revolutionären Erwartungen vieler seiner Anhänger? Weil ihm der Rückhalt der Sowjetunion weggebrochen war. Beides wird vermutlich durch spätere Archivforschung bestätigt werden. Das ganze war eine "Verschwörung der Eliten" (S.61).

Anschließend wird ähnlich nüchtern über die Wahl von 1994 reflektiert. Die Autoren machen Front gegen die These, diese Wahl sei eher eine "Volkszählung nach Rassen" gewesen; vielleicht erscheint deshalb der Politologe Herman Giliomee, in einer Rezension der südafrikanischen Ausgabe des Buches in den KAS-Auslandsinformationen im Dezember 1998 als Ko-Autor genannt, einer der markantesten Vertreter dieser These, in der mir vorliegenden Ausgabe nicht mehr unter den Verfassern. Daß offensichtlich 1994 (und 1999 erneut) "...wenige Weiße ...für den ANC stimmten und wenige Schwarzafrikaner für die Nationale Partei..." (S.79), wird stattdessen primär auf reale, von den Wählern rational erfaßte Klassen-Interessen der "verarmten Mehrheit" auf der einen, der neuen "multirassischen Mittelklasse" auf der anderen zurückgeführt; das sei der "...normale Kern von Parteipolitik in jeder Demokratie", und somit ist der Leser eingestimmt, die Frage des anschließenden Kapitels - "Ist Südafrika eine liberale Demokratie?" vorab mit Ja zu beantworten.

Die Autoren urteilen verhalten. Sie benennen präzise Gefahren für die Tragfähigkeit, die Akzeptanz, die Praxis freiheitlicher Demokratie: nicht nur die Alltags-Kriminalität, die massenhafte Enttäuschung über ausbleibende "Wohltaten" der Regierung (delivery, sagt man in Südafrika), nicht nur die haushohe Übermacht des ANC, die in den Wahlen 1999 noch verstärkt wurde. Darüber reden alle. Im Gegenteil, spekulieren unsere Autoren, gerade die Gewißheit, auf absehbare Zeit bei freien Wahlen an der Macht bestätigt zu werden, erlaubt der ANC-Führung, die Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Richter und andere Grundrechte zu respektieren. Sie weisen jedoch mit gerunzelter Stirn auf einen anderen Verfassungs-Paragraphen hin, den mancher Europäer auf den ersten Blick ganz prächtig finden wird : ein Parlamentarier, der die Partei wechselt, muß sein Mandat niederlegen. Ist das nicht in Ordnung, zumal bei Verhältniswahlrecht? Es stärkt natürlich die Macht der Parteizentralen; "...sehr viel beunruhigender als schwacher Wettbewerb zwischen den Parteien sind die autokratischen Tendenzen innerhalb der Parteien...", meinen unsere Autoren S.86, und sie meinen nicht nur den ANC. Andererseits scheuen sie sich nicht (S.89) zu schreiben: "...Die Kultur der Kritik und öffentlichen Widerspruchs war im Apartheid-Staat niemals total zum Schweigen gebracht. Er war kein totalitäres System..." - und das stütze jetzt die Ausweitung demokratischer Praxis auf das ganze Volk. Wiederum andererseits (S.91): "Die Regierung schafft es kaum, Steuern einzuziehen... Sollten die 12 Prozent Weiße, die die meisten Steuern bezahlen, ihre Leistungen aus Protest zurückhalten, wäre unklar, wie die Regierung dem Gesetz Geltung verschaffen könnte, nachdem sie vor den Boykott-Gebräuchen der Mehrheit kapituliert hat..." So wenden die Autoren eine Anzahl Probleme immer wieder hin und her. Der Leser gerät mit seinem Urteil ins Schwanken. Das soll er wohl auch. Das entspricht der südafrikanischen Realität.

In einem eigenen Kapitel, dessen Überschrift wieder einmal mit einem Fragezeichen schließt - What about the Zulus? (S.126-139) - gewinnen wir tiefere Einblicke in die Motive und Stimmungen nicht nur Mangosuthu Buthelezis, sondern aller "Traditionalisten" des schwarzen Südafrika weit über die Zulu-Partikular-Nation hinaus - bessere Einblicke, als sie das Gros insbesondere der deutschen Südafrika-Literatur verschafft. Nicht, daß die Inkatha Freedom Party (IFP) oder der Föderalismus glorifiziert würden! Aber es stimmt : "...Wenige Journalisten oder liberale Akademiker machen sich die Mühe, die Ansichten der Leute in den Dörfern, der Migranten und Squatter zu erkunden, von denen man denkt, daß sie durch eine populäre gebildete Elite angemessen repräsentiert werden..." (S.134).

Die Regierung in Pretoria balanciert notgedrungen zwischen mächtigen Verbänden, die in den alten Zeiten wurzeln. Das gilt auch für die von der Kommunistischen Partei geführten Gewerkschaften, die einen oft heftig in Opposition zur amtlich verordneten Marktwirtschaft schlagenden Flügel der ANC-Allianz bilden. Es gilt selbstredend auf der anderen Seite der Barrikade für das international verflochtene "weiße" Big Business sowie für die Bürokratie, die ohne ihre weißafrikanischen Technokraten zusammenbräche. Dieser Zustand rückt Südafrika in der Sicht der Autoren in die Nähe eines Korporatismus (S.140-159), den wir aus der europäischen Geschichte der 1930er Jahre in schlechter Erinnerung haben und der jedenfalls einer Demokratie abträglich ist. Aber was sollte Mandel, was soll Mbeki machen? "...Die historische Rolle des ANC ist eine doppelte, die arme Mehrheit zu repräsentieren und sie zu kontrollieren. Politische Stabilität und Wirtschaftsbeziehungen sind nicht durch Weiße bedroht, sondern durch verarmte schwarze Massen, deren Los sich vermutlich nicht dramatisch bessern wird. Ethnische Minderheiten unterminieren weder den Staat noch die Hegemonie des ANC, auch wenn sie mehrheitlich für Oppositionsparteien stimmen. Unzufriedene Schwarze stellen dagegen eine tödliche Gefahr nicht nur für die Herrschaft des ANC dar, sondern besonders für die Interessen der Minderheiten. Deshalb kann nur ein glaubwürdiger ANC die Herausforderung bewältigen..." (S.157) Dem fügen die Verfasser zum Abschluß ihres Buches nichts wesentliches mehr hinzu. Dem ist nicht hinzuzufügen.

Franz Ansprenger
Berlin

 


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