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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/1999

Rupert F.J.Pritzl:
Korruption und Rent-Seeking in Lateinamerika.
Zur Politischen Ökonomie autoritärer politischer Systeme
Baden-Baden 1997
Nomos Verlagsgesellschaft, 318 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Für viele Lateinamerikaner ist die Korruption ihr Leben lang gegenwärtig, da sie weder die Geburtsurkunde noch die amtliche Bescheinigung des Todes ohne zusätzliche Zahlungen an die zuständigen Bürokraten erhalten. Allzu häufig lassen sich Staatsdiener erst durch Schmiergelder dazu bewegen, ihres Amtes zu walten. Dieses Handlungsmuster - staatliche Leistungen nur gegen Aufpreis - läßt sich zur individuellen Vorteilsnahme ebenso ausnutzen wie für kriminelle Zwecke, indem gegebenenfalls auch für staatliches Nichthandeln ein Preis bezahlt wird.

Gewiß ist Korruption kein exklusives Merkmal lateinamerikanischer Gesellschaften, jedoch sind deren korrupte Züge besonders erkennbar ausgeprägt. Personell überbesetzte Bürokratien, ineffiziente Verwaltungsverfahren mit vielfältigen administrativen Ermessensspielräumen sowie fehlende Transparenz und öffentliche Kontrolle haben den Staatssektor in vielen lateinamerikanischen Ländern während der zurückliegenden Dekaden besonders korruptionsanfällig werden lassen. Wer nach den Gründen für diese Entwicklung fragt, findet in dem hier besprochenen Buch von Rupert F. J. Pritzl Antworten, die durch ihre solide wirtschafts- und politikwissenschaftliche Fundierung überzeugen. Die hervorragende Analyse ist als Dissertation an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg entstanden, aber ihre Lektüre ist auch für ökonomisch nicht einschlägig ausgebildete Leser gut verständlich; denn der Autor hat auf "Ökonomesisch" als ausgrenzendem Soziolekt weitestgehend verzichtet und es verstanden, seine Argumentationen logisch konsistent abzuleiten, ohne hierfür auf den bei Ökonomen als vermeintlichem Qualitätsnachweis beliebten mathematischen Formalismus zurückgreifen zu müssen.

Indem Pritzl die Korruption aus der Sichtweise und mit dem Instrumentarium der Neuen Institutionenökonomik analysiert, leistet er einen innovative Beitrag für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Korruption, in der bislang vor allem politikwissenschaftliche und soziologische Betrachtungsweisen vorherrschend waren. Ebenso wie die neoklassische Wirtschaftstheorie geht auch die Neue Institutionenökonomik davon aus, gesellschaftliches Verhalten durch die Annahme eines Eigennutzkalküls der Akteure - seien es Unternehmer, Politiker oder Bürokraten - erklären zu können. Gesamtgesellschaftliche Phänomene lassen sich so auf einzelwirtschaftliches Verhalten zurückführen. Das Streben nach individueller Nutzenmaximierung bei ökonomisch-zweckrationalem Verhalten unterliegt jedoch durch die Property Rights Beschränkungen, d.h. durch die rechtlich, sittlich oder institutionell sanktionierten Handlungsrechte, die sowohl für Individuen als auch für den Staat und seine Repräsentanten gelten. Mit diesem Property-Rights-Ansatz wird es möglich, das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlichen Institutionen und individuellen Verhaltensweisen darzulegen: das Verhalten der Individuen wird nach Art, Umfang und Intensität in erheblichem Maße als von den institutionellen Bedingungen und den von ihnen ausgehenden Anreiz- und Sanktionswirkungen (mit-)bestimmt verstanden (S.33). Ein solches institutionelles Arrangement von (positiven und negativen) Regeln ist freilich nicht umsonst zu haben, sondern es verursacht Transaktionskosten, d.h. Kosten der Bereitstellung und Betreibung eines Systems von Regeln. Die Höhe der Transaktionskosten hat nicht nur Bedeutung bei der Entstehung der Regeln, sondern auch Einfluß auf die (wirtschaftlichen) Handlungen der Individuen innerhalb bestehender Regelsysteme. Mit dem Transaktionskosten-Ansatz hat Pritzl sein drittes Analyse-Instrument bereit.

Das vierte Analyse-Instrument wird aus der ökonomischen Vertretungstheorie abgeleitet, die das Verhalten zweier Akteure analysiert - Vertretener (Prinzipal) und Vertreter (Agent), die beide versuchen, ihren individuellen Nutzen unter Beachtung bestimmter Nebenbedingungen zu erhöhen. Das Prinzipal-Agent-Modell erweitert Pritzl und überträgt es auf die gesellschaftliche Ebene, indem er auf einer ersten Ebene das Volk als Prinzipal betrachtet und die Politiker als Agenten, die auf einer zweiten Ebene aber zugleich als Prinzipale agieren, und zwar gegenüber den staatlichen Bürokraten als ihren Agenten, die dem Volk als Klienten Leistungen zu erbringen haben. Da die Agenten in einem öffentlichen Amt eine weitgehende Monopolstellung innehaben und zudem über das hoheitliche und legale Gewaltmonopol verfügen, können öffentliche Amtsträger tendenziell versuchen, Einnahmen aus einer mißbräuchlichen Handhabung ihrer Monopolmacht zu maximieren, unter der Nebenbedingung, daß das Risiko der Aufdeckung korrupter Handlungen gering ist.

Mit dem Rent-Seeking-Ansatz - dem fünften Analyse-Instrument - beschreibt Pritzl, wie Interessengruppen im politisch-bürokratischen Prozeß auf die Veränderung der Property Rights Einfluß zu nehmen versuchen, die ihnen ökonomische Vorteile verschaffen; vor allem durch staatliche Eingriffe und Regulierungen werden privilegierte und staatlich geschützte "Renten" geschaffen, d.h. direkte oder indirekte Zahlungen an (Rechts-)Inhaber ökonomischer Ressourcen, die höher sind als die Einkommen, die ohne staatliche Eingriffe erzielt werden könnten. Die in vielen Ländern Lateinamerikas über mehrere Dekaden praktizierte staatsinterventionistische Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung habe umfangreiche Möglichkeiten geschaffen, im politischen Prozeß Einfluß auf die Property Rights zu nehmen; als einen Unterfall von allgemeinem Rent-Seeking-Verhalten läßt sich die Korruption verstehen.

Auf den 19 Seiten des 2. Kapitels zeigt Pritzl, daß er das neuere Instrumentarium ökonomischer Analyse theoretisch beherrscht; daß er es überzeugend auch einzusetzen vermag - zudem in einem interdisziplinären Kontext - und damit bemerkenswerte empirisch gehaltvolle Aussagen gewinnt, belegen die Kapitel 4 - 6 der Arbeit. Zuvor legt Pritzl fest, was er unter öffentlicher Korruption verstanden wissen will (3. Kapitel) und er erläutert die seiner Ansicht nach charakteristischen Merkmale der politischen Kultur und der politischen Systeme der Länder Lateinamerikas (4. Kapitel). Drei konstituierende Merkmale öffentlicher Bestechung werden genannt: der Bestochene ist Träger eines öffentlichen Amtes, die Bestechung erfolgt vorwiegend zum persönlichen Nutzen des Bestochenen und der bestochene Amtsträger mißbraucht seine Amtsgewalt. Als charakteristisches Merkmal Lateinamerikas nennt Pritzl die "institutionelle Pfadabhängigkeit" der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Region, die gleichsam die Prädisposition des individuellen Verhaltens bilde, und die vor allem in den personalistischen und autoritären Herrschaftsformen zum Ausdruck komme; außerdem zeigt er auf, daß Korruption insbesondere in einem Umfeld gesellschaftlicher Instabilität (Regime- und Politikinstabilität) entsteht; und schließlich wird auf die Bedeutung lateinamerikatypischer Gruppen hingewiesen, die zur Durchsetzung ihrer Interessen strategisch handeln, und zwar nicht nur, um ökonomisch lukrative Positionen im Staat zu erzielen, sondern die darüber hinaus auch eine normative Absicherung und Legitimierung ihres Einkommenserzielungsstrebens in der Öffentlichkeit anzielen.

Unter der Überschrift "Ein individuelles wahltheoretisches Entscheidungskalkül über das Vornehmen einer korrupten Handlung - die Korruption in einzelwirtschaftlicher Perspektive" kommt Pritzl im 5. Kapitel zu dem mikroökonomischen Kernstück seiner Analyse, die er anschließend im 6.Kapital mit der Einordnung korrupten Verhaltens als Unterfall eines Rent-Seeking-Verhaltens makroökonomisch absichert. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt ein rationales Entscheidungskalkül dar, demzufolge es immer dann zu korruptem Verhalten kommt, wenn aus der Sicht der Beteiligten die mit der Bestechung verbundenen Vorteile die möglichen Nachteile überwiegen. Die Determinanten des Entscheidungskalküls sind die Bestechungsleistung, die Bestechungsgegenleistung, die Mißerfolgswahrscheinlichkeit, die Strafkosten, die Transaktionskosten, die Opportunitätskosten sowie die moralischen Kosten. Pritzl beschränkt sich nicht darauf, die funktionalen Zusammenhänge zwischen den Korruptions-Determinanten modelltheoretisch zu formalisieren, sondern er versucht auch, die empirische Bedeutung der einzelnen Determinanten im lateinamerikanischen Kontext zu belegen.

Dieser lateinamerikanischen Kontext wird im 6.Kapitel einer politökonomischen Analyse unterworfen, die zeigt, daß zur Stabilisierung autoritärer politischer Systeme und zur Herrschaftslegitimierung in solchen Systemen eine primär an der Umverteilung orientierte Wirtschaftspolitik konstituierend sei. Diese redistributive Wirtschaftspolitik führe jedoch zu einem systemischen Rent-Seeking-Verhalten bei einzelnen Personen und Interessengruppen, die sich dabei auch der öffentlichen Korruption als eines illegalen und dynamischen Rent-Seeking bedienen. Pritzl macht deutlich, daß systemisches Rent-Seeking-Verhalten und öffentliche Korruption für die Faktorallokation und das wirtschaftliche Wachstum Fehlanreize ausüben und zu einer stark konzentrierten Einkommensverteilung führen. Mit diesen klar und überzeugend herausgearbeiteten Befunden läßt sich zumindest für Lateinamerika die in der früheren (häufig modernisierungstheoretisch inspirierten) Literatur zum Thema Korruption verschiedentlich vertretene Auffassung nicht mehr aufrechterhalten, daß die Vorteile der Bestechlichkeit deren Nachteile überwögen.

Pritzl bietet dem Leser in dem zweiteiligen Schlußkapitel seiner Untersuchung auch Überlegungen an, wie durch Veränderungen des institutionellen Umfeldes der Teufelskreis der Korruption in Lateinamerika durchbrochen werden könne. Die neu zu schaffenden Regeln müssen langfristig und auf Dauer angelegt sein, sie müssen allgemein formuliert sein und sich daher auf abstrakte Regeln gesellschaftlicher Prozesse richten, aber nicht auf spezielle Ergebnisse. Nur wenn das gesellschaftliche Umfeld so umgestaltet werde, daß es den Interessen aller Bürger entspräche, könne der für Lateinamerika konstatierte Konflikt zwischen individueller und kollektiver Rationalität überwunden werden. Realistischerweise sieht Pritzl allerdings auch die Schwierigkeiten bei dem (zeitaufwendigen) Versuch, einen gesellschaftlichen Grundkonsens herauszubilden. Dabei müsse schließlich auch beachten werden, daß jede Veränderung des Status quo zumindest kurzfristig auch wieder neue Möglichkeiten der Korruption und des Rent-Seeking schaffe.

Das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit bietet vielfältige Hinweise auf weiterführende und/oder vertiefende Lektüren zu den verschiedensten Aspekte, die Pritzl in seiner Untersuchung berücksichtigt hat. Erstaunlicherweise fehlt in dieser Bibliographie George J. Stigler, Nobelpreisträger des Jahres 1982, der mit seiner "Theorie der staatlichen Regulierung" bereits Anfang der siebziger Jahre auf den frappanten Widerspruch zwischen den erklärten Zielen und den tatsächlichen Wirkungen staatlicher Markteingriffe hingewiesen hat; das Hauptmerkmal dieser Eingriffe bestehe darin, einer eng begrenzten Gruppe zu nützen, aber die Kosten einem nur diffus markierten Bevölkerungsteil aufzubürden. Verfügt die Interessengruppe über die notwendigen Ressourcen zur Beeinflussung der politischen Parteien und verteilen sich die Kosten der Begünstigung auf möglichst unüberschaubare Weise auf weite Bevölkerungskreise, dann können politische Parteien risikolos Sondervorteile an ihre Klienten "verkaufen".

Stigler zufolge erreicht der Wirtschaftswissenschaftler, der in der Politik etwas zum Guten wenden möchte, nichts, wenn er politischer Berater wird; er sei nämlich nicht wissender oder klüger als die Politiker, und er habe auch keine tieferen Einsichten als diese. Erreichen könne der Wirtschaftswissenschaftler nur dann etwas, wenn er bloßlege, wie auf vielfältige Weise unter Berufung auf hehre Ziele mit wirtschaftspolitischen Eingriffen höchst handfeste materielle Sonderinteressen bedient werden. Dieser Aufforderung Stiglers zu fundierter Aufklärung ist Pritzl mit seiner Untersuchung "Korruption und Rent-Seeking in Lateinamerika" durchaus gerecht geworden - selbst wenn er Stigler nicht gelesen haben sollte. Pritzls Arbeit ist ein ausgezeichnet gelungener Versuch, das Korruptionsverhalten in Lateinamerika als Rent-Seeking zu verstehen und damit zugleich auch Bedingungen für eine erfolgreiche Bekämpfung von Korruption und deren negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung aufzuzeigen. Mit seiner Dissertation hat Pritzl einen Beitrag geleistet, der über den engen Kreis der Fachökonomen hinaus das Verständnis für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in Lateinamerika in besonderer Weise fördert. Kenner der lateinamerikanischen Situation werden allerdings als Schwäche der Arbeit die mangelnde Differenzierung zwischen den autoritären Regimen Lateinamerikas monieren, und sie können zu Recht fragen, warum der Autor nicht auf die in den letzten Jahren immer stärker werdende zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen in der Region eingegangen ist, die einen bedeutsamen Beitrag zur Herstellung von mehr Transparenz in der staatlichen Verwaltung leisten - und damit auch einen Beitrag zur Bekämpfung von Korruption.

Hartmut Sangmeister
Universität Heidelberg


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