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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/1999

Johannes Müller:
Entwicklungspolitik als globale Herausforderung. Methodische und ethische Grundlegung
Stuttgart, Berlin, Köln 1997
W. Kohlhammer, 208 S.

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Johannes Müller hat ein - im Wortsinn - merkwürdiges Buch geschrieben. Er beschäftigt sich darin aus sehr unterschiedlichen Zugängen mit den Bedingungen von und Erfordernissen für Entwicklungspolitik und unternimmt den Versuch, eine von politischen Konstellationen unabhängige - gleichwohl diese nicht mißachtende - ethische Grundlegung von Entwicklungshilfe, die er sehr strikt von Entwicklungszusammenarbeit trennt, zu leisten. Man versteht die Anlage und den Gedankengang des Buches besser, wenn man sich, ganz den methodischen Anmerkungen des Autors verpflichtet, zu Beginn einige biographische Fakten vergegenwärtigt: Johannes Müller unterrichtet Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik an der Hochschule für Philosophie in München und hin und wieder auch in Indonesien; er ist zudem Theologe und Jesuit; und er hat mehr als zehn Jahre in Indonesien gelebt, erhebt in seinem Buch auch immer wieder den Anspruch des eigenen humanen Mit-Lebens der abstrakt diskutierten Probleme. Über Armut und Hunger nachzudenken, kann seiner Einschätzung folgend durch eigenes Fasten und die daraus resultierende Bewußtseins- und Wahrnehmungsermöglichung begleitet, wenn nicht gefördert werden. Aus dieser Biographie entstand ein Buch, das ebenso erklären und unterrichten wie Orientierung vermitteln möchte, das ebenso an rational wie an theologisch und anthropologisch zu diskutierenden Fragen interessiert ist, und das auf einen empathisch geführten, im Mit-Leid des Einzelnen begründeten inter-kulturellen Dialog angelegt ist.

Auch formal ist es ein merkwürdiges Buch. Die thematische Spannweite ist enorm, die Form hingegen streng und diszipliniert. Das ganze Buch ist durchnumeriert, kapitelweise, unterkapitelweise, abschnittweise, und man gewinnt den Eindruck, hier einen Autor zu entdecken, der eine wirklich nachvollziehbare Ordnung auf seiner Festplatte hat. So steht man am Ende doppelt staunend da: angesichts der Breite der angesprochenen Themen und angesichts der strengen Ordnung, in der diese aufbereitet werden. Auch wenn dies Buch anfänglich eher an ein Gutachten erinnert, es liest sich, so man sich auf diesen Stil einläßt, wirklich spannend. Dabei ist es einerseits von einer gedankliche Tiefe, die auf begriffliche Schnörkel verzichten kann und abseits der gerade modernen Diktion formuliert, und gleichzeitig von einer - im besten Sinne - Einfachheit geprägt. Und es ist gerade in den Bereichen besonders überzeugend, auf deren Widersprüche es sich einläßt.

Immer wieder werden inhaltliche und methodische Fragen gekreuzt, fällt der Autor in einer Darstellung auf die grundsätzlichen epistemologischen und methodologischen Probleme zurück, um an ihnen seinen zweigleisigen Standpunkt aufzubauen. Zweigleisig nicht im Sinn einer widersprüchlichen oder gar opportunistischen Argumentation, sondern in der Verzahnung von wissenschaftlicher und parteilicher Darstellung, in der synchronen Darlegung seiner aus der Sicht der Armen (und nicht allein der Armut) gleichwohl auf Intersubjektivität angelegten Studie. Armut - und die aus ihr entstehenden Probleme - ist für ihn die entscheidende entwicklungspolitische Herausforderung, und an ihrer Überwindung hat sich alles Engagement und aller Erfolg zu messen. Entsprechend beginnt er seine Überlegungen mit Problematisierungen unterschiedlicher Armuts-Begriffe und Armuts-Messungen. Er weist auf die Nutzbarkeit quantitativer Methoden hin, begrenzt sie jedoch sofort, und diskutiert die unterschiedlichen Indikatoren: Kaufkraftparität, Bruttosozialprodukt, Einkommensverteilung. Das Ergebnis lautet: es sind nur ungenügende Zahlen vorhanden und was immer gemessen wird, es wird nur sehr grob gemessen. Aber auch die groben Messungen reichen aus, um die enorme Nord-Süd-Kluft festzustellen, der sich Müller in seinem zweiten Kapitel zuwendet.

Beginnend mit der Kolonialisierung und dem nach ihrem Ende einsetzenden Entwicklungsoptimismus schildert der Autor die Entwicklungsdekaden anhand ihrer vorstechenden Kennzeichen: der Ausbildung eines Bewußtseins der entwicklungspolitischen Herausforderung, der aus der Wirtschaftskrise resultierenden Orientierung der siebziger Jahre an ökonomischen Reformen, der (auch agrarischen) Industrialisierungs-, später der Grundbedürfnisstrategien und dem Konflikt um eine Neue Weltwirtschaftsordnung, der Schuldenkrise und den verlorenen 80er Jahren. Die Darstellung ist weitgehend konventionell und staatenzentriert, knapp und manchmal auch verkürzend. Und sie ist eigentümlich unentschlossen: es entsteht das Gefühl, der Autor wollte an eine Klassenanalyse heranreichen, schrecke aber gleichzeitig vor ihr zurück. Diese Unentschlossenheit wird auch im weiteren Verlauf der Studie an der einen oder anderen Stelle wieder sichtbar, wenn vom Kartell der Wohlstandsländer, dem Zentrum-Peripherie-Gefälle und der Kumpanei zwischen Eliten der Industrie- und denen der Entwicklungsländer die Rede ist. Und da Müller auch die sozialen Probleme in den Industrieländern einbezieht, verwundert es fast ein wenig, daß er nicht konsequent einen (unverdächtiger formuliert) schicht-spezifischen Ansatz wählt. Er tut es nicht, er bleibt in seiner historischen Darstellung staatenfixiert und in seiner ethischen Grundlegung auf Individuen und Kollektive ausgerichtet.

Es gibt einen zweiten, verwandten Bruch in der Analyse, der nicht zwischen Staat und Klasse verläuft, sondern zwischen machtpolitischen Realitäten und zivilgesellschaftlichen Optionen. Wahrscheinlich ist dies eben gar kein zweiter Bruch der Analyse, sondern lediglich eine Konsequenz der ersten Unentschlossenheit, die sich dann in neue Gewänder kleidet. So teilt er einerseits die nach dem Ost-West-Konflikt entstandene politische Welt in Industrieländer, Schwerpunktländer und den abgekoppelten Rest ein, spricht andererseits aber von einem wachsenden Gewicht internationaler Zivilgesellschaft, die Bewußtsein für ein gemeinsames Handeln entwickele. Es kann hier (vorerst) außen vor bleiben, wie man von einer auf der Zentrum-Peripherie-Dichotomie basierenden Klassenanalyse zur internationalen Zivilgesellschaft gelangt, der Autor scheint diesen Sprung zu beherrschen, der nach seiner anthropologischen und auch theologischen Grundlegung im Mit-Leid wurzelt, und daraus - das Wortspiel liegt nahe - radikal wird. (Allerdings läßt sich auf diese Weise nicht erklären, wozu Müller am Ende seines Textes gelangt, daß nämlich die angeblich schwachen Staaten der Dritten Welt nur nach außen schwach seien, nach innen in Verteidigung der Privilegien der Staatsklasse aber stark seien. (S.155-157))

Seine These, wonach der Nord-Süd-Konflikt "kein internationaler Klassenkampf, sondern ein Verteilungskonflikt zwischen den herrschenden Eliten und den von ihnen abhängigen Wohlstandsschichten ist" (S.40) kann man am weiteren Text überprüfen. Darin thematisiert Müller zunächst die wirtschaftliche, politische und sozio-kulturelle Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom industrialisierten Norden. Materialismus, Konsumismus und Liberalismus werden hierbei gleichermaßen kritisiert. Es sind die Wegmarken des westlichen Systems, das Müller als nicht-universalisierbar darstellt. Lebten alle Menschen wie diejenigen in den OECD-Staaten, wären die Grenzen der Welt rasch ausgemacht. "Nachholende Entwicklung" ist deshalb auch kein sinnvolles Ziel für Entwicklungspolitik (detailliert S.88f).

Gleichwohl hat diese - hier kommt die Interdependenz ins Spiel, die Probleme suchen sich ihren Weg in die Wohlstandszonen - mit einem weltweiten Verteilungskampf (S.50) zu tun. Migration, Chaos-Macht, Terrorismus sind die Stichworte für dieses Szenario.

Im anschließenden Kapitel skizziert Müller eine Reihe von Entwicklungstheorien. Mehr als Skizzen ergeben die knappen Kapitel nicht, aber es sind gute Übersichten über das entwicklungspolitische Denken, das er in Theorien "naturbedingter" Unterentwicklung, demographisch-ökonomische Theorien (binnen- und außenwirtschaftliche), soziologische und sozialpsychologische Modernisierungstheorien, sowie Dependenztheorien unterscheidet. Auf dem knappen Raum können allerdings weder die zeit- noch sozialgebundene Verhaftetheit der entwicklungspolitischen Theorien ausreichend dargelegt werden. Aber im anschließenden kritischen Abschnitt gelingt es Müller, entscheidende Punkte zu fixieren. Seine zentrale These ist, daß die großen Theorien (an deren Ende er gleichwohl nicht glaubt) widerlegt scheinen, weil sie umfassend und pauschal zu erklären versuchten, was eben nicht generell erklärt werden kann. Müller weist auf Differenzierungsprozesse hin, verwirft neoliberale Überheblichkeit und postmoderne Beliebigkeit und plädiert für theoretische Bescheidenheit.

Die sich nun anschließenden Passagen sind gedrängt, luzide, überzeugend: die großen Theorien begehen die gleichen Fehler, ihnen haften die gleichen Mängel an. Sie brechen an ihrer Sucht zur Generalisierung, die allzu oft auf nur sehr dürftigen empirischen Forschungen ruhen und die chronische und histroische Dynamik nicht berücksichtigen. En detail verwirft er Theorien, die generalisierte Kausalketten entwerfen oder gar zur zirkulären Erklärung greifen, wogegen er besonders die sequentielle Dynamik historischer Prozesse betont.

Was ist Entwicklung? Mit dieser Frage beginnt Müller die Darstellung seiner Ethik und verwirft, elegant und kenntnisreich eine Reihe ökonomischer, politischer und kultureller Definitionen, es ist eben nicht Wohlstand, Selbstbestimmung oder Ressourcennutzung. Dann aber folgt, man hat sich inzwischen an seinen Stil gewöhnt, ein Grundkurs zu Sozialisation, Akkulturation und Individualisierung, werden die Ambivalenzen der Tradition ebenso rekapituliert wie die Ambivalenzen der Moderne, werden Universalismus, Positivismus und Historismus rezipiert, Adornos negativ-dialektische Vermittlung bemüht, um zur These zu gelangen, daß alle Entwicklungspolitik die Überwindung und Begrenzung menschlichen Leids zum Ziel haben müsse.

Die nun folgenden Ausführungen zu Mit-Leid als anthropologischer und theologischer Kategorie bleiben hier ausgespart. Nur zwei Aspekte sollen aufgegriffen werden: erstens wird durch die Globalisierung, von der Müller eigentlich keinen Begriff hat, alles nur viel komplizierter, näher, unmittelbarer; und zweitens wird erst durch sozietale Partizipation, die Müller multidimensional überzeugend begründet, aus Entwicklungspolitik Entwicklung.

Die daran anschließende Integration sozio-kultureller Überlegungen in die Konzeption von Entwicklungspolitik ist überzeugend und bleibt für die restlichen Seiten sein Credo. Kultur, Mentalität, Sozialität und die daraus entstehenden Institutionen in ihrer für neue Entwicklungen offenen Pfadgebundenheit stehen im Zentrum seiner Überlegungen. Die sozio-kulturellen Bedingungen vergleicht er in einem schönen Bild mit einem komplexen Prisma: das Licht aus westlichen Blick-Winkeln wird in ihm gebrochen. Werden die sozio-kulturellen Bedingungen nicht berücksichtigt, sind für ihn entwicklungspolitische Ziele nicht zu realisieren.

Noch einmal: es ist ein in seiner Strenge und Vitalität, in seiner Themenbreite und Darstellung merkwürdiges Buch. Aber es ist auch für diejenigen, die Müllers anthropologisch-ethische Grundlegung nicht nachvollziehen wollen, ein lesenswertes Buch. Es kann sich zwischen einem Klassen- bzw. Staatenstandpunkt nicht entscheiden und man muß vor- und zurücklesen, um die daraus resultierende Verwicklung festzustellen. Vor allem aber bleibt es trotz des immensen Wissens, das es beherbergt, eine Antwort schuldig: was denn entwicklungspolitisch geschieht oder geschehen sollte, wenn es eben nicht zu einer armenorientierten Hilft kommt, sondern die wem auch immer zuzuordnenden partikularen Interessen eigennützig bleiben. Nur in einem Nebensatz heißt es einmal, daß Not- und Katastrophenhilfe sinnvoll sei. Würde sich "Entwicklungshilfe" dann darauf reduzieren? Und was würde diese Perspektive bedeuten, für den Norden und für den Süden?

Thomas Jäger
Universität Marburg


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