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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/1999
HEINRICH KREFT
Der eskalierende Konflikt in Südasien

Vorläufige Fassung / Preliminary version

Am 11. Mai 1998 schockte Indien die Weltöffentlichkeit mit der Explosion von drei nuklearen Sprengsätzen - zwei Tage später folgten zwei weitere Nukleartests. Die indische Regierung erklärte das Land ausdrücklich zum Kernwaffenstaat und zur Weltmacht mit einem Anspruch auf eine ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Pakistan, das ebenfalls bereits seit langem zu den "nuklearen Schwellenländern" gezählt wurde, reagierte auf diese Provokationen mit scharfen Protesten und eigenen Vorbereitungen für Nuklearversuche. Am 28. Mai zündete Pakistan seinerseits fünf Kernsprengsätze und zwei Tage später einen weiteren. Die pakistanische Regierung verkündete, dadurch mit Indien gleichgezogen zu haben.

Indien hatte die Vorbereitungen für seine Atomtests erfolgreich vor den amerikanischen Aufklärungssatelliten geheimhalten können, so daß der Zeitpunkt der Versuche überraschte, nicht jedoch die Entscheidung selbst. Der Entscheidungsprozeß für eine offene Nuklearisierung vor Ablauf der Ratifizierungsfrist des Teststoppabkommens (CTBT, Comprehensive Test Ban Treaty) dürfte bereits Mitte 1995 eingesetzt haben. Der Regierungsantritt der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Vajpayee, die seit langem die offene Nuklearisierung gefordert hatte, beschleunigte diesen Prozeß.

Durch die offene Nuklearisierung hat sich die Sicherheitslage in Südasien fundamental geändert. Es besteht die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens. Das Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs zwischen Indien und Pakistan wird als größer erachtet als zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Krieges. Während letztere nie in einem direkten militärischen Konflikt miteinander verwickelt waren, haben Indien und Pakistan in den gut 50 Jahren ihrer Unabhängigkeit nicht weniger als drei Kriege gegeneinander geführt und bis heute vergeht kaum ein Tag, an dem es im von beiden Seiten beanspruchten Kaschmir nicht zu Schußwechseln und Artilleriegefechten zwischen beiden Parteien kommt.

Das regionale Konfliktpotential und seine Ursachen

Die Rivalität zwischen Indien und Pakistan, die die bilateralen, regionalen und internationalen Beziehungen in Südasien prägt, geht auf die Teilung Britisch-Indiens 1947 zurück. Brennpunkt des Konfliktes ist seither die ungeklärte Frage der Zugehörigkeit Kaschmirs. Im Kern geht es um das friedliche Zusammenleben von Hindus und Moslems auf dem indischen Subkontinent. Gegen die Befürworter der Einheit mit Gandhi und Nehru an der Spitze, konnte sich der Führer der Moslemliga Jinnah mit seiner sogenannten "Zwei-Nationen-Theorie" durchsetzen. Die Teilung, die zur Umsiedlung von über 10 Millionen Menschen unter unvorstellbaren Greueln führte, wurde zum Trauma für beide (heute drei) Staaten. Trotz der Umsiedlung leben in Indien heute neben 810 Millionen Hindus auch 120 Millionen Moslems, fast soviel wie in Pakistan (135 Millionen) und gleich viel wie in Bangladesch.

Kaschmir - Symbol des Selbstverständnisses beider Staaten

Um dem mehrheitlich von Moslems bevölkerten und formal unter einem Hindu-König unabhängigen Kaschmir kam es nur wenige Wochen nach der Unabhängigkeit zum ersten indisch-pakistanischen Krieg, der 1948 durch Vermittlung der Vereinten Nationen (VN) mit der Teilung endete. Seit dieser Zeit ist die Zugehörigkeit des indischen Teils von Kaschmir immer wieder Anlaß für politische und militärische Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern. Ein von den VN gefordertes und von Nehru ursprünglich zugesagtes sowie von Pakistan immer wieder angemahntes Referendum über die endgültige Zugehörigkeit Kaschmirs wird von Indien abgelehnt. (Indien hat Kaschmir bereits in den 50er Jahren zu einem Bundesstaat der Indischen Union gemacht.) Statt dessen besteht Indien auf bilateralen Verhandlungen, wie mit Pakistan im Friedensabkommen von Simla (1972) nach dem für Indien siegreichen dritten indo-pakistanischen Krieg vereinbart.

Für Pakistan steht in Kaschmir die eigene Staatsidee, nämlich das Recht auf Selbstbestimmung und Zusammengehörigkeit aller Muslime Südasiens, auf dem Spiel. Für Indien ist Kaschmir der einzige Bundesstaat mit muslimischer Mehrheit und damit ein Beleg für den pluralistischen Charakter und die Integrationskraft der Indischen Union. Seine Abtrennung könnte zudem separatistischen Ambitionen anderer Volksgemeinschaften Auftrieb geben.

Die Betonung der Religion durch Pakistan stellt die Idee Indiens als eines säkularen Staates grundsätzlich in Frage. Die Betonung des Säkularismus und des Pluralismus - wie in der indischen Verfassung - untergräbt wiederum die religiöse Legitimation Pakistans. Beide Vorstellungen stehen sich unversöhnlich gegenüber, da sie die Zersplitterung bzw. die Absorption des jeweils anderen Staates implizieren.

Der Kaschmirkonflikt trug auch dazu bei, daß sich die Frontstellung des Kalten Krieges nach Südasien übertrug: Pakistan lehnte sich an die USA an. Indien wahrte zwar seine außenpolitische Unabhängigkeit, wandte sich aber nach dem indisch-chinesischen Krieg 1962 der UdSSR zu. China trat danach an die Seite Pakistans.

Indiens Anspruch auf Großmachtstatus und Führungsrolle in Südasien

Während der ersten vier Dekaden nach der Unabhängigkeit war Indiens Außenpolitik durch sein Engagement in der Bewegung der Blockfreien und die starke Bindung an die Sowjetunion geprägt. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Untergang der Sowjetunion ist Indien bemüht, seinen internationalen Standort neu zu bestimmen. Zunächst standen dabei die Öffnung gegenüber dem Westen und ein Ausbau der Beziehungen mit den Staaten Süd- und Südostasiens im Vordergrund. So wurde Indien im Juli 1996 Dialogpartner von ASEAN und Teilnehmer am "ASEAN Regional Forum" (ARF). Gleichzeitig "entdeckte" Indien die "South Asian Association of Regional Cooperation" (SAARC) als ein Instrument verbesserter regionaler Zusammenarbeit, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet.

Indien ist eine funktionierende, aber gleichwohl unsichere Demokratie mit Eigenschaften einer zu spät gekommenen Großmacht: laut in ihren Ansprüchen, leicht verletzbar und groß in Symbolik, die die eigene Unabhängigkeit demonstrieren soll. Vergleichsmaßstab ist China, das von Indien Mitte des nächsten Jahrhunderts als bevölkerungsreichste Nation abgelöst werden dürfte. Im Gegensatz zu Indien ist China anerkannte Atommacht, ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat und ein vom Westen heftig umworbener, wirtschaftlicher und politischer Partner. In den Augen vieler Inder läßt sich der "Status-Vorsprung" Chinas letztlich auf die chinesische Nuklearwaffe zurückführen. Vor allem angesichts dieser Konkurrenz zu China sah Indien in dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen den inakzeptablen Versuch, die globale Zwei-Klassen-Gesellschaft zu zementieren.

Pakistan kämpft seit der Unabhängigkeit um seine innenpolitische und staatsrechtliche Konsolidierung. Allein dreimal übernahm das Militär die Macht, das auch heute noch trotz seines Rückzugs in die Kasernen im Jahre 1988 über erheblichen Einfluß verfügt. Seit seiner Gründung sieht sich Pakistan vor allem durch Indien, aber auch im Westen durch Afghanistan (Paschtunistan-Frage, Durand-Linie) bedroht. Auch wirtschaftlich droht Pakistan immer mehr gegenüber Indien ins Hintertreffen zu geraten. Erzielte Pakistan in den letzten fünf Jahren ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 4 Prozent, lag das indische Wachstum mit über 6,5 Prozent deutlich darüber.

Indiens Anspruch auf eine regionale Führungsrolle in Südasien wurde von Pakistan nie akzeptiert. Angesichts der Übermacht Indiens suchte Pakistan immer wieder die Hilfe von Großmächten (USA, China) oder internationalen Organisationen. Die damit verbundene Internationalisierung regionaler Konflikte (insbesondere Kaschmir) wurde von Indien wiederum als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit betrachtet und verschärfte die bestehenden Konflikte.

Bei der Diskussion über die Reform des VN-Sicherheitsrats neutralisieren sich beide Staaten gegenseitig. Während Indien einen eigenen ständigen Sitz anstrebt und sich als alleiniger asiatischer Kandidat versteht, ist Pakistan zu jeder Lösung bereit, die keine Schlechterstellung gegenüber Indien bedeutet. Für Indien ist in einem reformierten Sicherheitsrat nur die vollständige Gleichberechtigung mit China akzeptabel.

Bedrohungsperzeption Indiens und Pakistans

Aus dieser Konstellation ergibt sich das Bedrohungsgefühl Indiens und Pakistans, das immer als Rechtfertigung für den Ausbau des Militärs diente. In Pakistan gibt es nur ein Feindbild: Indien - vor allem wegen seiner Haltung in der Kaschmirfrage. Während der 80er Jahre kam durch die sowjetische Besetzung Afghanistans vorübergehend eine weitere Bedrohung hinzu. In Indien werden zwei Bedrohungsebenen unterschieden: Auf bilateraler Ebene gibt es den Konflikt mit Pakistan. Im größeren regionalen Rahmen gilt China als weitaus größere Bedrohung, insbesondere seit der traumatischen Niederlage im Himalaya-Krieg von 1962. Die atomare Aufrüstung Indiens ist eine direkte Reaktion auf das chinesische Nuklearpotential, soll aber auch den Anspruch Indiens auf eine weltpolitische Rolle untermauern. In der Vergangenheit wurden auch die extra-regionalen Mächte im Indischen Ozean vor allem die USA mit ihrem Flottenstützpunkt Diego Garcia - als Bedrohung der indischen Sicherheit empfunden und dienten als Rechtfertigung für den Ausbau der indischen Marine.

Die Einbeziehung Chinas verkompliziert die Sicherheitslage in Südasien erheblich. Dadurch entsteht ein offenes Sicherheits- bzw. Bedrohungsdreieck zwischen China, Indien und Pakistan. Während Indien sich in erster Linie von China bedroht sieht und Pakistan als sekundäre Bedrohung betrachtet, fühlt sich Pakistan ausschließlich von Indien bedroht, steht aber selbst in einer strategischen Partnerschaft mit China, mit dem es auch nuklear- und raketentechnologisch zusammenarbeitet. Destabilisierend wirkt vor allem die Tatsache, daß diese offene Dreiecksbeziehung aus zwei Ungleichgewichten besteht. Indien ist China unterlegen und Pakistan Indien. Beim jeweils Unterlegenen ist die Versuchung groß, nuklear und ballistisch aufzurüsten, allerdings dürfte dadurch kein stabilisierendes Abschreckungsgleichgewicht zu erreichen sein.

Der Rüstungswettlauf zwischen Indien und Pakistan

Die indische Armee ist mit 1,2 Millionen Soldaten (zusätzlich zahlreiche Sondereinheiten) die viertgrößte der Welt. Ihre Bedeutung ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen (zunehmender Einsatz bei innenpolitischen Konflikten), doch hat sie seit der Staatsgründung den zivilen Regierungen immer loyal gegenübergestanden. Im Gegensatz dazu spielt die Armee in Pakistan (580.000 Soldaten plus Sondereinheiten) innenpolitisch eine sehr viel aktivere Rolle. Die Phasen direkter militärischer Herrschaft (1958-69 und 1977-88) haben die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Landes nachhaltig geprägt. Die Armee, die sich als Hüterin der nationalen Einheit versteht, gehört auch im heutigen demokratischen Pakistan zu den wichtigsten innenpolitischen Akteuren. Lagen die Verteidigungslasten beider Länder bis 1970 bei ca. 3-4 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP), stiegen die Lasten Pakistans seitdem erheblich an. 1994/95 betrugen sie 7,1 % des BIP, gegenüber 2,44% Indiens. Während Indien sich um den Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie bemühte, setzte Pakistan stärker auf Waffenimporte, vornehmlich aus USA und China. Die Dynamik des Rüstungswettlaufs war in beiden Ländern immer eng mit bilateralen und internationalen Krisen verbunden.

Ein Vergleich der Streitkräfte zeigt auf allen Ebenen ein deutliches qualitatives und quantitatives Übergewicht Indiens. Angesichts dieser Überlegenheit Indiens verwundert es nicht, daß sich Pakistan ab Mitte der 70er Jahre um Nuklearwaffen bemühte. Die Niederlage gegen Indien 1971, die Abspaltung Bangladeschs, die zugleich die Zwei-Nationen-Theorie als Staatsgrundlage nachhaltig erschütterte, die von Pakistan als demütigend empfundenen Vertragsbedingungen im anschließenden Friedensvertrag von Simla, sowie die offiziellen Ankündigungen Indiens Anfang der 70er Jahre, ein eigenes nukleares Forschungsprogramm aufzulegen, gaben hierbei den Ausschlag.

Nach dem indisch-chinesischen Krieg von 1962 und der chinesischen Kernexplosion von 1964 sah sich Indien einer atomaren Bedrohung ausgesetzt. Das daraufhin begonnene Atomprogramm führte 1974 zum ersten "zivil" deklarierten Atomtest. Indien stellte diese Atomexplosion in keinen militärischen Kontext und leitete daraus auch keine Ansprüche auf den Status eines Kernwaffenstaats ab. In der Folge stellten bzw. schränkten Kanada und die USA ihre kerntechnologische Zusammenarbeit mit Indien ein. Indien dürfte heute über 20 bis 30 einfache Plutoniumkernwaffen verfügen. Der geschätzte Bestand an waffengrädigem Plutonium dürfte ausreichen, um daraus ca. 40 bis 50 atomare Sprengköpfe herzustellen. Mit seinen Kampfflugzeugen kann Indien das gesamte pakistanische Gebiet atomar bedrohen. Die indischen Kurzstreckenraketen Prithvi eignen sich aufgrund ihrer begrenzten Reichweite (150-250 km) nicht als Nuklearwaffenträger. Die Mittelstreckenrakete Agni ist noch nicht bei den Streitkräften eingeführt. Es ist damit zu rechnen, daß Indien sich jetzt schwerpunktmäßig auf die Entwicklung nuklearer Sprengköpfe und deren Kompatibilität mit Trägersystemen konzentriert. Die Nuklearisierung der Sicherheitspolitik ist seit längerem Bestandteil des Grundsatzprogramms der regierenden national-hinduistischen BJP. Das Nuklearprogramm wird kaum in Frage gestellt, zu sehr gilt es als Symbol nationaler Größe und Souveränität.

Pakistan nahm 1965 einen ersten Forschungsreaktor mit US-Hilfe in Betrieb, seit 1972 produziert das bislang einzige Kernkraftwerk Energie. Bereits 1965 erklärte der damalige Außenminister Bhutto, einer indischen eine eigene Atombombe entgegenzusetzen. Nachdem sich Pakistan bereits nach seiner Niederlage gegen Indien in 1971 bemüht hatte, die indische Überlegenheit durch die Entwicklung von Nuklearwaffen zu kompensieren, wurden diese Bemühungen nach dem indischen Atomtest von 1974 erheblich ausgeweitet. Über den Weg der Urananreicherung erreichte Pakistan in der zweiten Hälfte der 80er Jahre sein Ziel. Seit Beginn der 90er Jahre dürfte Pakistan jährlich hochangereichertes Uran für drei bis vier Sprengköpfe produzieren. Vor allem durch die enge rüstungstechnische Kooperation mit China sollen die Baupläne für nukleare Sprengkörper nach Pakistan gekommen sein. Pakistan verfügte vor den Tests nach Schätzungen über 10 bis 20 einfache Urankernwaffen, die mit speziell umgebauten F-16-Flugzeugen transportiert werden können. Die gegenwärtigen pakistanischen Kernwaffenmuster dürften sich nicht für eine Verbringung mit der in der Entwicklung befindlichen Mittelstreckenrakete Ghauri sowie den chinesischen M-11-Raketen eignen. Pakistan arbeitet an der Entwicklung von Plutoniumkernwaffen, die sich für Raketen als Nuklearwaffenträger besser eignen. Es hat im Frühjahr eine eigene Plutoniumproduktion aufgenommen.

Indien dürfte gegenüber Pakistan sowohl beim Kernwaffenbau als auch bei der Entwicklung nuklearer Gefechtskörper über einen deutlichen Vorsprung verfügen.

Auch in Pakistan findet das Nuklearprogramm - trotz der hohen Kosten - die Zustimmung einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung. Während es in Indien eine kritische öffentliche Meinung gibt, besteht sie in Pakistan allenfalls in Ansätzen und ist stärkerer Repression ausgesetzt. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in beiden Ländern und ihre internationale Abhängigkeit werden einer populistischen Instrumentalisierung der Nuklearpolitik allerdings Grenzen setzen, insbesondere in Pakistan.

Folgen der offenen Nuklearisierung

Gefahr eines Atomkriegs

Die Grenze zwischen Indien und Pakistan ist gegenwärtig eine der konfliktträchtigsten Regionen der Welt. Zwei der drei indo-pakistanischen Kriege und mehrere andere Krisen sind durch Aufständische in Kaschmir (1947/48, 1990), bzw. durch innenpolitische Turbulenzen (1971 Sezession Ostpakistans, 1987 Sikh-Unruhen in Punjab) ausgelöst worden. Weder die politische Führung in Islamabad noch in Delhi wollten den Konflikt, doch beide waren unfähig, die Krisen zu managen. Die inakzeptabel hohen menschlichen und materiellen Verluste eines Nuklearkrieges werden zwar voraussichtlich die politischen Führungen in beiden Ländern bis zu einem gewissen Grad disziplinieren und damit langfristig konfliktdämpfend wirken, kaum jedoch die Faktoren beeinflussen, die in der Vergangenheit wiederholt Krisen ausgelöst haben. Derartige Krisen können nunmehr nuklear eskalieren. Damit war allerdings schon vor den jüngsten Tests zu rechnen. Da sich die Atompotentiale noch im Aufbau befinden, wächst die Versuchung, die gegnerischen Entwicklungen durch einen präventiven Erstschlag auszuschalten.

Gegen die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation spricht allerdings, daß Nuklearwaffen sich am wenigsten für einen Einsatz in einem Grenzkonflikt eignen: Die geographischen, klimatischen und demographischen Bedingungen bringen es mit sich, daß jeder Nukleareinsatz auf dem Subkontinent nicht ohne gravierendste Folgen für denjenigen bliebe, der diesen Einsatz durchführt.

Die Geschichte des Ost-West-Konflikts zeigt, daß es eines langwierigen und komplexen Lernprozesses bedarf, um mit der "Bombe" leben zu lernen. Zum Aufbau eines stabilen Abschreckungssystems müssen entsprechende Verfahren, Verhaltensmuster und Institutionen entwickelt werden. Dazu gehören u.a. eine entsprechende Militärdoktrin, Rüstungskontrollmaßnahmen, vertrauensbildende Maßnahmen, Vorwarnsysteme und "Heiße Drähte". Es bedarf in beiden Ländern noch erheblicher Aufklärungsarbeit, um die realistischen Folgen eines nuklearen Schlagabtausches in den Köpfen der betroffenen Eliten und - schwieriger noch - der breiten Bevölkerung zu verankern.

Die Voraussetzungen für ein stabiles Abschreckungssystem sind in Südasien (noch) nicht gegeben. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre und zuletzt 1990 befand sich die Region bereits mindestens zweimal am Rande eines Atomkrieges. Das Risiko eines Nuklearkrieges "by accident" ist groß. Weder Indien noch Pakistan sind auf den Umgang mit Nuklearwaffen und ihren Risiken bisher vorbereitet. Südasien ist heute weltweit - vor der koreanischen Halbinsel - die Region, wo die Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen am größten erscheint.

Im Gegensatz zum Ost-West-Konflikt handelt es sich in Südasien allerdings nicht um einen bipolaren Antagonismus, sondern um ein tripolares System, das sehr viel schwieriger zu stabilisieren ist.

Indiens Beziehungen zu China sind durch die Tests vom Mai 1998 nachhaltig gestört worden. Seit Mitte der achtziger Jahre war es zu einer deutlichen Annäherung der beiden Länder gekommen: Abkommen über Handelsaustausch, Einigung über konkurrierende Einflußbereiche (Tibet, Nepal) bis hin zu einem Grenzabkommen (1993) und Abkommen zur Truppenreduzierung entlang der gemeinsamen Grenze (1996). Symbolhaft für diese Annäherung waren der Besuch Rajiv Gandhis in Peking 1988 und der Gegenbesuch Jinag Zemins in Dehli 1996. Andererseits hielt Peking an der Kooperation mit Pakistan fest und verunsicherte seinen südlichen Nachbarn durch den Versuch, über Myanmar (Birma) zum Indischen Ozean vorzustoßen. Die Umsetzung der 1996 und 1997 vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen zur Stabilisierung der militärischen Lange entlang der Kontrollinie im Himalaya dürfte schwieriger geworden sein. Auch das Risiko militärischer Zusammenstöße in dieser Region sowie im Golf von Bengalen dürfte wieder gestiegen sein. Insgesamt bedeutet die offene Nuklearisierung Indiens keine direkte militärische Herausforderung Chinas, das Indien gegenüber sowohl konventionell als auch nuklear weit überlegen bleibt. Peking dürfte sich aber gezwungen sehen, den ganz auf Ostasien gerichteten Fokus seiner Außenpolitik zumindest teilweise nach Südasien zu wenden, wo ihm mit Indien ein sowohl weltanschaulicher als auch strategischer Konkurrent erwächst, der selbst seinen Einfluß nach Südostasien auszudehnen sucht.

Für die Stabilität und Sicherheit in Südasien ist es wichtig, wie stark sich China insbesondere in einer sich zuspitzenden Konfliktsituation (z.B. um Kaschmir) auf die Seite Pakistans stellt. Peking wird auch nicht bereit sein, sein eigenes Nuklearpotential in mögliche regionale Abrüstungsvereinbarungen für Südasien einzubringen. Indien hingegen dürfte versuchen, ein parteiisches China, das zudem sein Nuklearpotential nicht zur Disposition stellt, von möglichen Vereinbarungen über eine südasiatische Sicherheitsordnung fernzuhalten.

Einbindung Indiens und Pakistans in das Regime der nuklearen Nichtverbreitung

Die Nukleartests Indiens und Pakistans wurden weltweit scharf verurteilt. Viele Regierungen fürchteten ein Ende oder zumindest eine nachhaltige Beschädigung der erfolgreichen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik der vergangenen Jahre. Nach dem Treffen der Außenminister der fünf Kernwaffenstaaten (P 5) in Genf am 4. Juni 1998 hat der VN-Sicherheitsrat bereits am 6. Juni in einer einstimmig verabschiedeten Resolution die Nukleartests verurteilt und beide Staaten aufgefordert, einen Dialog über alle bilateralen Streitfragen, einschließlich Kaschmirs, aufzunehmen. Dieser Antrag war verbunden mit der Bekräftigung des Nichtverbreitungs-Regimes und des Teststoppabkommens.

In den USA saß der Schock besonders tief wegen der ausgebliebenen nachrichtendienstlichen Vorwarnung, aber auch wegen der bereits eingeleiteten Aufwertung der amerikanischen Indienpolitik, die im geplanten Besuch von Präsident Clinton Ende 1998 kulminieren sollte. Ein vom Kongreß mit Blick auf die Nuklearrüstung in Südasien entwickeltes System mandatorischer Sanktionen ließ der US-Regierung wenig Spielraum für diplomatische Manöver. Damit ist mit den Nukleartests quasi automatisch ein ganzes Sanktionspaket in Kraft getreten - was Indien und Pakistan seit Jahren bekannt war.

Doch schon bald wurden Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Sanktionen laut, da die Tests trotz ihrer Androhung stattgefunden hatten, die Bereitschaft anderer Staaten, dem US-Beispiel zu folgen, gering war und die USA sich ihren diplomatischen Spielraum selbst eingeengt hatten. Darüber hinaus stieg die Befürchtung, daß ein durch die Sanktionen in den Staatsbankrott getriebenes Pakistan, Nuklear- und Raketentechnologie und -know-how an Dritte verkaufen könnte.

Es wurde daher bald erklärtes Ziel, Indien und Pakistan nicht zu isolieren, sondern einzubinden. Zu diesem Meinungsumschwung haben die Erklärungen Indiens und Pakistans beigetragen, an den Verträgen zur Nichtverbreitung und nuklearen Rüstungskontrolle teilnehmen zu wollen.

Zu den gemeinsamen Zielen der fünf Kernwaffenstaaten und der EU gegenüber Indien und Pakistan gehören der Verzicht auf weitere Nukleartests, die bedingungslose Unterzeichnung und Ratifikation des Teststoppabkommens, die Einstellung der Produktion spaltbaren Materials, die Nicht-Stationierung von Trägerraketen, der Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen, zumindest jedoch auf die Einführung von Kernwaffen bei den Streitkräften sowie die Vereinbarung von Verifikationsmaßnahmen zur Überwachung eingegangener Verpflichtungen. Der Verlauf der seit Juli 1998 stattfindenden amerikanisch-indischen Regierungsgespräche läßt hoffen, daß Indien tatsächlich mit seiner Verweigerungspolitik der Vergangenheit bricht.

Die politische Aufgabe: Sicherheit auch ohne Konfliktlösung

Angesichts der komplexen Konstellation aus nationalen, regionalen und internationalen Konflikten dürfte Südasien eine der gefährlichsten internationalen Krisenregionen des 21. Jahrhunderts sein. Hindu-Nationalisten in Indien und islamisch-nationalistische Parteien und Armee in Pakistan dürften auch in Zukunft kaum Zugeständnisse in der Kaschmirfrage zulassen. Auch die starke Unabhängigkeitsbewegung in Kaschmir erleichtert die Lösung nicht, da ein unabhängiges Kaschmir den Kern beider Staatsideologien treffen würde und somit für beide unannehmbar ist. Die Konfliktlösungsvorschläge der beiden Seiten schließen sich gegenseitig aus: Indien beharrt auf einer strikten bilateralen Lösung, während Pakistan die Frage mit Hilfe internationaler Organisationen oder anderer Staaten lösen möchte.

Da der Konflikt eines der zentralen innen- und außenpolitischen Konfliktfelder in beiden Ländern ist, dient er zugleich immer wieder zur Rechtfertigung weiterer Aufrüstung. Deshalb sind die Perspektiven für eine Eindämmung des konventionellen und nuklearen Rüstungswettlaufs in Südasien nicht günstig. Die Entwicklung der nuklearen Fähigkeiten von Indien und Pakistan haben eine Eigendynamik, die von außen nur sehr schwer zu beeinflussen ist. Da die Aufrüstungsprogramme dem Sicherheitsbedürfnis beider Seiten und dem Statusdenken Indiens entsprechen, kann der Rüstungswettlauf nur gestoppt oder zumindest abgebremst werden, wenn es gelingt, die Sicherheitslage in Südasien zu verbessern. Dieses dürfte aber allenfalls langfristig zu erreichen sein.

Trotz zahlreicher Begegnungen der Regierungschefs (zwischen 1980 und 1992 allein 22) konnte bislang nur eine Vereinbarung bezüglich der Nuklearprogramme erreicht werden. 1988 unterzeichneten Rajiv Gandhi und Benazir Bhutto einen Vertrag, in dem beide im Konfliktfall darauf verzichten, die Nuklearanlagen des Gegners anzugreifen. 1992 tauschten beide Länder Listen ihrer Anlagen aus. Fraglich bleibt, wie stark eine solche Vereinbarung im Konfliktfall tatsächlich wirkt.

Da der status quo ante nicht wiederherzustellen ist, ist es nunmehr dringend erforderlich, daß Indien und Pakistan - unabhängig vom kurzfristig unlösbaren Kaschmir-Konflikt - ihre bisher nur schwach ausgeprägten Fähigkeiten zum Krisenmanagement verbessern. Dazu sind bilaterale indisch-pakistanische Verhandlungen über

  • Vertrauensbildende Maßnahmen,
  • Errichtung eines funktionierenden "heißen Drahts",
  • Aufbau verläßlicher Kommando- und Kontrollstrukturen,
  • Vorkehrungen gegen versehentliche Raketenstarts,
  • eine den regionalen Gegebenheiten angepaßte rationale Nukleardoktrin auf beiden Seiten

unabdingbar. Die Übertragung der Erfahrungen aus der amerikanisch-sowjetischen Zusammenarbeit trotz fortbestehendem Antagonismus während des Kalten Krieges ist nur sehr eingeschränkt möglich: sie sollte aber genau daraufhin analysiert werden, welche Erkenntnisse sich eventuell modifiziert auf das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan übertragen lassen.

Angesichts der regionalen Konflikte in Südasien und des Trends zur Dezentralisierung internationaler Sicherheitssysteme seit dem Ende des Kalten Krieges erscheint ein regionales Sicherheitssystem in Südasien in hohem Maße wünschenswert. Dieses könnte externe Mächte miteinschließen, wie dies im Regional Forum der Association for South East Asian Nations (ASEAN-ARF) geschieht. Hierbei könnte unter Umständen auf der 1985 gegründeten South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) aufgebaut werden, deren Bilanz jedoch bisher ernüchternd ist. Die Gründung der SAARC war von Bangladesch initiiert worden, um Indien in ein Forum einzubinden, in dem es sich mit allen Nachbarn an einen Tisch setzen muß. Die informellen Gespräche der Staats- und Regierungschefs bei den SAARC-Gipfeltreffen sind dennoch zumindest wichtige vertrauensbildende Maßnahmen.

Mitte Oktober trafen sich die Staatssekretäre für auswärtige Angelegenheiten Indiens und Pakistans in Islamabad, um über den Kaschmir-Konflikt und die Sicherheitslage nach der offenen Nuklearisierung zu reden. Es gab erwartungsgemäß keine konkreten Ergebnisse, beide Seiten unterstrichen aber ihr Engagement für eine Verringerung der Konfliktrisiken durch Vertrauensbildung. Im Februar 1999 soll die nächste Gesprächsrunde in New Delhi stattfinden. Nach diesem Treffen gab es erstmals ein Telefongespräch zwischen dem indischen Ministerpräsidenten Atal Behari Vajpayee mit seinem indischen Amtskollegen Nawaz Sharif. Wichtigstes Gesprächsthema war die Vertrauensbildung und der Aufbau einer Sicherheitsarchitektur für Südasien.

Der Weg zu einer solchen für alle Staaten des indischen Subkontinents akzeptablen Sicherheitsarchitektur wird ohne jeden Zweifel lang und beschwerlich sein. Es ist jedoch ermutigend, daß die Bereitschaft wächst, ihn ernsthaft zu beschreiten. Dieses Projekt verdient und bedarf jeder möglichen internationalen Unterstützung.


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