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International Politics and Society 1/2002

 

 
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Die Entwicklung in der islamischen Welt und die westliche Ignoranz

Achim Vogt*

Der Präsident warnt vor einem neuen „Kreuzzug“; nichts, warnen ihrerseits die Intellektuellen, werde im Nahen Osten mehr so sein wie bisher. Der Westen, so die Propaganda des Gegners, habe jeden Lösungsversuch in der Palästinafrage blockiert, schütze mit seiner gewaltigen Streitmacht letztlich nur den Familienbesitz der Ölscheichs und lasse Araber und Muslime immer wieder mit empörender Arroganz seine unerreichbare Überlegenheit spüren.

Doch es ist nicht Amerikas Präsident Bush junior, der da warnt, sondern der Diktator des Irak, Saddam Hussein. Es ist auch nicht das Video Ossama Ben Ladens, sondern die Propaganda-Maschinerie des Regimes am Euphrat, die die Muslime der Welt auf ihre Seite ziehen will. Und wir schreiben nicht das Jahr 2001, sondern die Jahreswende 1990/91. Die Situation, die der Politikwissenschaftler Friedemann Büttner seinerzeit in seinem Aufsatz so treffend beschrieben hat,[1] betraf den zweiten Golfkrieg und ähnelt auf fatale Weise den Bildern, die seit dem 11. September die öffentliche Meinung im Westen, aber auch in der islamischen Welt beeinflussen.

Die Parallelen führen unweigerlich zu der Frage, ob am Ende nicht doch alles ist wie zuvor, ob die Welt nicht erneut an just jenem Scheideweg angekommen ist, an dem sie vor elf Jahren schon einmal zu stehen meinte. Doch das déjà-vu-Gefühl erschöpft sich an der Oberfläche und verstellt den Blick für tiefgreifende Veränderungen der islamischen Welt im Inneren wie in ihrem Verhältnis zum Westen.

Das Monopol von CNN, seinerzeit verkörpert durch Peter Arnett in Bagdad, ist demjenigen von Al Jazeera gewichen – und die muslimische Öffentlichkeit bemerkte Anfang Oktober befremdet, dass ausgerechnet die USA als Hüter des Rechtes auf freie Meinungsäußerung die Zähmung des Senders forderten. CNN verstand die Bedeutung von Al Jazeera ganz anders: Der Platzhirsch unter den Nachrichtensendern schloss einen Exklusivvertrag mit den Newcomern vom Golf, um dessen Bilder aus Kabul übernehmen zu können. Und wenige Tage später gab Großbritanniens Premier Blair dem Sender ein Interview.

Das Jahrzehnt, in dem die bisherige Weltordnung zusammenbrach und die USA sich als letzte verbleibende Supermacht etablierten, hat gleichzeitig die groben Umrisse einer neuen Ordnung im Medienbereich gezeitigt, die den bisher auf die unbestrittene Vormacht ihres PR-Arsenals vertrauenden USA offenbar weitgehend verborgen geblieben sind und sie nun überraschen. Ganz anders als 1990 stehen heute Satellitenschüsseln auf den meisten Hausdächern zwischen Marrakesch und Maskat und arabisches Satellitenfernsehen erreicht die Haushalte ebenso wie CNN, TV 5 oder die BBC. Nicht nur bieten arabische Sender andere Perspektiven, sondern der direkte Zugang zu Bildern beeinflusst die Perzeption amerikanischer bzw. westlicher Medien in der Region, die zumeist als extrem einseitig gesehen werden. Die konstruierten und in den ersten Tagen ständig wiederholten Bilder einer kleinen, die Anschläge feiernden Gruppe von Palästinensern sind im Nahen Osten mit erheblicher Verärgerung aufgenommen worden. Gerade vor diesem Hintergrund war der Ausfall der Bush-Administration gegenüber Al Jazeera ein Fiasko. Ausgerechnet der 1996 gegründete Sender, der sich am stärksten von den starren und unkritischen Berichten der arabischen Staatssender unterscheidet, der auch im Westen für seine kritische und unabhängige Berichterstattung gelobt und nur selten für mangelnde Professionalität getadelt worden war und der als einziger arabischer Sender regelmäßig israelische Politiker zu Wort kommen lässt, geriet ins Fadenkreuz einer PR-mäßig ins Rutschen gekommenen US-Regierung.

Die Anweisung von Bürgermeister Rudolph Giuliani, keine Bilder der New Yorker Opfer zu zeigen, ist aus amerikanischer Perspektive vielleicht verständlich, in der islamischen Welt wird dagegen immer wieder die Frage gestellt, warum andere Gewaltopfer, so in Palästina, gezeigt werden dürfen, die amerikanischen Opfer jedoch nicht. Im Westen ist nie wirklich verstanden worden, dass sich die – in den arabischen Fernsehstationen monatelang gezeigten – Bilder des von israelischen Soldaten erschossenen 12-Jährigen Jungen Mohammed Ad Durrah zu Beginn der Intifada al Aqsa ähnlich in das kollektive Bewusstsein der Region eingegraben haben wie im Westen der Angriff auf das World Trade Center.

Es waren die Bilder der verzweifelt aus den Fenstern winkenden und sich in die Tiefe stürzenden Menschen, die auch in der islamischen Welt zu Entsetzen und Mitleid geführt haben. Diese Bilder aber sind, im Gegensatz zu Europa, im amerikanischen Fernsehen – von wenigen heftig kritisierten Ausnahmen abgesehen – nicht gezeigt worden. Womöglich, sagen beispielsweise arabische Intellektuelle, hätte die auf individuelles Leid emotional stärker reagierende islamische Welt die Trauer und den Schock des Westens besser verstanden, wenn sie die Opfer gesehen hätte. Dagegen blieb der für die Wahrnehmung im Westen so symbolträchtige – und deshalb dort ebenfalls unentwegt wiederholte – Einsturz der Zwillingstürme in seiner Wirkung in der islamischen Welt begrenzt.

Das Unverständnis über die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite wurde auch an einem anderen Phänomen deutlich: Die absurde Konspirationsthese, der Mossad sei für die Anschläge in den USA verantwortlich, war letztlich nichts als der Versuch vieler Muslime, die Fassungslosigkeit über ein im Namen des Islam verübtes ungeheures Verbrechen zu kompensieren und sich von ihm zu distanzieren.

Schon früher hat der Westen Signale aus der islamischen Welt nicht erkannt: So wurde ihm nicht bewusst, dass dort quasi als Nebeneffekt der Kriege in Bosnien und Kosovo die Sympathie für den Westen wuchs, der sich anscheinend mitten in Europa auf die Seite von bedrohten Muslimen stellte. Diese positive Stimmung verflog jedoch schon ein Jahr später nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern und dem Ausbruch der Intifada Al Aqsa. Insbesondere der Rückzug Bushs aus der aktiven Vermittlerrolle gleich zu Beginn seiner Amtszeit hat zu großer Verbitterung in der arabischen Welt geführt. Nur so ist zu verstehen, warum Ben Laden mit seinem ersten Video eine solche Wirkung erzielte. Auch hier ist die Parallele zum Golfkrieg unverkennbar, in dem Saddam Hussein den Palästina-Konflikt für seine Propaganda nutzte: Seinerzeit dauerte die erste Intifada bereits seit drei Jahren an.

Trotz der beschriebenen negativen Vorzeichen könnte der langfristige Effekt des derzeitigen Konfliktes und mehr noch der Anschläge selbst ganz anders sein, als Ossama Ben Laden dies geplant hat. Die amerikanisch-britischen Luftschläge gegen Afghanistan haben einerseits stärker als bei früheren Konflikten zu einer gewissen Solidarisierung von Muslimen über die arabische Kernregion hinaus beigetragen. Andererseits jedoch wurde nach dem Schock des 11. September die längst überfällige inner-muslimische Diskussion über das Wesen islamischer Gesellschaften verstärkt, die – im Westen wiederum weitgehend unbemerkt – schon vor einigen Jahren begonnen hat.

Der Soziologe und Islamismus-Experte Gilles Kepel hat zwar bereits vor längerer Zeit den Niedergang des militanten Islamismus verkündet,[2] bezog sich dabei jedoch lediglich auf dessen Unfähigkeit zur Ergreifung der Macht. Er übersah, dass die Woge islamistischen Terrors des vergangenen Jahrzehnts zugleich das Tabu, den Islam zum Thema eines intellektuellen und damit letztlich politischen Diskurses zu machen, allmählich aufgeweicht hat. Es ist nicht auszuschließen, dass die „neue Dimension des Terrors“ zugleich den Niedergang des politisch-militanten Islam weiter beschleunigen wird. Die Entmystifizierung des Islam als politischen Heilsbringers, die der Iran, aber auch Algerien bereits durchlitten haben, könnte sich im Zuge der zunehmend kritischen Selbstreflexion weiter fortsetzen.


[1] Büttner, Friedemann: „Im Schatten des ‚Achten Kreuzzuges’: Die Araber und der Westen nach dem Golfkrieg“, in: Lüders, Michael (Hg.): Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der Arabischen Welt, Serie Piper aktuell, München, 1992.

[2] Kepel, Gilles: Jihad: Expansion et Déclin de l'Islamisme, Gallimard, Paris, 2000 ; vgl. zuletzt Die Zeit, 11. Oktober 2001.

Achim Vogt

*1960; Politologe; Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko, Rabat; fes@fes.org.ma


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