Der Präsident warnt
vor einem neuen „Kreuzzug“; nichts, warnen ihrerseits die Intellektuellen,
werde im Nahen Osten mehr so sein wie bisher. Der Westen, so die Propaganda
des Gegners, habe jeden Lösungsversuch in der Palästinafrage blockiert,
schütze mit seiner gewaltigen Streitmacht letztlich nur den Familienbesitz
der Ölscheichs und lasse Araber und Muslime immer wieder mit empörender
Arroganz seine unerreichbare Überlegenheit spüren.
Doch es ist nicht Amerikas Präsident Bush
junior, der da warnt, sondern der Diktator des Irak, Saddam Hussein.
Es ist auch nicht das Video Ossama Ben Ladens, sondern die Propaganda-Maschinerie
des Regimes am Euphrat, die die Muslime der Welt auf ihre Seite ziehen
will. Und wir schreiben nicht das Jahr 2001, sondern die Jahreswende
1990/91. Die Situation, die der Politikwissenschaftler Friedemann
Büttner seinerzeit in seinem Aufsatz so treffend beschrieben hat,
betraf den zweiten Golfkrieg und ähnelt auf fatale Weise den Bildern,
die seit dem 11. September die öffentliche Meinung im Westen, aber
auch in der islamischen Welt beeinflussen.
Die Parallelen führen unweigerlich zu
der Frage, ob am Ende nicht doch alles ist wie zuvor, ob die Welt
nicht erneut an just jenem Scheideweg angekommen ist, an dem sie vor
elf Jahren schon einmal zu stehen meinte. Doch das déjà-vu-Gefühl
erschöpft sich an der Oberfläche und verstellt den Blick für tiefgreifende
Veränderungen der islamischen Welt im Inneren wie in ihrem Verhältnis
zum Westen.
Das Monopol von CNN, seinerzeit verkörpert durch Peter Arnett in Bagdad, ist demjenigen
von Al Jazeera gewichen – und die muslimische Öffentlichkeit bemerkte
Anfang Oktober befremdet, dass ausgerechnet die USA als Hüter des
Rechtes auf freie Meinungsäußerung die Zähmung des Senders forderten.
CNN verstand die Bedeutung von Al Jazeera ganz anders: Der Platzhirsch
unter den Nachrichtensendern schloss einen Exklusivvertrag mit den
Newcomern vom Golf, um dessen Bilder aus Kabul übernehmen zu können.
Und wenige Tage später gab Großbritanniens Premier Blair dem
Sender ein Interview.
Das Jahrzehnt, in dem die bisherige Weltordnung
zusammenbrach und die USA sich als letzte verbleibende Supermacht
etablierten, hat gleichzeitig die groben Umrisse einer neuen Ordnung
im Medienbereich gezeitigt, die den bisher auf die unbestrittene Vormacht
ihres PR-Arsenals vertrauenden USA offenbar weitgehend verborgen geblieben
sind und sie nun überraschen. Ganz anders als 1990 stehen heute Satellitenschüsseln
auf den meisten Hausdächern zwischen Marrakesch und Maskat und arabisches
Satellitenfernsehen erreicht die Haushalte ebenso wie CNN, TV 5 oder
die BBC. Nicht nur bieten arabische Sender andere Perspektiven, sondern
der direkte Zugang zu Bildern beeinflusst die Perzeption amerikanischer
bzw. westlicher Medien in der Region, die zumeist als extrem einseitig
gesehen werden. Die konstruierten und in den ersten Tagen ständig
wiederholten Bilder einer kleinen, die Anschläge feiernden Gruppe
von Palästinensern sind im Nahen Osten mit erheblicher Verärgerung
aufgenommen worden. Gerade vor diesem Hintergrund war der Ausfall
der Bush-Administration gegenüber Al Jazeera ein Fiasko. Ausgerechnet
der 1996 gegründete Sender, der sich am stärksten von den starren
und unkritischen Berichten der arabischen Staatssender unterscheidet,
der auch im Westen für seine kritische und unabhängige Berichterstattung
gelobt und nur selten für mangelnde Professionalität getadelt worden
war und der als einziger arabischer Sender regelmäßig israelische
Politiker zu Wort kommen lässt, geriet ins Fadenkreuz einer PR-mäßig
ins Rutschen gekommenen US-Regierung.
Die Anweisung von Bürgermeister Rudolph Giuliani, keine Bilder der
New Yorker Opfer zu zeigen, ist aus amerikanischer Perspektive vielleicht
verständlich, in der islamischen Welt wird dagegen immer wieder die
Frage gestellt, warum andere Gewaltopfer, so in Palästina, gezeigt
werden dürfen, die amerikanischen Opfer jedoch nicht. Im Westen ist
nie wirklich verstanden worden, dass sich die – in den arabischen
Fernsehstationen monatelang gezeigten – Bilder des von israelischen
Soldaten erschossenen 12-Jährigen Jungen Mohammed Ad Durrah zu Beginn
der Intifada al Aqsa ähnlich in das kollektive Bewusstsein der Region
eingegraben haben wie im Westen der Angriff auf das World Trade Center.
Es waren die Bilder der verzweifelt aus den Fenstern winkenden und
sich in die Tiefe stürzenden Menschen, die auch in der islamischen
Welt zu Entsetzen und Mitleid geführt haben. Diese Bilder aber sind,
im Gegensatz zu Europa, im amerikanischen Fernsehen – von wenigen
heftig kritisierten Ausnahmen abgesehen – nicht gezeigt worden. Womöglich,
sagen beispielsweise arabische Intellektuelle, hätte die auf individuelles
Leid emotional stärker reagierende islamische Welt die Trauer und
den Schock des Westens besser verstanden, wenn sie die Opfer gesehen
hätte. Dagegen blieb der für die Wahrnehmung im Westen so symbolträchtige
– und deshalb dort ebenfalls unentwegt wiederholte – Einsturz der
Zwillingstürme in seiner Wirkung in der islamischen Welt begrenzt.
Das Unverständnis über die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite
wurde auch an einem anderen Phänomen deutlich: Die absurde Konspirationsthese,
der Mossad sei für die Anschläge in den USA verantwortlich, war letztlich
nichts als der Versuch vieler Muslime, die Fassungslosigkeit über
ein im Namen des Islam verübtes ungeheures Verbrechen zu kompensieren
und sich von ihm zu distanzieren.
Schon früher hat der Westen Signale aus der islamischen Welt nicht
erkannt: So wurde ihm nicht bewusst, dass dort quasi als Nebeneffekt
der Kriege in Bosnien und Kosovo die Sympathie für den Westen wuchs,
der sich anscheinend mitten in Europa auf die Seite von bedrohten
Muslimen stellte. Diese positive Stimmung verflog jedoch schon ein
Jahr später nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen
Israelis und Palästinensern und dem Ausbruch der Intifada Al Aqsa.
Insbesondere der Rückzug Bushs aus der aktiven Vermittlerrolle gleich
zu Beginn seiner Amtszeit hat zu großer Verbitterung in der arabischen
Welt geführt. Nur so ist zu verstehen, warum Ben Laden mit seinem
ersten Video eine solche Wirkung erzielte. Auch hier ist die Parallele
zum Golfkrieg unverkennbar, in dem Saddam Hussein den Palästina-Konflikt
für seine Propaganda nutzte: Seinerzeit dauerte die erste Intifada
bereits seit drei Jahren an.
Trotz der beschriebenen negativen Vorzeichen könnte
der langfristige Effekt des derzeitigen Konfliktes und mehr noch der
Anschläge selbst ganz anders sein, als Ossama Ben Laden dies geplant
hat. Die amerikanisch-britischen Luftschläge gegen Afghanistan haben
einerseits stärker als bei früheren Konflikten zu einer gewissen Solidarisierung
von Muslimen über die arabische Kernregion hinaus beigetragen. Andererseits
jedoch wurde nach dem Schock des 11. September die längst überfällige
inner-muslimische Diskussion über das Wesen islamischer Gesellschaften
verstärkt, die – im Westen wiederum weitgehend unbemerkt – schon vor
einigen Jahren begonnen hat.
Der Soziologe und Islamismus-Experte Gilles Kepel hat zwar bereits
vor längerer Zeit den Niedergang des militanten Islamismus verkündet,
bezog sich dabei jedoch lediglich auf dessen Unfähigkeit zur Ergreifung
der Macht. Er übersah, dass die Woge islamistischen Terrors des vergangenen
Jahrzehnts zugleich das Tabu, den Islam zum Thema eines intellektuellen
und damit letztlich politischen Diskurses zu machen, allmählich aufgeweicht
hat. Es ist nicht auszuschließen, dass die „neue Dimension des Terrors“
zugleich den Niedergang des politisch-militanten Islam weiter beschleunigen
wird. Die Entmystifizierung des Islam als politischen Heilsbringers,
die der Iran, aber auch Algerien bereits durchlitten haben, könnte
sich im Zuge der zunehmend kritischen Selbstreflexion weiter fortsetzen.