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International Politics and Society 1/2002

 

 
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Mit dem fundamentalistischen Terror leben

Winfried Veit*

Hat sich die Welt seit den Terroranschlägen von New York und Washington tatsächlich fundamental verändert, wird nichts mehr so sein, wie es war? Zumindest die ersten Reaktionen der Politiker und die Schlagzeilen der Massenmedien legen diese Sichtweise nahe. Doch schon die danach folgende Debatte über Ursachen und Konsequenzen der Anschläge kommt einem allzu bekannt vor: beim Schlagabtausch der Argumente zumindest ist alles beim Alten geblieben. Wie eh und je tragen „Realpolitiker“ und „Gutmenschen“ ihre altbekannten Gefechte aus, natürlich erweitert um die schreckliche Dimension des neuen Terrors. Für die „Realisten“, die vorwiegend im Pentagon und in den Staatskanzleien der westlichen Länder sitzen, gilt es jetzt, einen unbarmherzigen Vernichtungsfeldzug gegen den internationalen, zunächst mittelöstlich verorteten Terror zu führen, dem alles andere unterzuordnen ist. Doch weder ist der Gegner genau auszumachen, wenn man ihn denn nicht auf Osama Bin Laden und die Taliban beschränken will, noch ist klar, was das „alles andere“ langfristig bedeuten wird. Kurzfristig ist offensichtlich, dass der Anspruch auf die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen, aufgeklärten westlichen Zivilisation, der die Attacke auf das World Trade Center ja nach allen Bekundungen galt, zunächst auf der Strecke bleiben muss, wenn man sich geradezu flehentlich darum bemüht, so demokratische und aufgeklärte Staaten wie Saudi-Arabien, Pakistan, Syrien und Iran in die „große Koalition gegen den Terror“ einzubinden. Sie alle haben – offen oder verdeckt – fundamentalistische Bewegungen und/oder terroristische Gruppen unterstützt, einige stehen noch heute auf Washingtons Liste der „Schurkenstaaten“.

Leider stehen die „Idealisten“ auch nicht viel besser da, denn ihre seit den Glanzzeiten der antiimperialistischen Bewegung der sechziger Jahre vorgetragenen Argumente haben zwar einiges für sich, aber die reale Entwicklung spricht gegen sie. Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass eine durch generöse Wirtschafts- und Entwicklungshilfe halbwegs saturierte Bevölkerung weniger anfällig gegen fundamentalistische und terroristische Versuchungen wäre. Doch bewiesen ist das nicht, abgesehen davon, dass auch der 11. September kaum die Opferbereitschaft der westlichen Gesellschaften für großzügige Hilfsprogramme erhöhen wird. Zu befürchten ist vielmehr, dass Opfer hauptsächlich für die eigene Sicherheit gebracht werden. Auch das Argument, der nun wirklich sehr wohlhabende Bin Laden und seine überwiegend gut gebildeten, aus der Mittelklasse stammenden Führungskader seien aufgrund des Elends ihrer Landsleute zu Terroristen geworden, ist durch nichts bewiesen. Warum gibt es denn in Afrika, dem Kontinent mit der höchsten Armutsrate und dem historisch größten Kolonisierungsgrad, keine fundamentalistische, gegen den Westen gerichtete, geschweige denn terroristische Bewegung? In Lateinamerika, auch nicht gerade ein Hort der gleichen Einkommensverteilung und jahrzehntelang Opfer des „Gringo-Imperialismus“, kämpfte die Guerilla-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre nicht für die Abschaffung des westlichen Modells der Aufklärung sondern für seine – wie auch immer geartete – „Verbesserung“. Und die kurzzeitige Beschwörung „asiatischer Werte“ – wer erinnert sich noch? – in den achtziger und neunziger Jahren speiste sich nicht etwa aus Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem Westen sondern aus dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem damals scheinbar „sklerotischen“ Europa.

Also zurück in den Nahen und Mittleren Osten. Was macht die Besonderheit dieser Weltregion aus, die voraussichtlich für eine geraume Zeit im Mittelpunkt der „internationalen Terrorismusbekämpfung“ stehen wird?

Natürlich ist religiöse, ethnische, soziale und ideologische Fragmentierung nicht nur ein Merkmal des Nahen Ostens, auch nicht das Austragen blutiger Konflikte. Dazu genügt ein Blick vor Europas Haustür, auf den Balkan. Aber die Gewalttätigkeiten dort und andernorts haben sich nicht oder zumindest nicht vorrangig gegen „den Westen“ gerichtet. Die anderen Regionen der Welt mögen zwar Opfer von Kolonialismus und Ausbeutung gewesen sein und haben ihre Befreiungskriege ausgefochten, doch standen sie nie in direkter „Systemkonkurrenz“ zum Westen. Man könnte auch sagen: Afrikaner und Asiaten standen nie vor Wien. Die nahöstlich-islamische Welt hingegen kämpfte jahrhundertelang mit dem „christlichen Abendland“ um die Vorherrschaft, nicht nur in geographischer sondern vor allem auch in ideologischer Hinsicht, vergleichbar nur dem späteren Ringen zwischen westlicher „freier Welt“ und östlichem Kommunismus. Wenn nun fundamentalistische Extremisten die Gewalt in das Herz der westlichen Welt tragen, dann mag dies durchaus als Wiederaufnahme dieser historischen „Systemkonkurrenz“ gedeutet werden. Verschärft wird diese Tendenz durch eine ungleichzeitige Entwicklung von Christentum und Islam, die der libanesische, in Paris lebende Schriftsteller und Essayist Amin Maalouf so beschrieben hat: „Wenn man zwischen der christlichen und der islamischen Welt einen geschichtlichen Vergleich ziehen würde, stieße man einerseits auf eine Religion, die lange Zeit intolerante und unverkennbar totalitäre Tendenzen vertreten, sich nach und nach jedoch zu einer Religion der Offenheit gewandelt hat; zum anderen auf eine Religion, die ein Bekenntnis zur Offenheit vertreten hat, nach und nach jedoch in intolerante und totalitäre Verhaltensweisen abgeglitten ist.“

Man mag die Allgemeingültigkeit dieser Aussage anzweifeln, doch ist nicht zu leugnen, dass der islamische Fundamentalismus in den letzten Jahrzehnten ungeheuren Zulauf hatte – von den Philippinen über Indonesien und Zentralasien bis zum Sudan und Algerien. In der gegenwärtigen Debatte über Ursachen und Folgen des 11. September werden möglicherweise diese historischen und kulturpsychologischen Faktoren unterschätzt – da hilft auch die geradezu rituelle Beschwörung des interkulturellen Dialogs und die formelhafte Absage an den „Zusammenprall der Zivilisationen“ nichts. Kaum wahrscheinlich ist, dass die Bombardierung eines islamischen Landes und die krampfhafte Stützung korrupter und autoritärer Regime in der islamischen Welt den gewünschten Erfolg haben werden. Die Wut der Fundamentalisten richtet sich genauso gegen die Verbündeten des Westens wie gegen den Westen selbst, wie die Lage in Algerien, Ägypten und Saudi-Arabien beweist. Auf längere Sicht könnten deshalb diese Regime eher zur Last werden denn zur Entlastung beitragen. Auf der anderen Seite würden auch umfassende Hilfsprogramme, selbst wenn sie zustande kämen, nur wenig bewirken: der von einigen geforderte „Marshall-Plan“ für den Nahen Osten hätte nicht den gleichen Resonanzboden, wie es das zerstörte und nach Demokratie strebende Europa nach dem zweiten Weltkrieg war. Vermutlich würden Hilfsgelder in der Mehrzahl ebenso in dubiosen Kanälen versickern, wie dies heute auf dem Gebiet der palästinensischen Autonomiebehörde der Fall ist. Am Beispiel der zweiten palästinensischen „Intifada“ läßt sich überdies ein weiterer Schwachpunkt der europäisch-rationalen Sichtweise festmachen: trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Deprivation läßt der Widerstand unter den Palästinensern nicht nach, weil – wie ironischerweise ein früherer israelischer Geheimdienstchef festgestellt hat – Glaube, Würde und Selbstachtung einen höheren Stellenwert haben als das bloße Wohlergehen, obgleich nie­mand unterstellen wird, dass Palästinenser – oder auch Afghanen – nicht für sich und ihre Kinder ein besseres Leben wünschen.

Wenn also beides – Bomben oder Rosinen – nicht den gewünschten Erfolg haben, was bleibt dann übrig? Wir werden uns wohl auf eine längere Auseinandersetzung mit dem Terrorismus einstellen müssen. Aber dessen militärische oder polizeiliche Bekämpfung, die derzeit im Mittelpunkt steht, kann nur ein Aspekt sein. Leider scheint es aber so, als ob dieser Aspekt der einzige – oder zumindest der dominierende – sein wird, den der Westen beizutragen hat. Eine wirkliche Lösung des islamisch-fundamentalistischen Terrorproblems kann nur von innen heraus, aus der islamischen Welt selbst erfolgen. Islamische Intellektuelle, bezeichnenderweise meist im westlichen Exil lebend, haben den Weg dorthin aufgezeigt: eine Reform des Islam an Haupt und Gliedern, die wieder an seine toleranten und offenen Ursprünge anknüpft. Bis dahin wird es noch ein langer Weg sein und solange werden wir wohl oder übel mit dem Terror leben müssen.

Wie das geht, hat ein kleines nahöstliches Land vorgemacht, das seit seiner Gründung vor über fünfzig Jahren unablässig terroristischen Attacken ausgesetzt ist: Israel lebt seit seiner Staatsgründung im permanenten – juristischen wie psychologischen – Ausnahmezustand. Dennoch geht das Leben weiter, werden Hochzeiten gefeiert, Kinder gezeugt und – natürlich – auch die Toten des Terrors begraben. Und vor allem: Israel hat es geschafft, trotz aller Bedrohungen und bei allen Defiziten, eine äußerst lebendige Demokratie zu bleiben. Das war und ist sicherlich nicht einfach, und wir sollten dies bei unseren manchmal geradezu hysterisch geprägten Debatten über die innere und äußere Sicherheit nicht vergessen. Schließlich steht – im Unterschied zu Israel – unsere Existenz als Volk und Staat nicht auf dem Spiel. Dass Israel – aus allzu durchsichtigen Gründen – aus der „Koalition gegen den Terror“ ausgeschlossen wurde, ist kein gutes Zeichen.

Winfried Veit

*1946; Politologe; Leiter des Büros Israel der Friedrich-Ebert-Stiftung; fesisra@netvision.net.il


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