Hat
sich die Welt seit den Terroranschlägen von New York und Washington
tatsächlich fundamental verändert, wird nichts mehr so sein, wie
es war? Zumindest die ersten Reaktionen der Politiker und die Schlagzeilen
der Massenmedien legen diese Sichtweise nahe. Doch schon die danach
folgende Debatte über Ursachen und Konsequenzen der Anschläge kommt
einem allzu bekannt vor: beim Schlagabtausch der Argumente zumindest
ist alles beim Alten geblieben. Wie eh und je tragen „Realpolitiker“
und „Gutmenschen“ ihre altbekannten Gefechte aus, natürlich erweitert
um die schreckliche Dimension des neuen Terrors. Für die „Realisten“,
die vorwiegend im Pentagon und in den Staatskanzleien der westlichen
Länder sitzen, gilt es jetzt, einen unbarmherzigen Vernichtungsfeldzug
gegen den internationalen, zunächst mittelöstlich verorteten Terror
zu führen, dem alles andere unterzuordnen ist. Doch weder ist der
Gegner genau auszumachen, wenn man ihn denn nicht auf Osama Bin
Laden und die Taliban beschränken will, noch ist klar, was das „alles
andere“ langfristig bedeuten wird. Kurzfristig ist offensichtlich,
dass der Anspruch auf die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen,
aufgeklärten westlichen Zivilisation, der die Attacke auf das World
Trade Center ja nach allen Bekundungen galt, zunächst auf der Strecke
bleiben muss, wenn man sich geradezu flehentlich darum bemüht, so
demokratische und aufgeklärte Staaten wie Saudi-Arabien, Pakistan,
Syrien und Iran in die „große Koalition gegen den Terror“ einzubinden.
Sie alle haben – offen oder verdeckt – fundamentalistische Bewegungen
und/oder terroristische Gruppen unterstützt, einige stehen noch
heute auf Washingtons Liste der „Schurkenstaaten“.
Leider
stehen die „Idealisten“ auch nicht viel besser da, denn ihre seit
den Glanzzeiten der antiimperialistischen Bewegung der sechziger
Jahre vorgetragenen Argumente haben zwar einiges für sich, aber
die reale Entwicklung spricht gegen sie. Natürlich liegt die Vermutung
nahe, dass eine durch generöse Wirtschafts- und Entwicklungshilfe
halbwegs saturierte Bevölkerung weniger anfällig gegen fundamentalistische
und terroristische Versuchungen wäre. Doch bewiesen ist das nicht,
abgesehen davon, dass auch der 11. September kaum die Opferbereitschaft
der westlichen Gesellschaften für großzügige Hilfsprogramme erhöhen
wird. Zu befürchten ist vielmehr, dass Opfer hauptsächlich für die
eigene Sicherheit gebracht werden. Auch das Argument, der nun wirklich
sehr wohlhabende Bin Laden und seine überwiegend gut gebildeten,
aus der Mittelklasse stammenden Führungskader seien aufgrund des
Elends ihrer Landsleute zu Terroristen geworden, ist durch nichts
bewiesen. Warum gibt es denn in Afrika, dem Kontinent mit der höchsten
Armutsrate und dem historisch größten Kolonisierungsgrad, keine
fundamentalistische, gegen den Westen gerichtete, geschweige denn
terroristische Bewegung? In Lateinamerika, auch nicht gerade ein
Hort der gleichen Einkommensverteilung und jahrzehntelang Opfer
des „Gringo-Imperialismus“, kämpfte die Guerilla-Bewegung der sechziger
und siebziger Jahre nicht für die Abschaffung des westlichen Modells
der Aufklärung sondern für seine – wie auch immer geartete – „Verbesserung“.
Und die kurzzeitige Beschwörung „asiatischer Werte“ – wer erinnert
sich noch? – in den achtziger und neunziger Jahren speiste sich
nicht etwa aus Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem Westen sondern
aus dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem damals scheinbar
„sklerotischen“ Europa.
Also
zurück in den Nahen und Mittleren Osten. Was macht die Besonderheit
dieser Weltregion aus, die voraussichtlich für eine geraume Zeit
im Mittelpunkt der „internationalen Terrorismusbekämpfung“ stehen
wird?
Natürlich
ist religiöse, ethnische, soziale und ideologische Fragmentierung
nicht nur ein Merkmal des Nahen Ostens, auch nicht das Austragen
blutiger Konflikte. Dazu genügt ein Blick vor Europas Haustür, auf
den Balkan. Aber die Gewalttätigkeiten dort und andernorts haben
sich nicht oder zumindest nicht vorrangig gegen „den Westen“ gerichtet.
Die anderen Regionen der Welt mögen zwar Opfer von Kolonialismus
und Ausbeutung gewesen sein und haben ihre Befreiungskriege ausgefochten,
doch standen sie nie in direkter „Systemkonkurrenz“ zum Westen.
Man könnte auch sagen: Afrikaner und Asiaten standen nie vor Wien.
Die nahöstlich-islamische Welt hingegen kämpfte jahrhundertelang
mit dem „christlichen Abendland“ um die Vorherrschaft, nicht nur
in geographischer sondern vor allem auch in ideologischer Hinsicht,
vergleichbar nur dem späteren Ringen zwischen westlicher „freier
Welt“ und östlichem Kommunismus. Wenn nun fundamentalistische Extremisten
die Gewalt in das Herz der westlichen Welt tragen, dann mag dies
durchaus als Wiederaufnahme dieser historischen „Systemkonkurrenz“
gedeutet werden. Verschärft wird diese Tendenz durch eine ungleichzeitige
Entwicklung von Christentum und Islam, die der libanesische, in
Paris lebende Schriftsteller und Essayist Amin Maalouf so beschrieben
hat: „Wenn man zwischen der christlichen und der islamischen Welt
einen geschichtlichen Vergleich ziehen würde, stieße man einerseits
auf eine Religion, die lange Zeit intolerante und unverkennbar totalitäre
Tendenzen vertreten, sich nach und nach jedoch zu einer Religion
der Offenheit gewandelt hat; zum anderen auf eine Religion, die
ein Bekenntnis zur Offenheit vertreten hat, nach und nach jedoch
in intolerante und totalitäre Verhaltensweisen abgeglitten ist.“
Man
mag die Allgemeingültigkeit dieser Aussage anzweifeln, doch ist
nicht zu leugnen, dass der islamische Fundamentalismus in den letzten
Jahrzehnten ungeheuren Zulauf hatte – von den Philippinen über Indonesien
und Zentralasien bis zum Sudan und Algerien. In der gegenwärtigen
Debatte über Ursachen und Folgen des 11. September werden möglicherweise
diese historischen und kulturpsychologischen Faktoren unterschätzt
– da hilft auch die geradezu rituelle Beschwörung des interkulturellen
Dialogs und die formelhafte Absage an den „Zusammenprall der Zivilisationen“
nichts. Kaum wahrscheinlich ist, dass die Bombardierung eines islamischen
Landes und die krampfhafte Stützung korrupter und autoritärer Regime
in der islamischen Welt den gewünschten Erfolg haben werden. Die
Wut der Fundamentalisten richtet sich genauso gegen die Verbündeten
des Westens wie gegen den Westen selbst, wie die Lage in Algerien,
Ägypten und Saudi-Arabien beweist. Auf längere Sicht könnten deshalb
diese Regime eher zur Last werden denn zur Entlastung beitragen.
Auf der anderen Seite würden auch umfassende Hilfsprogramme, selbst
wenn sie zustande kämen, nur wenig bewirken: der von einigen geforderte
„Marshall-Plan“ für den Nahen Osten hätte nicht den gleichen Resonanzboden,
wie es das zerstörte und nach Demokratie strebende Europa nach dem
zweiten Weltkrieg war. Vermutlich würden Hilfsgelder in der Mehrzahl
ebenso in dubiosen Kanälen versickern, wie dies heute auf dem Gebiet
der palästinensischen Autonomiebehörde der Fall ist. Am Beispiel
der zweiten palästinensischen „Intifada“ läßt sich überdies ein
weiterer Schwachpunkt der europäisch-rationalen Sichtweise festmachen:
trotz aller wirtschaftlichen und sozialen Deprivation läßt der Widerstand
unter den Palästinensern nicht nach, weil – wie ironischerweise
ein früherer israelischer Geheimdienstchef festgestellt hat – Glaube,
Würde und Selbstachtung einen höheren Stellenwert haben als das
bloße Wohlergehen, obgleich niemand unterstellen wird, dass Palästinenser
– oder auch Afghanen – nicht für sich und ihre Kinder ein besseres
Leben wünschen.
Wenn
also beides – Bomben oder Rosinen – nicht den gewünschten Erfolg
haben, was bleibt dann übrig? Wir werden uns wohl auf eine längere
Auseinandersetzung mit dem Terrorismus einstellen müssen. Aber dessen
militärische oder polizeiliche Bekämpfung, die derzeit im Mittelpunkt
steht, kann nur ein Aspekt sein. Leider scheint es aber so, als
ob dieser Aspekt der einzige – oder zumindest der dominierende –
sein wird, den der Westen beizutragen hat. Eine wirkliche Lösung
des islamisch-fundamentalistischen Terrorproblems kann nur von innen
heraus, aus der islamischen Welt selbst erfolgen. Islamische Intellektuelle,
bezeichnenderweise meist im westlichen Exil lebend, haben den Weg
dorthin aufgezeigt: eine Reform des Islam an Haupt und Gliedern,
die wieder an seine toleranten und offenen Ursprünge anknüpft. Bis
dahin wird es noch ein langer Weg sein und solange werden wir wohl
oder übel mit dem Terror leben müssen.
Wie
das geht, hat ein kleines nahöstliches Land vorgemacht, das seit
seiner Gründung vor über fünfzig Jahren unablässig terroristischen
Attacken ausgesetzt ist: Israel lebt seit seiner Staatsgründung
im permanenten – juristischen wie psychologischen – Ausnahmezustand.
Dennoch geht das Leben weiter, werden Hochzeiten gefeiert, Kinder
gezeugt und – natürlich – auch die Toten des Terrors begraben. Und
vor allem: Israel hat es geschafft, trotz aller Bedrohungen und
bei allen Defiziten, eine äußerst lebendige Demokratie zu bleiben.
Das war und ist sicherlich nicht einfach, und wir sollten dies bei
unseren manchmal geradezu hysterisch geprägten Debatten über die
innere und äußere Sicherheit nicht vergessen. Schließlich steht
– im Unterschied zu Israel – unsere Existenz als Volk und Staat
nicht auf dem Spiel. Dass Israel – aus allzu durchsichtigen Gründen
– aus der „Koalition gegen den Terror“ ausgeschlossen wurde, ist
kein gutes Zeichen.