Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2002

 

 
 

 


Strategiewechsel im Nahostkonflikt?

Matthes Buhbe*

“I want to announce this morning, that I have informed the US that we
have put all our capabilities under their disposal, and of our readiness to be part of the international alliance for ending terrorism against unarmed innocent civilians. Our objective is securing a world where security, peace and justice prevail. I will do all my part whatever is necessary to achieve that goal.”

Präsident Jasser Arafat am 19. September 2001

“The Americans have moved from one era to another. We haven’t even begun to understand what happened there. They aren’t thinking about how to defend Israel, but how to defend themselves in a crazy war.”

Außenminister Schimon Peres  bei seiner Rückkehr aus den USA am 24. Oktober 2001

„Arafat has chosen a strategy of terror and created a coalition of terrorists.“

Premier Ariel Scharon zum kanadischen Außenminister John Manley am 31.Oktober 2001.

 

Im Nahen Osten herrscht seit 1948 der Kriegszustand. Teilfriedensschlüsse Israels mit Ägypten und Jordanien können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Akteure im Nahen Osten führen zuallererst ihren eigenen Feldzug und stehen erst in zweiter Linie ihren amerikanischen Freunden gegen die Osama bin Ladens dieser Welt bei.

Seit dem 11. September hat sich die Sicherheitslage in Israel und den palästinensischen Gebieten nicht beruhigt, sondern im Gegenteil weiter verschlechtert. Mehrfach und mit immer längerer Verweildauer drangen die israelischen Streitkräfte in die so genannten A-Gebiete ein, die unter ausschließlicher Verwaltung von Arafats Autonomiebehörde stehen. Unverändert verübten militante Palästinenser Anschläge gegen Israelis. Israel richtete wieder Rädelsführer des gewaltbereiten palästinensischen Widerstands „vorbeugend“ durch luftgestützte Todeskommandos hin. Radikale Islamisten schlugen mit Selbstmordterror zurück. Vergeblich verlangten die USA Ruhe, die sie benötigen, um die Allianz im eigenen Krieg gegen Osama bin Laden und die Taliban nicht zu gefährden.

Aber die israelischen und palästinensischen Kontrahenten sind auf internationale Partner angewiesen. Ihr Konflikt ist ohne Vermittlung unlösbar. Israel kann allein mit Hilfe militärischer und wirtschaftlicher Dominanz keine Lösung erzwingen, die gegen das UN-verbriefte Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser steht. Andererseits fehlen der palästinensischen Befreiungsbewegung jene staatlichen und wirtschaftlichen Machtmittel, um auf sich allein gestellt zum eigenen Staat zu kommen. Mit dem Osloprozess hat man sich 1993 für eine Verhandlungslösung unter US-amerikanischer Schirmherrschaft entschieden, allerdings ohne zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

Israel hat etwas länger gebraucht als PLO und palästinensische Autonomiebehörde, um zu erkennen, dass die Supermacht USA nach dem 11. September 2001 einen Strategiewechsel vornehmen könnte: Neue Prioritäten in der US-Außen- und Sicherheitspolitik legen stärkere partnerschaftliche Beziehungen mit moderaten arabischen Regimen und weniger bevorzugte Beziehungen zu Israel nahe. Der Druck auf Israel, einen lebensfähigen Staat Palästina neben Israel zu ermöglichen, könnte zunehmen.

Ariel Sharon bezeichnete Arafat wiederholt als Osama bin Laden des Nahen Ostens. Israel sei schon vor dem 11. September ein Bollwerk gegen den Terrorismus gewesen und werde diesen nun härter bekämpfen als je zuvor. Scharon musste aber erkennen, dass er damit keineswegs auf amerikanischen Beifall stieß. Als er die USA davor warnte, Israel an die Araber auszuliefern so wie Europas Demokratien 1938 die Tschechoslowakei Adolf Hitler geopfert hätten, und fortfuhr, ein zweites München werde Israel nicht zulassen, stand er als Störenfried da, der die Aufstellung beim Feldzug gegen den global operierenden Terror durcheinander brachte.

Jasser Arafat stellte sehr bald nach dem 11. September klar, es gäbe nichts an der strategischen Entscheidung von 1993 zu rütteln, die USA und damit den engsten Freund Israels zum wichtigsten Mittler zwischen der PLO und dem Staat Israel zu machen. Zum Terroristen wollte er sich nicht zurückstufen lassen. Sicher hatte er dabei noch gut die Folgen der palästinensischen Entscheidung von 1990 in Erinnerung, im Kuwaitkrieg gegen eine US-geführte Staatenkoalition die Seite Saddam Husseins zu wählen.

Eine Neubewertung, was Terror ist und wie er bekämpft werden muss, gibt es allerdings weder auf palästinensischer noch auf israelischer Seite. Die Palästinenser streichen noch mehr als bisher die Ursachen terroristischer Gewalt heraus, die in der Unterdrückung des palästinensischen Volkes lägen. Die Israelis streichen noch mehr die Bedrohung heraus, die Terroristen darstellen. Ihre Bekämpfung sei nötiger denn je, da sie das Vertrauen in ein Zusammenleben in Sicherheit zerstörten. Ihre jeweiligen Angebote an die USA zur Terrorbekämpfung erfolgen auf der Basis unveränderter nationaler Ziele, die sich hinter der jeweiligen Sicht verbergen. Sie sind eine taktische Anpassung an die mögliche Neubestimmung amerikanischer Nahostpolitik.

Sicherheit für die eigenen Staatsbürger zu gewährleisten, gilt als staatliche Grundpflicht. Die Palästinenser, denen ein eigener Staat verwehrt wird, werden vor allem auch von den USA aufgefordert, aktiv zur Sicherheit Israels beizutragen. Die USA, so scheint es, können Israel aber nicht dazu bewegen, analog für die Sicherheit der Palästinenser einzutreten.

Der 11. September war kein Jubeltag in den palästinensischen Gebieten, obwohl einige Medien es in den ersten Stunden so darstellten. Nichtsdestoweniger gab es hier und da heimliche Freude, dass nun der arrogante Weltpolizist im eigenen Land erlebte, was man vor Ort ständig erdulden muss: Willkürliche Gewaltanwendung, die jeden Menschen jederzeit treffen kann.

Die palästinensische Grundeinstellung zu terroristischen Methoden fußt in erheblichem Maße auf dem, was als historisches Unrecht und amerikanische Missachtung der von den USA selbst mit aufgestellten internationalen Gerechtigkeitsregeln bezeichnet wird. Das Völkerrecht hat sich am 11. September ebenso wenig geändert wie das palästinensische Leben unter Besatzungsbedingungen. Solange israelische Militäraktionen täglich zu Toten und Verwundeten führen, werden auch täglich neu Rachegedanken und gewaltbereite Täter geschaffen. Wie jüngste Umfragen zeigen, rücken die Palästinenser keineswegs davon ab, Gewalt als legitimes Widerstandsmittel anzusehen. Weiterhin wird im „bewaffneten Kampf“ nicht trennscharf zwischen Gewalt gegen die Besatzer in den besetzten Gebieten und Terrorakten gegen unbeteiligte Passanten im Kernland Israels unterschieden.

Die Bewertung von Selbstmordattentaten teilt sich auf in Abscheu seitens einer Minderheit und Rechtfertigung seitens einer Mehrheit: Israel provoziere, so heißt es, solchen Horror. Der Megaterror vom 11. September ordnet sich hier - mit anderer Gewichtung zwischen Bestürzung und Rechtfertigung - ein. Allgemein ist man davon überzeugt, dass die bisherige US-Nahostpolitik den anti-amerikanischen Terrorismus mit hervorgebracht hat. Das fundamentalistische Regime in Saudi-Arabien zu stützen, den Irak aber noch zehn Jahre nach dem Sieg der Allianz über Saddam Hussein zu bestrafen, Israel jährlich mit massiver Militärhilfe ohne Auflagen aufzurüsten, aber die Bewaffnung der Staaten im islamischen Bogen von Marokko bis Indonesien weitest möglich zu bevormunden, Menschenrechtsverletzungen in diesem Armutsbogen zu beklagen, aber das reiche Israel von Kritik zu verschonen, alles das gilt als „double standard“.

Bush unterstützt neuerdings in direkten Worten einen palästinensischen Staat neben Israel. Ein Strategiewechsel wird aber erst daraus, wenn das Konzept tragfähig ausgestaltet und energisch im politischen Handeln verankert wird. Schließlich sprachen Netanjahu und Scharon bereits 1998 - anlässlich des amerikanisch vermittelten Wye-River-Memorandums - von einem palästinensischen Staat. Die damalige Beschreibung glich allerdings weniger einem Staat als einem von den Palästinensern selbst zu verwaltenden Flickenteppich.

Israels jetzige Regierung mit Ariel Scharon und Schimon Peres an der Spitze ist zutiefst beunruhigt über Bushs mögliche Wahl. Wenn es sich hierbei um ein Nullsummenspiel handelte, wäre Israel vom Strategiewechsel negativ betroffen. Wenn Scharon und Peres auf unterschiedliche Weise auf die USA einzuwirken versuchen, dann aus dem analogen Kalkül heraus, das Arafat frühzeitig anstellte: Die USA haben ebenso sehr die Macht zur Obstruktion wie zur Durchsetzung eines zweiten Staates neben Israel. Bush muss daher davon abgehalten (bzw. in den Augen Arafats davon überzeugt) werden, das palästinensische Recht auf einen eigenen Staat weniger nach israelischen und mehr nach arabisch-palästinensischen Vorstellungen durchzusetzen.

Seit dem 11. September spitzt sich der palästinensisch-israelische Konflikt zu, dreht sich die Gewaltspirale weiter. Mit zunehmendem Abstand zum 11. September wird der Kraftaufwand für eine neue US-Strategie und die regionale Anpassung daran größer. Die Konflikteskalation bestätigt nämlich die geschilderten Wahrnehmungsmuster von Terror: Als Reaktion auf die Willkür der Besatzungsmacht oder als Beweis der Friedensunfähigkeit des Arafat-Regimes.

Matthes Buhbe

*1949; Volkswirt; Leiter des Palästinaprojekts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Jerusalem; fespales@netvision.net.il


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