Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2002

 

 
 
 

 


Wie sichern wir unsere Renten? Plädoyer für eine globale Strategie

Alfred Pfaller
Lothar Witte*

 

Die dramatische Alterung der westlichen Gesellschaften gefährdet den Generationenvertrag. Ökonomisch lässt sich dieser jedoch auch grenzüberschreitend organisieren. Dazu bedarf es allerdings forcierter Anstrengungen zur Entwicklung der noch "jungen" Länder der Dritten Welt

 

Die Alte Welt macht ihrem Namen alle Ehre: In fast allen Ländern der Europäischen Union sind zur Zeit mehr als zwanzig Prozent der Bevölkerung mindestens sechzig Jahre alt, in Deutschland, Italien und Griechenland sogar mehr als 23 Prozent. Aber was heißt sogar - im Jahre 2050 werden es in Italien, Spanien, Griechenland und Österreich voraussichtlich über vierzig Prozent sein. In den bevölkerungsreichsten Nationen Osteuropas (Russland, Ukraine, Polen, Rumänien, Ungarn) sieht es ähnlich aus: Gegenwärtig liegt der Anteil der Alten bei 18-20 Prozent, und bis 2050 wird er sich fast verdoppeln (34-38 Prozent). Und auch Ostasien gehen die jungen Menschen allmählich aus, im Jahre 2050 werden in China dreißig und in Japan über vierzig Prozent der Bevölkerung über sechzig Jahre alt sein.[1]

Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand bei dem Stichwort "Bevölkerungsproblem" an eine schrumpfende Bevölkerung bei gleichzeitiger Alterung gedacht, stattdessen war noch das Bild der "population bomb" – wohlgemerkt: verstanden als Überbevölkerung - im kollektiven Gedächtnis verankert. Inzwischen hat sich die Wahrnehmung auch über den Kreis von Spezialisten hinaus verändert, und "global ageing" bzw. "ageing societies" sind Begriffe, die in unterschiedlichen Politikfeldern mit zunehmender Häufigkeit in die Diskussionen eingehen.

Ein Politikfeld, in dem die Bedeutung alternder Gesellschaften auf der Hand liegt, sind die sozialen Sicherungssysteme, und hier besonders das Rentensystem. Der Grundzusammenhang ist einfach: In jeder Gesellschaft gibt es eine ökonomisch aktive Bevölkerung, welche die Reichtümer erwirtschaftet, die über den eigenen Konsum hinaus auch den Konsum der ökonomisch passiven Bevölkerung ermöglicht. Verändert sich nun das Verhältnis der ökonomisch Aktiven zu den ökonomisch Passiven aufgrund des Alterungsprozesses kontinuierlich zu Ungunsten der Aktiven, so wird die Aufteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes zwischen Erwerbstätigen und Rentnern zu einer immer schwierigeren Frage. Vom derzeit bestehenden und politisch – wenn auch mit zunehmendem Murren – noch abgesegneten Verteilungsschlüssel muss zunehmend abgewichen werden. Das kann in drei – politisch gleichermaßen unpopuläre – Richtungen erfolgen:

·         Die Aktiven überlassen einen immer höheren Anteil dessen, was sie produzieren, den Rentnern. Im sogenannten Umlageverfahren, nach dem in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Verteilung zwischen den Generationen in erster Linie organisiert ist, bedeutet das, dass die Beiträge zur Rentenkasse ständig steigen.

·         Die Menschen müssen mit ihrer Verrentung einen immer drastischeren Einkommensrückgang hinnehmen. Denn von dem, was die wirtschaftlich Aktiven für den Konsum der nicht mehr Aktiven abtreten, muss eine immer größere Anzahl von Rentnern leben.

·         Das durchschnittliche (nicht nur das gesetzliche) Renteneintrittsalter muss ständig ansteigen, um die Relation von Erwerbstätigen und Rentnern konstant zu halten.

Für Deutschland hatte der Sozialbeirat bereits im Jahre 1980 darauf hingewiesen, dass unter Beibehaltung des damaligen Beitragssatzes von 18,5 Prozent die Leistungen bis zum Jahre 2035 halbiert werden müssten oder aber ein Beitragssatz von 35 Prozent nötig sein würde, um die Leistungen konstant zu halten.[2] Soll die Lösung allein über den dritten Weg beschritten werden, so müsste das durchschnittliche Verrentungsalter auf über 70 Jahre angehoben werden.[3] Jede einzelne „Grausamkeit“ kann man nur dadurch abmildern, dass man auch etwas von den anderen Grausamkeiten akzeptiert – etwa höhere Rentenbeiträge plus geringere Rente plus späteres Renteneintrittsalter.

Der Übergang zu einer kapitalgedeckten Rente entschärft das Problem nicht

(Ökonomisch gesehen, erspart ein kapitalgedecktes Rentensystem dem Bürger die  unangenehmen Konsequenzen der demographischen Verschiebung nicht.)

Die dargestellten Zusammenhänge gelten gleichermaßen für ein umlagefinanziertes wie ein kapitalgedecktes System der Alterssicherung. Im Umlagesystem werden sie sofort offenkundig, da hier der Bezug zur Realwirtschaft direkter ist: Die wirtschaftlich Aktiven geben einen Teil ihres Einkommens ab, damit können die Rentner ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wenn also die Zahl der Rentner steigt und die der Aktiven nicht, müssen letztere höhere Beiträge an die Rentenkasse leisten, so die Rente nicht gekürzt werden soll. Wird die Rente hingegen aus einem vorher angesparten Kapitalbetrag finanziert, werden die wirtschaftlich Aktiven nicht zur Kasse gebeten. Jeder ist, so sieht es aus, für seine eigene Rente verantwortlich. Hat er/sie viel angespart im Berufsleben, steht für die monatliche Rente ein relativ großer Betrag bereit, der, während er nach und nach aufgebraucht wird, auch immer noch weiter Rendite abwirft und deshalb langsamer schrumpft, als monatlich von ihm ausgezahlt wird. Gleichzeitig sparen die wirtschaftlich Aktiven für ihre eigene spätere Rente an, nicht die der gegenwärtigen Rentner. Auch sie akkumulieren einen Betrag, den sie später aufbrauchen.

Wie hoch die Beträge sind, aus denen mit Beginn des Ruhestandes die Rente bestritten wird, hängt nicht nur von den im Lauf des Arbeitslebens Monat für Monat beiseite gelegten (in der Regel: in einen Rentenfonds eingezahlten) Beträgen ab, sondern auch von den Renditen, die das angesparte Kapital erwirtschaftet. Hier kommt eine gewisse Unbekannte ins Spiel: die Renditen hängen von der Höhe der Zinsen, also der Politik der Zentralbank(en), und/oder den Aktienkursen ab. Die monatliche Rente hängt aber nicht nur von der angesparten Kapitalsumme ab, sondern auch von der dann geltenden Lebenserwartung. Hier kommt die Alterung der Gesellschaft bereits ins Spiel; denn je länger die Menschen leben, desto länger muss das angesparte Kapital reichen und desto geringer ist der Betrag, der monatlich ausgezahlt wird (wenn das Geld denn in einem Rentenfonds angelegt wurde).

Damit ist es aber noch nicht getan. Die finanzwirtschaftliche Betrachtung, die beim kapitalgedeckten Verfahren der Alterssicherung im Vordergrund steht, muss rückgeführt werden auf die realwirtschaftliche Betrachtung. Das angesparte Kapital lässt sich nicht konsumieren, es muss in Güter und Dienstleistungen umgewandelt werden. Rentner und wirtschaftlich Aktive kommen nicht umhin, sich das Bruttosozialprodukt aufzuteilen (wobei auch noch ein Teil für die Investition, d.h. die Erneuerung und Erweiterung des Produktionsapparates abzuzweigen ist). Man kann es auch anders ausdrücken: die Konsumansprüche, die von den Rentnern aufgrund ihres angesparten Kapitals angemeldet werden, können nur dann erfüllt werden, wenn die wirtschaftlich Aktiven einen hinreichend große – und das heißt: anteilsmäßig ständig zunehmende – Menge an Gütern und Dienstleistungen abtreten. Dieses Abtreten kann durchaus unterschiedliche Formen annehmen.

·         Die wirtschaftlich Aktiven können einen steigenden Anteil ihres Einkommens sparen, z.B. um Vorkehrungen für ihren eigenen Lebensabend zu treffen.

·         Der Staat kann die wirtschaftlich Aktiven – in Anbetracht der fortgesetzten demographischen Verschiebung – zu immer höheren Einzahlungen in eine Pensionskasse verpflichten. Dies käme dann einer Erhöhung der Rentenbeiträge im Umlagesystem gleich.

·         Die Löhne können beständig langsamer wachsen als die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität. Dann sinkt bei konstanter Sparquote der Arbeitnehmer deren Konsumnachfrage. Es steht ein steigender Anteil des Bruttosozialprodukts für den Konsum der Kapitaleigner – dazu gehören in einem System kapitalgedeckter Alterssicherung die Rentner – zur Verfügung. Das würde jedoch gleichzeitig bedeuten, dass die Rente der nachfolgenden Generationen (in Relation zum nationalen Pro-Kopf-Einkommen) von zwei Seiten her gekürzt wird: 1. (Anteilsmäßig) sinkende Löhne begründen bei gleicher Sparleistung einen sinkenden Rentenanspruch. 2. Steigende Lebenserwartung streckt den angesparten Betrag über einen längeren Zeitraum. Allerdings würde auch der Konflikt mit den Konsumansprüchen der dann aktiven Generation nachlassen. Es bliebe wieder mehr Spielraum für Lohnerhöhungen – ein zyklisches Hin und Her von benachteiligten und privilegierten Generationen.

Wenn nun keine der drei Varianten eintritt, die Löhne also im Gleichschritt mit der Produktivität steigen und die Sparquote gleich bleibt, muss es zum Konflikt mit den Konsumansprüchen der entsparenden Rentner und der wirtschaftlich Aktiven kommen. Die Ansprüche ersterer können dabei auf zwei Arten entwertet werden:

·         Die Diskrepanz zwischen Güternachfrage und -angebot führt zu Inflation. In Kaufkraft gemessen sinkt die Rente.

·         Die entsparenden Rentner bringen mehr Vermögenstitel (z.B. Aktien) auf den Markt, als die schrumpfende Schar der wirtschaftlich Aktiven kaufen will. Resultat: die Preise geben nach, ein Teil des Kapitalvermögens der Rentner wird „vernichtet“.

Bevor es zu politisch derartig gravierenden Entwicklungen kommt, kann der Staat sich veranlasst sehen, einzugreifen. Dies läuft in der einen oder anderen Form letztlich darauf hinaus, dass der Staat seine eigene Sparquote erhöht (d.h. der Nation mittels seiner Steuer- und Ausgabenpolitik mehr Sparen auferlegt) und/oder dass die Investition nachlässt (z.B. als Reaktion auf höhere Zinsen) und von daher der für den Konsum verfügbare Anteil des Sozialprodukts erhöht wird. Ökonomisch gesehen, erspart ein kapitalgedecktes Rentensystem dem Bürger die unangenehmen Konsequenzen der demographischen Verschiebung nicht. Es verpackt sie lediglich anders.

Auswege, die nicht weit führen: Geburten und Einwanderung

 

Allen bisher angeführten Szenarien liegt die Annahme zugrunde, dass die Bevölkerungstrends sich unverändert fortsetzen. Könnten die harten Einschnitte aber nicht dadurch vermieden werden, dass an der Bevölkerungsschraube gedreht wird? Es ist weder zu erwarten noch zu hoffen, dass dies durch eine Veränderung "am langen Ende" des Lebens geschehen wird. Die Zunahme der Lebenserwartung beruht auf sozioökonomischen Verbesserungen, auf dem medizinisch-technischen Fortschritt sowie seiner Verbreitung im Rahmen eines umfassenden Gesundheitssystems, und auf einer langanhaltenden Friedensperiode. All diese Aspekte sind ohne Zweifel positiv zu bewerten, ebenso wie die Zunahme der Lebenserwartung selbst. Grundsätzlich könnte aber die aktive, Beiträge zahlende Bevölkerung dadurch erhöht werden, dass mehr Beitragszahler geboren oder importiert werden. In anderen Worten, durch eine Erhöhung der Geburtenrate oder durch eine verstärkte Einwanderung.

Dass eine solche Hoffnung trügerisch ist, wird im Falle der Geburtenrate intuitiv bereits an einigen Zahlen deutlich. In der Europäischen Union ist die Geburtenrate im Laufe der letzten 30 Jahre von 2,5 Kindern pro Frau auf 1,4 gefallen. Sie liegt damit weit unter dem Niveau von 2,2 Kindern, das langfristig die nötigen "Ersatzinvestitionen" garantieren könnte, um auch nur die Größe der Bevölkerung konstant zu halten. Um darüber hinaus zu erreichen, dass das Verhältnis der Alten (60 und älter) zur erwerbsfähigen Bevölkerung (20-59) langfristig auf dem heutigen Niveau bleibt, müssten z.B. in Deutschland alle Frauen im Durchschnitt fast 4 lebende Kinder gebären.[4] Angesichts dieser Dimensionen kann die Erhöhung der Geburtenrate kaum als Alternative zu den erwähnten Anpassungsschritten gesehen werden, sondern im besten Fall als ein Beitrag zu ihrer Abmilderung.

Aber selbst eine Abmilderung der unerwünschten Anpassungsschritte wird schwierig werden, denn ebenso wie die Zunahme der Lebenserwartung ist auch der Rückgang der Geburtenhäufigkeit das Ergebnis von gesellschaftlichen Veränderungen, deren Umkehrung nur schwer vorstellbar ist. Zu erwähnen wäre in erster Linie eine veränderte Frauenrolle, aber auch eine für das Individuum nur noch marginale ökonomische Bedeutung des (eigenen) Nachwuchses, der eben seit der Einführung und Verbreitung der Rentenversicherung nicht mehr der Absicherung des Lebensabends dient. Auf diese paradoxe Weise trägt die Rentenversicherung langfristig zur Zerstörung ihrer eigenen Voraussetzungen bei.

Gibt die Einwanderung größeren Anlass zur Hoffnung? Leider nein, wie u.a. aus Berechnungen der Vereinten Nationen deutlich wird, in denen die nötigen Migrationsströme für eine Stabilisierung der Gesamtbevölkerung, der Erwerbsfähigen und des Verhältnisses zwischen den Erwerbsfähigen und der älteren Generation kalkuliert werden.[5] Allein für eine Stabilisierung der Bevölkerung ist danach in Deutschland eine "Bestandserhaltungsmigration" von fast 350.000 pro Jahr nötig, und um einen Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung (15 bis 64 Jahre) zu vermeiden, sind jährlich fast 500.000 Einwanderer erforderlich. Zum Vergleich: In den frühen 90er Jahren, dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle aus Südosteuropa und des Zustroms von osteuropäischen Aussiedlern, lag die Nettozuwanderung (Ein- minus Auswanderung) in Deutschland bei ca. 600.000 - 800.000 Personen pro Jahr, in weniger turbulenten Zeiten - und mit einem geänderten Asylrecht - liegt sie eher bei 200.000. In anderen europäischen Ländern ist die Situation weniger dramatisch als in Deutschland. In Frankreich und Großbritannien wäre aufgrund der weniger zahlreichen, jüngeren und reproduktiveren Bevölkerung nur eine jährliche "Bestandserhaltungsmigration" von knapp 30.000 bzw. gut 50.000 zur Stabilisierung der Gesamtbevölkerung oder ca. 110.000 respektive 125.000 für eine konstante Zahl von Erwerbsfähigen vonnöten, und für die Europäische Union lauten die entsprechenden Zahlen 950.000 (stabile Gesamtbevölkerung) bzw. gut 1,5 Millionen (konstante Zahl von Erwerbsfähigen) pro Jahr.

Im Kontext unserer Fragestellung geht es aber nicht um die absolute Zahl der Wohn- und Erwerbsbevölkerung, sondern um die Tatsache, dass bei zunehmender Alterung immer mehr aktive Beitragszahler den Konsum der passiven Rentner finanzieren müssen. Dieses Verhältnis verschlechtert sich aufgrund des Alterungsprozesses selbst bei einer konstanten Erwerbsbevölkerung. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist über eine verstärkte Einwanderung nicht zu erreichen, denn um das Verhältnis der erwerbsfähigen Bevölkerung zur älteren Generation konstant zu halten, müssten Jahr für Jahr über 3,6 Millionen nach Deutschland und insgesamt etwa 13,5 Millionen in die Europäische Union einwandern. Und zwar netto, also nach Abzug der Auswanderer! Auch Frankreich bräuchte in diesem Szenario fast 1,8 Millionen Einwanderer pro Jahr, Großbritannien fast 1,2 Millionen. Im Zeitraum 1995-2050 würden 700 Millionen Einwanderer in die heute von gut 370 Millionen bewohnte Europäische Union einwandern, eine offensichtlich unrealistische Vorstellung.

Bei entsprechender politischer Weichenstellung ist es jedoch vorstellbar, über eine verstärkte Einwanderung zumindest die Stabilisierung der Wohn- und Erwerbsbevölkerung zu ermöglichen und auf diese Weise die Anpassung der Variablen des Rentensystems abzumildern. Abgesehen von der quantitativen Dimension müssten dabei aber auch einige qualitative Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine massive Zuwanderung zur Überwindung der Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme beitragen könnte: Die Einwanderer sollten nach Möglichkeit jung, gesund und gut ausgebildet sein, damit sie viele Jahre lang hohe Einkommen erzielen und entsprechend hohe Beiträge und Steuern zahlen können.

Die bisherigen Migrationsbewegungen entsprechen dieser Forderung nur in Ausnahmefällen. In der Regel ist das Ausbildungsniveau der Einwanderer aus den wichtigsten Herkunftsländern niedrig, und sie sind weit überproportional als un- oder angelernte Arbeiter beschäftigt.[6] Hierin spiegelt sich die Logik der bisherigen deutschen und westeuropäischen Ausländerpolitik wider, die in keiner Phase darauf ausgerichtet war, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen. Auch die neueren deutschen Versuche, dies über die „Green Card“ in beschränktem Maße zu versuchen, waren bestenfalls halbherzig.

Da es bei unserer Fragestellung aber nicht nur um die Qualität, sondern auch um die Quantität der Migration geht, besteht immer noch die Möglichkeit, wie gehabt auch Einwanderern mit niedrigeren Qualifikationsanforderungen den Weg nach Europa zu ermöglichen. Die schrumpfenden mitteleuropäischen Mehrheitsethnien könnten sich auf den primären Arbeitsmarkt konzentrieren, die Migranten auf den sekundären. Für die Rentensysteme könnte eine solche Strategie vorteilhaft sein, aber die Probleme, die damit in anderen Politikfeldern entstehen würden, wären absehbar – Stichwort Arbeitsmarkt, Stichwort Integration. Kurzfristig ist wegen der hohen Arbeitslosigkeit an eine Politik massiver Einwanderung ohnehin nicht zu denken. Da aber aufgrund des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs davon auszugehen ist, dass mittelfristig Arbeitskräfteknappheit erneut zu einem wirtschaftspolitischen Thema werden wird, könnte sich die Rationalität einer solchen Politik in vorausschauender Perspektive anders darstellen als in der kurzfristigen Betrachtung.

Als Fazit bleibt dennoch, dass weder eine Erhöhung der Geburtenrate noch die verstärkte Einwanderung das Grundproblem des Rentensystems lösen. Sicher, eine Abmilderung der harten Anpassungsmaßnahmen wäre möglich, aber realistisch betrachtet können keine großen Hoffnungen auf diese Ausweichstrategien gesetzt werden.

Die Globalisierungsstrategie: Produkte statt Produzenten importieren

(Der ökonomische Kern des Generationenvertrags, nämlich Konsumzurückhaltung der Aktiven zugunsten des Konsums der nicht mehr Aktiven, kann auch grenzüberschreitend organisiert werden.)

Die Verteilungsprobleme der alternden Gesellschaft ließen sich vermeiden, wenn es dieser gelänge, den Konsum der wachsenden Rentnerscharen mit Hilfe von Netto-Importen zu befriedigen. Dann könnten zwei Dinge gleichzeitig gewährleistet werden:

·         Die Aktiven erhalten als Gruppe ihren Anteil am Sozialprodukt aufrecht. Das heißt, der Konsum des durchschnittlichen Arbeitnehmers und Selbständigen kann - wie bisher auch - im Rhythmus des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsanstiegs (Produktmenge pro Arbeitsstunde) zunehmen. Weder muss der Lohnanstieg dauerhaft unter dem Produktivitätsanstieg liegen, noch muss die – freiwillige oder erzwungene - Sparquote des durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalts ständig steigen.

·         Der Konsum des einzelnen Rentners kann ebenfalls – wie bisher auch – mit der gesamtwirtschaftlichen Produktivität wachsen. Denn die steigenden Importe würden dafür sorgen, dass der wachsenden Rentnerschar mehr Konsummasse zur Verfügung steht, als die Werktätigen ihr abtreten wollen.

Die Nation kann mehr konsumieren, als sie produziert, und kann sich deshalb eine ständige Änderung des Verteilungsschlüssels – zu Lasten des einzelnen Rentners oder zu Lasten der Gruppe der Aktiven – ersparen.

Um sich für ihren Lebensabend die Importoption zu sichern, könnten die Rentner von morgen einen steigenden Anteil ihrer Rücklagen für die Alterssicherung im Ausland anlegen, d.h. Anrechte auf ausländisches Sozialprodukt erwerben, und später den Erlös aus dem Verkauf dieser Anrechte (bzw. auch die anfallende Rendite) benutzen, um Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland zu importieren. Solchermaßen finanzierte Importe bräuchten nicht durch Exporte verdient zu werden. D.h. dem Ausland müsste nicht eine tendenziell gleich große Menge an Gütern und Dienstleistungen abgetreten werden. Die Importe würden den im Inland für Rentner und Erwerbsbevölkerung verfügbaren „Konsumkuchen“ vergrößern. Eine Zeit lang ließe sich so etwas auch durch Nettoverschuldung beim Ausland finanzieren. Das ist aber nur eine begrenzte Zeit lang durchzuhalten. Nachhaltiger ist die Importlösung schon, wenn zunächst in einer Ansparphase Nettovermögen im Ausland erworben wird.

Die „Nettoimportlösung“ kann als volkswirtschaftliches Äquivalent zur Immigration angesehen werden. Man greift nicht unmittelbar auf ausländische Produzenten zurück, sondern mittelbar, nämlich über deren Produktionsergebnis im Ausland. Natürlich unterliegen sie dort einer anderen Jurisdiktion. Sie lassen sich nicht, wie im Inland, beitragspflichtig machen, lassen sich nicht in einen politisch begründeten „Generationenvertrag“ einbinden. Aber dessen ökonomischer Kern, nämlich Konsumzurückhaltung der Aktiven zugunsten des Konsums der nicht mehr Aktiven kann auch grenzüberschreitend organisiert werden.

Am direktesten lässt sich ein derartiger Erwerb von Auslandsvermögen im Rahmen eines kapitalgedeckten Rentensystems mit der Rentenfinanzierung in alternden Gesellschaften verknüpfen: Die Pensionsfonds investieren verstärkt in ausländischen Vermögenstiteln und bieten diese in der späteren – dem fortgeschrittenen demographischen Zyklus entsprechenden – Phase des volkswirtschaftlichen Entsparens wieder zum Verkauf an. Es sind dann ausländische Fonds, Unternehmen und Privatpersonen, die die angebotenen Vermögenswerte übernehmen und so die Bilanz der Ansprüche zugunsten des Auslands verändern.

Der zunehmende Rekurs auf ausländisches Sozialprodukt lässt sich auch im Rahmen eines Umlageverfahrens arrangieren. Aber der Erwerb und spätere Verkauf von Auslandsvermögen könnte dann nicht direkt von den für die Renten verantwortlichen Agenturen vorgenommen werden; denn im Umlageverfahren wird nichts angespart. Es wäre der Staat, der in die Bresche zu springen hätte. In der Ansparphase müsste er – steuerfinanzierte – Haushaltsüberschüsse in ausländischen Titeln anlegen und mit dem Erlös aus dem späteren Verkauf (bzw. mit den durch Verlangsamung der Vermögensakkumulierung freiwerdenden Renditen) die Rentenkasse subventionieren. Einfacher wäre sicher die direkte Lösung über das Kapitaldeckungsverfahren.

Der Pferdefuß: Demographisches Potenzial ohne ökonomische Potenz

 

Aber das eigentliche Problem liegt ganz woanders: Das für diesen Lösungsweg benötigte „Ausland“ wird so ohne weiteres nicht zur Verfügung stehen. Denn fast alle – aus heutiger Sicht – wirtschaftlich relevanten Länder sehen sich mit genau dem gleichen Problem der gesellschaftlichen Alterung konfrontiert. Dies gilt für die wirtschaftlichen Großmächte Japan und USA, wenn auch für letztere in etwas geringerem Maße. Es gilt für Russland, es gilt für die dynamischen ostasiatischen und südostasiatischen Volkswirtschaften einschließlich Chinas und es gilt selbst für eine Reihe wirtschaftlich weniger ins Gewicht fallender Entwicklungsländer (u.a. Chile, Argentinien, Südafrika).

Wirtschaftlich gewichtet, haben wir es mit einem wahrhaft weltumspannenden Alterungsprozess – mit „global ageing“ – zu tun. Folglich weisen Investitionen dort, wo sie aus heutiger Sicht vor allem sinnvoll erscheinen, in Amerika oder Ostasien, keinen Ausweg aus dem kommenden Rentenengpass in Europa – ebenso wenig, wie Investitionen in Europa einen Ausweg für das japanische und das (weniger drückende) amerikanische Rentenproblem weisen. Wenn man den Gedanken weiter verfolgen will, muss man schon andere Weltregionen ins Blickfeld rücken. Welche wären das? Nach der gerade präsentierten Ausschlussliste bleiben noch übrig: Südasien, Zentral- und Westasien, Afrika und Teile Lateinamerikas. Hier gibt es in der Tat noch demographisches Potenzial, wie es dem in der Vergangenheit und teilweise selbst heute noch beschworenen Szenario der weltweiten Überbevölkerung entspricht. Während die Bevölkerung der wichtigsten westeuropäischen Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien) von zur Zeit ca. 300 Millionen bis zum Jahre 2050 auf ca. 265 Millionen abnehmen wird, ist zu erwarten, dass allein die Bevölkerung Indonesiens, Vietnams und der Philippinen, die noch vor fünfzig Jahren mit knapp 130 Millionen nur gut die Hälfte der genannten fünf europäischen Länder ausmachte, in weiteren fünfzig Jahren über 560 Millionen erreichen wird. Noch drastischere Bevölkerungszuwächse sind z.B. für die drei afrikanischen Länder Nigeria, Äthiopien und Volksrepublik Kongo abzusehen, von zur Zeit knapp 230 Millionen auf etwa 670 Millionen im Jahre 2050.[7]

Rasch wachsende Bevölkerungen korrespondieren mit einem geringen Anteil der Alten an der Gesamtbevölkerung, wie an der folgenden Illustration deutlich wird. Sie stellt am Beispiel einiger Länder aus unterschiedlichen Weltregionen die erwartete Entwicklung der altersmäßigen Bevölkerungszusammensetzung dar. Während für die europäischen Länder die bereits erwähnten Anteile von 30 bis fast 40 Prozent erreicht werden, sieht man bei den acht Ländern aus Asien, Lateinamerika, dem östlichen Mittelmeerraum und dem Mittleren Osten, von denen jedes im Jahre 2050 mindestens 100 Millionen Einwohner haben wird, dass der gegenwärtige Altersquotient von ca. 6-7 Prozent zwar steigt, jedoch auch in fünfzig Jahren mit 15-19 Prozent noch unter den aktuellen Werten der europäischen Länder liegen wird. In den drei afrikanischen Ländern wird der Altersquotient auch in fünfzig Jahren noch unter 8 Prozent liegen.

Percentage of Population over Sixty Years Old, 1995-2040

 

 

2000

2005

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

Italien

23,6

24,5

26,1

27,6

29,6

32,5

35,6

38,1

39,2

Spanien

21,1

21,6

22,8

24,2

26,4

29,4

32,6

35,7

38,1

Deutschland

22,7

24,1

25,1

27,0

29,6

33,1

36,3

37,4

37,6

Frankreich

20,4

20,5

22,5

24,6

26,5

28,4

30,0

31,1

31,5

Großbritannien

20,8

21,6

23,3

24,7

26,4

28,4

30,1

30,7

30,8

USA

16,3

17,0

18,8

21,3

24,1

26,5

27,7

28,0

28,0

Brasilien

7,6

8,1

9,0

10,4

12,1

14,1

15,9

17,5

19,4

Mexiko

6,5

7,2

8,1

9,3

11,0

12,7

14,5

16,8

19,0

Indonesien

7,3

8,0

8,4

9,7

11,2

13,0

14,5

16,4

18,6

Vietnam

7,2

6,9

6,8

7,6

9,3

11,4

13,3

15,2

17,1

Ägypten

6,8

7,0

7,7

9,0

10,5

11,9

13,2

14,5

16,2

Iran

6,5

6,4

6,5

7,3

8,7

10,2

11,8

13,7

16,1

Türkei

6,5

6,1

6,2

7,2

8,9

10,8

12,4

14,0

15,6

Philippinen

5,7

6,1

6,8

7,9

9,2

10,6

12,0

13,6

15,2

Kongo

4,4

4,4

4,3

4,4

4,5

4,7

5,1

5,6

6,4

Nigeria

4,2

4,2

4,3

4,5

4,8

5,3

5,9

6,8

7,9

Äthiopien

4,5

4,4

4,3

4,4

4,5

4,6

4,9

5,3

5,9

Japan

23,1

26,0

29,8

32,0

32,9

33,8

34,9

36,7

37,6

Für alle in den Vergleich aufgenommenen Länder können wir von einer Komplementarität der demographischen Wachstumszyklen ausgehen, auf die sich eine Komplementarität im Zyklus von Sparen und Entsparen stützen könnte. Vereinfacht ausgedrückt: Solange ein Land auch in fünfzig Jahren noch einen Altersquotienten aufweist, der unter demjenigen liegt, der heute in Europa üblich ist, kann es zur Lösung des Problems beitragen. Aber haben diese und vergleichbare Länder genug wirtschaftliche Masse und Dynamik, um ein wachsendes angestrebtes kollektives Handelsbilanzdefizit der alternden OECD-Welt (ganz zu schweigen von China) mit ihren Exportüberschüssen zu füllen? Die Antwort fällt zur Zeit eindeutig negativ aus, falls wir dabei in erster Linie an Nigeria, Äthiopien und den Kongo denken. Länder mit einer immer noch sehr vorteilhaften Altersstruktur und immerhin mittlerem Einkommen wie Mexiko und die Türkei sind aber selbst Mitglieder der OECD, und auch Bevölkerungsgiganten wie Brasilien und Indonesien sind bereits heute ein nicht zu vernachlässigender Teil der globalisierten Wirtschaft – warum sollen wir diese und andere Länder mit beachtlichem wirtschaftlichem Potenzial eigentlich nicht in unsere Überlegungen zur langfristigen Stabilisierung der europäischen Alterssicherungssysteme aufnehmen? Die Antwort liegt auf der Hand, denn nicht nur das gegenwärtige wirtschaftliche Potenzial, sondern auch die wirtschaftliche Dynamik der letzten zehn Jahre spricht nicht wirklich dafür, unsere Überlegungen zum Ausgangspunkt einer neuen Strategie der Alterssicherung zu machen.

 

Die entwicklungspolitische Herausforderung

(Es käme darauf an, in den demographisch jungen Ländern wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in Bewegung zu setzen, unabhängig davon, ob die jeweiligen sozio-politischen Umstände dies derzeit begünstigen oder nicht. Die politische Aufgabe wäre es, günstige Umstände zu schaffen.)

(Der Westen hat sich nie ernsthaft die Entwicklung der Dritten Welt zum prioritären Ziel gesetzt.)

Man könnte es dabei belassen und sich auf die „ernsthaften“ Optionen zum Umgang mit der Alterssicherungsproblematik beschränken. Diese laufen allesamt darauf hinaus, aus dem oben dargestellten „Menü der Grausamkeiten“ (drastischer Einschnitt im Konsumstandard bei der Verrentung, drastische Konsumeinschränkung der Aktiven, erheblich längere Lebensarbeitszeiten) die gesellschaftlich bekömmlichste Auswahl zu treffen. Daran wird wohl auch kein Weg vorbei führen. Man kann aber dennoch das Potenzial, das in der grundsätzlichen Komplementarität alter und junger Gesellschaften liegt, als politische Herausforderung begreifen. Um dieses Potenzial zur Abmilderung der erwähnten „Grausamkeiten“ zu nutzen, käme es darauf an, die jungen Gesellschaften möglichst schnell auf den Weg anhaltend hohen wirtschaftlichen Wachstums zu bringen.

Einst wurde die Rohstoffgewinnung in peripheren Regionen für die Weltwirtschaft erschlossen, weil es den Erschließern opportun erschien. Die „zugehörigen“ Gesellschaften wurden dabei für die damals geltenden Belange der expandierenden Weltwirtschaft umfunktioniert, unabhängig davon, welche Form des Wirtschaftens dem jeweiligen gesellschaftlichen Zustand/Entwicklungsstand entsprach. In einer ähnlichen Logik müsste nunmehr das „demographische Potenzial“ der weltwirtschaftlichen Peripherie erschlossen werden. Anders ausgedrückt: es käme darauf an, dort wirtschaftliche Entwicklungsprozesse in Bewegung zu setzen, unabhängig davon, ob die jeweiligen sozio-politischen Umstände dies derzeit begünstigen oder nicht. Die politische Aufgabe wäre es, günstige Umstände zu schaffen.

Ein neuer, demographisch motivierter, Kolonialismus? Nur bei oberflächlicher Betrachtung! In der Vergangenheit war die „Indienststellung“ peripherer Wirtschaftspotenziale oft mit gewaltsamer Einflussnahme auf lokale politische Prozesse verbunden. Die Folgen waren meist negativ für die späteren Chancen der betroffenen Gesellschaften/Völker, am wachsenden weltweiten Wohlstand teilzuhaben. Eine „Indienststellung“ des demographischen Potenzials hingegen würde den Aspirationen der peripheren Bevölkerungen voll entgegenkommen; denn es würde bedeuten, sie auf den Pfad rascher Erhöhung ihres eigenen Wohlstands zu bringen.

Die Frage ist also nicht: Sollte/darf man Derartiges in Betracht ziehen. Es handelt sich nicht um das Andenken einer neuen Etappe des alt-bekannten nördlichen Imperialismus vis-a-vis dem Süden. Die Frage ist vielmehr: Gibt es Chancen, in relativ kurzer Zeit, die weltwirtschaftliche Peripherie von ihren Wachstumshindernissen zu befreien und – im Interesse des alternden Nordens und des noch jungen Südens – eine ähnliche wirtschaftliche Dynamik in Gang zu bringen, wie wir sie seit Jahrzehnten aus Ostasien kennen. Die Antwort „kaum“ liegt sicher sehr nahe. Die vielfältigen strukturellen Entwicklungshemmnisse in weiten Teilen der demographisch jungen Weltregionen liegen auf der Hand: Fehlende physische Infrastruktur ist dabei noch das geringste. Schwerer wiegen die entwicklungsfeindlichen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten; denn sie lassen sich nicht durch eine wirtschaftliche Kraftanstrengung nach Art eines Marshall-Plans abbauen. Vielmehr sind sie als Vorbedingung dafür zu sehen, dass ein anhaltender wirtschaftlicher Akkumulationsprozess in Gang kommt. Und was die Induzierung und Beschleunigung solcher Prozesse von außen betrifft, sollten vier Jahrzehnte internationaler „Entwicklungszusammenarbeit“ wahrlich große Skepsis erzeugt haben.

Andererseits muss man sehen, dass der Norden bzw. der Westen sich nie wirklich ernsthaft die Entwicklung der Dritten Welt zum prioritären Ziel gesetzt hat. Die Transferzahlungen (überwiegend Kredite zu Vorzugsbedingungen), die unter dem Titel „Entwicklungshilfe“ flossen, sind eine Sache. Eine andere sind Marktregulierungen, welche die strukturellen Nachteile der peripheren Regionen in der Weltwirtschaft bekräftigten, bzw. in keiner Weise ausgleichen. Dazu gehören u.a.

·         Marktzugangsbeschränkungen für eine Reihe von Produkten, mit denen Entwicklungsländer schon früh wettbewerbsfähig sein konnten;

·         die Weigerung, für wichtige Rohstoffe ähnliche Marktordnungen zu schaffen, wie man sie in weiten Teilen des Nordens für die heimische Agrarwirtschaft etabliert hat;

·         die wiederholte Weigerung, überschuldeten Ländern einen raschen wirtschaftlichen Neuanfang ohne exzessive Schuldenlast zu ermöglichen;

·         die Unterstützung, die der Norden aus strategischen Gründen immer wieder entwicklungsuntauglichen (oft genug korrupten) Regimen zukommen ließ, was mitunter sogar auf eine aktive Bekämpfung fortschrittlicher gesellschaftlicher Kräfte hinauslief.

Insgesamt ist die Feststellung zutreffend, dass der Norden dem Süden die nachholende Entwicklung nicht gerade erleichtert hat. Das schließt aber auch die Aussage mit ein, dass der Norden wesentlich mehr für die Entwicklung des Südens tun könnte, als er bisher getan hat. Vor allem könnte er Regeln für die Weltwirtschaft setzen, die dezidiert die Entwicklungschancen des Südens begünstigen, auch wenn sie dem Norden kurzfristig Wettbewerbsnachteile und schlechtere terms of trade bescheren sollten. Und natürlich könnte der Norden auch den Ressourcentransfer in den Süden erhöhen. Erleichterter Zugang zu Märkten und Ressourcen, Befreiung von den wirtschaftspolitischen Hypotheken der Vergangenheit, all das könnte mithelfen, Veränderungsprozesse anzustoßen, die ihrerseits günstigere gesellschaftliche Vorbedingungen für künftige Entwicklung herbeiführen. Der Norden könnte solche Prozesse gezielt unterstützen, indem er sowohl deren tragende Kräfte unterstützt als auch deren an politisierter Rentenökonomie orientierten Gegner unter Druck setzt.

Die Staaten des Nordens könnten aber noch mehr tun, als die Weichen günstig zu stellen für die autonome Entfaltung peripherer weltwirtschaftlicher Regionen. Sie könnten Investitionsströme bewusst in diese Regionen lenken, und zwar bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom „Willen des Marktes“. Die Staaten des Nordens könnten bestimmte Länder des Südens als ökonomische Schutzgebiete adoptieren, die es mit allen Mitteln zu entwickeln gilt, analog zur Regionalentwicklungspolitik innerhalb von Staaten. Eine derartige Umlenkung von Ressourcen würde entsprechende politische Prioritäten voraussetzen. Sie wäre politisch vorstellbar, wenn die Entwicklung der südlichen „Adoptivländer“ als vorrangige Investition in die nationale (bzw. kollektive europäische) Alterssicherung begriffen würde. Unter dieser Voraussetzung würden Fragen der allokativen Effizienz, der Vereinbarkeit mit ordnungspolitischen Prinzipien und auch der verteilungspolitischen Fairness zurücktreten gegenüber der Erreichung des politisch gesetzten Ziels. D.h., die Verteilung der Investitionen im Raum wäre nicht dem Markt und den in ihm zum Ausdruck kommenden Präferenzen der Wirtschaftssubjekte zu überlassen, sondern der Markt wäre so zu beeinflussen, dass er die gewünschte Verteilung hervorbringt. Gegebenenfalls wäre das „Votum“ des Marktes politisch zu „überstimmen“.

Es würde die Möglichkeiten dieses Aufsatzes übersteigen, die denkbaren Ansätze forcierter regionaler Entwicklung, sozusagen gegen die Schwerkraft des Marktes, näher zu erkunden und zu diskutieren. Hier kommt es uns darauf an, den politischen Charakter eines derartigen Vorhabens deutlich zu machen. Bevor eine globalisierte Rentenlösung von der Art, wie sie hier angedacht wird, Realität werden kann, muss eine gründliche Revision bestehender wirtschaftspolitischer Präferenzordnungen den Spielraum für eine der Lösungsstrategie angemessene Nord-Süd-Kooperation schaffen.


[1] United Nations Population Division, World Population Prospects: The 2000 Revision, New York 2001.

[2] Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sondergutachten des Sozialbeirats zur Rentenreform, Berlin 2001.

[3] Herwig Birg: Demographic Ageing and Population Decline in 21st Century Germany – Consequences for the Systems of Social Insurance, New York 2000: United Nations (UN/POP/PRA/2000/5).

[4] Herwig Birg: Demographic Ageing and Population Decline in 21st Century Germany – Consequences for the Systems of Social Insurance, New York 2000: United Nations (UN/POP/PRA/2000/5).

[5] United Nations Population Division, Replacement Migration: Is It a Solution to Declining and Ageing Populations?, New York 2000.

[6] Unter den in Deutschland lohnabhängig beschäftigten Ausländern aus den zahlenmäßig wichtigsten Herkunftsländern - der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien und Italien - findet sich nur ein verschwindend geringer Prozentsatz von Personen mit Abitur oder einem vergleichbaren Abschluss (maximal 3% bei den Männern und 5% bei den Frauen). Dagegen weisen über 20% keinerlei Ausbildung auf, und je nach Herkunftsland haben zwar 35-50% die Haupt- oder Realschule abgeschlossen, jedoch keine darüber hinausgehende formale Ausbildung. Etwa 60% der lohnabhängigen Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Italien sowie ca. 70% der Migranten aus Griechenland und der Türkei sind un- und angelernte Arbeiter, im Vergleich zu 25% der Deutschen und 30% der übrigen Westeuropäer (Wolfgang Seifert, Berufliche Integration von Zuwanderern in Deutschland, Gutachten für die "Unabhängige Kommission Zuwanderung" beim Bundesministerium des Inneren, Düsseldorf 2001). In anderen Ländern der EU sind ähnliche Unterschiede zu beobachten; so macht z.B. in Frankreich, den Niederlanden und Österreich der Anteil un- und angelernter Arbeiter bei den einheimischen Erwerbstätigen lediglich 14-18% aus, bei den Nicht-EU-Ausländern liegt er dagegen zwischen 36% und 50% (Wolfgang Seifert, Geschlossene Grenzen – offene Gesellschaften? Migrations- und Integrationsprozesse in westlichen Industrienationen,  Frankfurt/New York 2000, S. 238; die Zahlen sind nicht direkt mit den für Deutschland angegebenen vergleichbar).

[7] Eigene Berechnungen aufgrund von United Nations Population Division, World Population Prospects, The 2000 Revision, New York 2001.

Alfred Pfaller

*1942; Sozialwissenschaftler; Redakteur der Zeitschrift "Internationale Politik und Gesellschaft", Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn; pfallera@fes.de

Lothar Witte

*1955; Sozialwissenschaftler; Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn; wittel@fes.de


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 11/2001