Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2001

Dirk Messner:

 

Kooperative Weltmacht

Die Zukunft der Europäischen Union in der neuen Weltpolitik

 

 

Eine Dekade nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes wird deutlich, dass die internationale Politik sich tiefgreifend verändern, vielleicht neu erfinden muss, um den neuen Anforderungen der vernetzten Weltwirtschaft und –gesellschaft gerecht zu werden. Drei Problemkonstellationen veranschaulichen die globale Gemengelage:

·        Die Verwerfungen der Asienkrise, das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Seattle und der MAI-Initiative der OECD, die fortbestehenden Volatilitäten auf den globalen Finanzmärkten, unzureichende Initiativen zur sozialen und ökologischen Flankierung der Weltwirtschaft sowie die ökonomische Marginalisierung ganzer Weltregionen in der globalen Ökonomie zeigen, dass es an einem tragfähigen Ordnungsrahmen für die Weltwirtschaft mangelt (Altvater 2000). In einer hochgradig interdependenten globalen Ökonomie ist dies eine alarmierende Feststellung. Es mangelt an politischem Willen und „global leadership“ um die drängenden Probleme anzugehen. Fred Bergsten bringt die Situation auf den Punkt: Die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen (in den USA und in der EU) „react on an ad hoc basis to virtually every problem that arises while failing to anticipate readily foreseeable obstacles“ (Bergsten 1999, 23). „... the gulf between policy requirements and operating reality is enormous“ (Bergsten 1999, 21).

·        Viele globale Probleme überfordern die Nationalstaaten. Diese Einsicht ist mittlerweile im politischen Tagesgeschäft angekommen. Begriffe wie „Global Governance“ oder „Weltinnenpolitik“ finden sukzessive Eingang in politische Diskurse und Parteiprogramme. Doch auch für die Weltpolitik gilt, was Bergsten für die Weltwirtschaftspolitik feststellt: die wachsende politische Sensibilität für die neuen Herausforderungen hat sich noch längst nicht in institutionellen Innovationen, politischen Prioritätensetzungen und realen Investitionen zur globalen Problemlösung niedergeschlagen (Fues/ Hamm 2001).

·        Wir leben in einer zunehmend multipolaren Welt, die angesichts weltumspannender Probleme auf internationale Kooperation und „global governance“ angewiesen ist. Doch die einzig verbliebene Supermacht USA orientiert sich, worauf Samuel Huntington zu Recht kritisch hinweist, immer öfter an einem „global unilateralism“ und dem Konzept des „benevolent hegemon“, „acting as if this were a unipolar world“(Huntington1999, 40). Die Weigerung der USA, die neuen weltpolitischen Realitäten wahrzunehmen, ihre Vormachtstellung einzuschränken und globale Kooperation zu lernen, koinzidiert bisher mit der Unfähigkeit der Europäischen Union (und anderer weltpolitischer Akteure), den USA eine vergleichbar starke Macht zur Seite zu stellen und weltpolitische Initiative und Verantwortung zu übernehmen (Müller 2000).

Dies ist der Hintergrund, vor dem im Folgenden die Zukunft der europäischen Außenpolitik diskutiert werden soll.

 

Europäische Außenpolitik zwischen Aufbruch und Orientierungslosigkeit

Die Europäische Union beginnt sich seit Mitte der 1990er Jahre sukzessive als außenpolitischer Akteur zu konstituieren. Die Handlungsunfähigkeit der EU im ehemaligen Jugoslawien im Verlauf der 1990er Jahre, die militärische, logistische und propagandistische Übermacht der USA gegenüber ihren Verbündeten, die im Kosovo-Krieg sichtbar wurde, die Verärgerung der Europäer über zunehmende Alleingänge der Supermacht USA in zentralen weltpolitischen Fragen oder auch der Streit innerhalb der EU sowie zwischen dieser und den USA um die Neubesetzung des Chefsessels des IWF im Frühjahr 2000 lösen endlich Debatten um die Rolle der EU auf weltpolitischer Bühne aus. Hinzu kommt, dass die europäische Währungsunion die EU de facto in eine Weltwährungsmacht transformiert und die politische Vereinigung der EU-Staaten beschleunigt hat. Nach und nach setzt sich in den Euroländern die Erkenntnis durch, dass kein europäischer Nationalstaat im Alleingang in der vernetzten Welt international handlungs- und durchsetzungsfähig sein kann. Nur eine Bündelung der Kräfte verspricht außenpolitisches Gewicht. Es bleibt nicht beim Dialog - die EU schafft auch neue Fakten in ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: Mit Javier Solana ist endlich ein „Mister GASP“ berufen, die Anstrengungen zum Aufbau gemeinsamer militärischer Kapazitäten gewinnen ungewöhnlich rasch Konturen (ESVP), auch wenn der Aufbau einer europäischen Armee noch Zukunftsmusik zu sein scheint. Im Rahmen des Balkan-Stabilitätspaktes richtet sich die EU auf ein langfristiges Engagement in dieser europäischen Krisenregion ein und bemüht sich zu zeigen, dass sie in der Lage ist, in ihrem unmittelbaren Umfeld - im Verbund mit UNO und NATO - für Stabilität, Wiederaufbau, vielleicht sogar Demokratisierung zu sorgen.

Obwohl sich in der Außenpolitik der EU einiges bewegt, ergibt sich daraus noch kein Gesamtpanorama, keine klare Sicht auf zukünftige globale Herausforderungen, keine Prioritäten, keine erkennbaren Kurz- und Langfristziele, keine Richtung, kein abgeklärtes Selbstverständnis von der eigenen Rolle in der Welt des 21. Jahrhunderts. Die Agenda entsteht eher aus Reaktionen auf aktuelle Krisen (gestern Osttimor, heute der Balkan, morgen Subsahara-Afrika?) und bleibt bisher ohne Langfristperspektive. Die aktuelle GASP-Diskussion wird zudem durch den „Kosovo-Faktor“ überdeterminiert und militärisch enggeführt. Die Frage nach Legitimität, Reichweite und Grenzen humanitärer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte sowie militärischen Kapazitäten der EU zu deren Durchsetzung sind sicher ein wichtiges Thema der internationalen Politik. Der GASP-Prozess müsste sich jedoch der gesamten Breite der weltpolitischen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts stellen, die sich aus der Globalisierung ergeben.

Noch denken die handlungsmächtigen Akteure der EU nicht in weltpolitischen und globalen Kategorien. Es mangelt an ordnenden Ideen, einem Leitbild oder zumindest Leitfragen für die außen- und weltpolitischen Such- und Lernprozesse der EU: Hat die EU ein Bild von den wesentlichen Herausforderungen der Globalisierung, den neuen Kräftefeldern der Weltpolitik und Kernelementen einer politischen Ordnung für die Welt des 21. Jahrhunderts? Hat sie die personellen und institutionellen Kapazitäten dazu, in eine solche Richtung systematisch Fragen zu formulieren und Antworten zu finden? Mit welchen Themen, Normen und Visionen will die EU zukünftig weltweit identifiziert werden? Welche Rolle will die EU in der Weltpolitik der kommenden Dekaden spielen? Was sind ihre strategischen Interessen und wie gedenkt sie diese durchzusetzen? Welche Partner sind für eine aktivere Weltpolitik der EU von besonderer Bedeutung? In welche Richtung sollen die transatlantischen Beziehungen mit den USA weiterentwickelt werden?

Während die Protagonisten der GASP vor allem damit beschäftigt sind, sich selbst und die Skeptiker von der Sinnhaftigkeit einer sukzessiven Vergemeinschaftung der Außenpolitik zu überzeugen und daher ihr Augenmerk auf das kurzfristig Machbare konzentrieren müssen, sind drei wirksame Bremssysteme sichtbar, die die Kräfte zur Durchsetzung einer handlungsfähigen europäischen Außenpolitik unterminieren könnten.

  • Der erste Bremsmechanismus entwickelt sich aus dem Zusammenwirken derjenigen, die – mit einer gewissen Selbstzufriedenheit - nach dem schwierigen und erfolgreichen Projekt der Währungsunion nun zunächst das Erreichte stabilisieren wollen, sowie denjenigen, denen die Vergemeinschaftung sowieso zu weit geht und die vor weiteren Experimenten warnen. Beide Gruppen mahnen eine „Atempause“ an und warnen vor neuen EU-Großprojekten.
  • Eine zweite Bremsspur droht durch die anstehenden und aus vielen Gründen wichtigen Erweiterungsrunden zu entstehen, die ohne Zweifel viel Kraft, Konzentration und Geld kosten werden und schwierige institutionelle Reformen der EU notwendig machen. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass sich die EU weiterhin vor allem mit sich selbst und ihrem immer komplexeren Innenleben beschäftigt.
  • Die dritte Bremswirkung entsteht aus den allgegenwärtigen Selbstzweifeln an der eigenen globalen Handlungsfähigkeit, die sich nicht zuletzt in den Studien und Publikationen vieler Europa-Experten finden: die außenpolitischen Streitereien zwischen den EU-Staaten, die zum Beispiel im Bosnien-Konflikt sichtbar wurden; die militärische Schwäche der EU; die langatmigen Entscheidungsfindungsprozesse; die Intransparenz von Kompetenzstrukturen; die in der Regel reaktive Rolle der EU in der internationalen Politik; das Fehlen konzeptioneller Beiträge Europas zu Kernfragen der Weltpolitik; all dies sind hinlänglich beschriebene Faktoren, die in der Eigen- wie in der Fremdwahrnehmung Zweifel an der außenpolitischen Kompetenz und dem Handlungswillen der EU nähren.

 

Die Gretchenfrage: will Europa Weltmacht werden?

Die EU scheint nicht imstande und nicht willens zu sein, auf der neuen Bühne der Weltpolitik eine Rolle als „global player“ einzunehmen. Da klingt es beinahe schon optimistisch, wenn Eberhard Rhein (1998, 336) im European Foreign Affairs Review schreibt: „ It is likely that the future Europe will be forced to involve itself in world affairs with an intensity that few observers dare to envisage today.“ (Hervorhebung D.M.) Doch die Zukunft hat längst begonnen; zu Beginn des 21. Jahrhunderts findet Weltpolitik im Zeitraffer statt. Es steht zu befürchten, dass die Welt keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten und Überforderungen der EU nehmen wird. Der Zusammenbruch der sozialistischen Länder sowie die Beschleunigung der Globalisierung hat die alte Weltordnung hinweggefegt. Nun werden bestehende internationale Ordnungsrahmen umgebaut und neue Strukturen, Kraftfelder, Allianzen, inter- und supranationale Organisationen und Regelungsmechanismen entstehen. Ein „window of opportunity“ zur Gestaltung des Globalisierungsprozesses, des zukünftigen internationalen Systems, der neuen Weltwirtschaft und den Grundmustern einer „Global-Governance“-Architektur öffnet sich. Die Weichenstellungen für das 21. Jahrhundert werden heute und nicht in ferner Zukunft vorgenommen: wer zu spät kommt, den straft die Geschichte – er hat sich an die Regeln der Architekten der ersten Stunde anzupassen. Charles A. Kupchan (1999, 20) vom US-amerikanischen Council on Foreign Relations stellt zu Recht fest: „The coming decade represents a unique window of opportunity; the United States should plan for the future (of foreign policy and of changing global landscape) while it still enjoys preponderance, and not wait until the diffusion of power has already made international politics more competitive and unpredictable.“

Die EU muss also in den kommenden Jahren einen Quantensprung vollziehen, der großen politischen Willen, konzeptionelle Kraft und Reformfähigkeit voraussetzt: sie muss die Erweiterung der Union bewältigen, die Vertiefung der Integration und innere Reformen in Richtung politischer Union vorantreiben und zugleich Handlungsfähigkeit als „global player“ aufbauen. Gelingt dieser Dreisprung nicht, wird die EU zu einem Objekt der neuen Weltpolitik ohne Einfluss auf die Dynamiken der Globalisierung, die das 21. Jahrhundert entscheidend prägen werden. Und die Globalisierung findet nicht etwa „draußen in der Welt“ statt. Sie greift tief in die Entwicklungen von Regionen und Nationen hinein und ist durch nationale Regierungen im Alleingang nicht mehr beherrschbar. Die Frage lautet also: Will die EU weltweit mitgestalten und Verantwortung übernehmen, eine aktive und konstruktive Rolle in einer globalisierten Welt spielen, oder will sie zu einer passiven, reaktiven und tendenziell sich abschließenden Notgemeinschaft zur Bewältigung komplexer Globalisierungsfolgen (einer Festung Europa) mutieren und sich in einem „luxuriösen Protektorat“ mit „großzügiger Mitbestimmung“ unter US-amerikanischer Führung einrichten? (Bahr 1998, 36 f.) Die EU steht also vor der weitreichenden Entscheidung, ob sie Weltmacht werden will. Erst wenn diese Gretchenfrage beantwortet ist, stellen sich die Fragen nach konkreten Wegen, Instrumenten, der Reichweite und den Grenzen einer kooperationsorientierten Weltmacht EU.

 

Globalisierung verändert die Grundmuster der Weltpolitik

„Weltmacht“, das klingt nach weltweiter Militärpräsenz, egoistischer Durchsetzung nationaler Interessen zur eigenen Wohlstandssteigerung, Sicherung von Einflusssphären, „indispensable nation“, Hegemonie oder - positiv gewendet - „Interventionsmacht, (die) draußen in der Welt Frieden stiftet“ (Ischinger 1998). Doch diese Assoziationen bleiben der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts verhaftet, in der militärisch zu lösende Sicherheitsprobleme und militärisch flankierte Machtpolitik von Nationalstaaten im Zentrum der Weltpolitik standen. Die Globalisierung schafft eine neue Welt, die durch immer stärkere Vernetzung, wechselseitige Verwundbarkeiten, Interdependenzen, grenzüberschreitende und globale Problemlagen und geteilte Souveränitäten charakterisiert ist. Nahezu jedes Politikfeld besitzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts grenzüberschreitende oder gar globale Dimensionen. Die Reichweite „nationaler“ Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt-, Energie-, Technologie-, Verbraucherschutz- oder Sicherheitspolitik wird in der Epoche des Globalismus immer kürzer. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik werden fließend (Messner 2000). Die Souveränität der Nationalstaaten erodiert, der Primat der Politik und politische Handlungsfähigkeit sind zukünftig immer stärker von grenzüberschreitender und globaler Kooperation abhängig.

Weltpolitik und Weltmacht müssen unter diesen Bedingungen neu buchstabiert werden. Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts wird zwar auch klassische Sicherheitspolitik, ökonomisch basierte Interessenpolitik und stabilitätsschaffende Friedenspolitik sein – vor allem aber wird sie zur Gestaltung und institutionellen Einbettung der janusköpfigen Globalisierung beitragen müssen. In einer Welt, in der Ökonomie, Kommunikation, Wissensproduktion und nicht zuletzt die natürliche Umwelt globale Dimensionen besitzen und eine zunehmende Zahl von Problemen grenzüberschreitend sind, wird Weltpolitik zu einer Art Weltinnenpolitik werden müssen (Habermas 1998, Haass 1999, Messner/ Nuscheler 1999). Dieser neue globale Referenzrahmen erfordert einen neuen Typus von Außenpolitik, einen neuen Typus von Weltmacht und die Entwicklung einer kooperativen „Global-Governance“-Architektur. Weltmacht im 21. Jahrhundert sein zu wollen, heißt, sich an den globalen Prozessen und ihrer Gestaltung aktiv zu beteiligen. Die Frage nach der Weltmacht stellt sich daher auch nicht nur der EU, sondern auch anderen „Weltmächten im Wartestand“ wie Japan, China, Indien, dem MERCOSUR.

 

Die alte Weltpolitik: Komplexe Interdependenzen und Abwehr der Einmischung in „innere Angelegenheiten“

Die Staaten sind schon lange ökonomisch, politisch, sozial und militärisch miteinander vernetzt. In den siebziger Jahren wurde das Phänomen der „komplexen Interdependenz“ zwischen formal unabhängigen Staaten diskutiert. Die komplexe Interdependenz bedroht die externe Souveränität der Staaten. Das Konzept der externen Souveränität beschreibt das Verhältnis zwischen Staaten in einem internationalen System, das keine Zentralinstanz und kein Machtmonopol kennt und daher durch Anarchie gekennzeichnet ist. Staaten sind in diesem Kontext darauf ausgerichtet, ihre externe Souveränität so weit wie möglich zu wahren und für ihre Sicherheit zu sorgen. Externe Souveränität wahren heißt, externe Einmischung in interne Angelegenheiten (z.B. durch militärischen Druck, kulturelle „Überfremdung“, aggressive Exportförderung anderer Staaten) soweit wie möglich auszuschließen. Diskutiert wurden also vor allem „externe Schocks“ für nationale Gesellschaften, die durch zwischenstaatliche Beziehungen verringert oder moderiert werden sollten.

In der realistischen und im Kern auch der neorealistischen Konzeption internationaler Politik (Waltz 1979) werden „nationale Interessen“ und das Verhalten der Nationalstaaten aus der anarchischen Struktur des Internationalen Systems abgeleitet. Diese führt zu Wettbewerb und Konflikthaftigkeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen und begrenzt strukturell die Kooperationsfähigkeit der Staaten sowie die Chance, gemeinsame Interessen zu erkennen. Im Ergebnis können die Staaten ihre externe Souveränität nur durch „adversarial competition“ (Reincke 1998, 61) verteidigen. Auch in der liberalen Konzeption (Oye 1986; Czempiel 1993) ist das Internationale System durch Anarchie und daher den Wettbewerb der Staaten gekennzeichnet. Aber im Prozess der sich verdichtenden Interaktion der Staaten können unter spezifischen Umständen Kooperation und reziproke Beziehungen entstehen. Aus dieser Perspektive können die Staaten ihre externe Souveränität am ehesten durch die Einbettung ihrer Wettbewerbsbeziehungen in internationale Regime oder multilaterale Verhandlungssysteme erhalten. „Cooperative Competition“ (Reinicke 1998, 61) ist hier der Schlüssel zur Bewältigung internationaler Interdependenzbeziehungen und zur Reduzierung von Einmischung in innere Angelegenheiten.

 

Die neue Weltpolitik: Globalisierung und Organisation wechselseitiger Einmischung in „innere Angelegenheiten“

Die Globalisierung geht über das Muster „komplexer Interdependenz“ entscheidend hinaus. Erstens verdichten sich nicht nur zwischenstaatliche Beziehungen, sondern nationale und „externe“ Strukturen überkreuzen und vermischen sich, so dass die klare Trennung zwischen Innen und Außen erodiert. „Nationale“ ökonomische Probleme sind in der neuen Weltwirtschaft oft global verursacht und können durch Regierungen nur unzureichend bekämpft werden, wie die Finanzkrisen der vergangenen Jahre eindrucksvoll gezeigt haben; Umweltprobleme haben oft grenzüberschreitende oder gar globale Dimensionen, so dass nationale Lösungen zu kurz greifen; Verbraucherschutz im Internet, dem neuen Weltmarkt der Zukunft, entzieht sich nationaler Regulierung; ethische Regeln zum Umgang mit der Gentechnologie machen in einer Welt globaler Produktions- und Wissenschaftsstandorte auf nationaler Ebene nur begrenzt Sinn; globale NGOs, weltweit gewachsenes Menschenrechtsbewusstsein und globale Kommunikationsmöglichkeiten in Echtzeit tragen zu einer Aufwertung des globalen Menschenrechtsschutzes und einer Relativierung der Souveränitätsrechte der Staaten bei (Hauchler/ Messner/ Nuscheler 1999). In der Epoche des Globalismus geht es nicht mehr nur um „externe Schocks“, denen nationale Gesellschaften ausgesetzt wären, sondern darum, dass in vielen Bereichen nationale Systeme zu Subsystemen grenzüberschreitender Dynamiken werden. Wolfgang Reinicke beschreibt den Übergang von der Interdependenz zwischen Staaten zur Globalisierung am Beispiel der Weltwirtschaft wie folgt: "... as an economic dynamic, ... globalization differs from interdependence in that it subsumes or internalizes into its own institutional structure economic activities that previously took place between national markets, that is, between distinct economic and political units.“ (Reinicke 1998, 63)

Die Globalisierung integriert also ökonomische Räume und entkoppelt sie damit - nicht vollständig aber in Teilbereichen - von der Reichweite der nationalstaatlichen Politik. Dieser Prozess schwächt die interne Souveränität der Staaten, zwar nicht im legalen, jedoch im operationalen Sinne. Im Rahmen „komplexer Interdependenz“ ging es um externe Souveränität, also das Management zwischenstaatlicher Beziehungen, die Abwehr der Einmischung in interne Angelegenheiten und vor allem um die Herstellung von Sicherheit im anarchischen internationalen System. In der Epoche des Globalismus sind die Nationalstaaten darüber hinaus in einer zunehmenden Zahl von Politikfeldern nicht mehr in der Lage, Probleme in ihren territorialen Grenzen im Alleingang zu lösen und öffentliche Interessen durchzusetzen, da zentrale Steuerungsressourcen außerhalb der Grenzen verteilt sind und der Standortwettbewerb die Handlungsoptionen nationaler Regierungen begrenzt. Die interne Souveränität der Staaten, die sich auf die Beziehungen des Staates mit gesellschaftlichen Akteuren innerhalb des nationalen Territoriums bezieht, wird unterminiert. Diese Erosion kann nur durch die Bündelung „geteilter Souveränitäten“, also die Zusammenarbeit mit anderen Staaten, inter- und supranationalen Organisationen und privaten Akteuren gestoppt werden. In der neuen Weltpolitik geht es nicht mehr um die Abwehr von Einmischung in die inneren Angelegenheiten, sondern geradezu umgekehrt um die Organisation von wechselseitiger Einmischung, um grenzüberschreitende Problemlagen und „verstreute Souveränitäten und Handlungspotenziale“ zusammenzuführen.

 

Kooperation als Grundmuster der neuen Weltpolitik

Die Grundmuster der internationalen Politik verändern sich beim Übergang vom Regime der Interdependenz zu dem der Globalisierung fundamental. Unter den Bedingungen der Interdependenz waren sich Realisten und Liberale einig, dass die Anarchie des internationalen Systems den Wettbewerb der Staaten als Mittel zur Verteidigung ihrer externen Souveränität fördert; während die (Neo-)Realisten "adversarial competition", also dauerhafte Instabilität und Konfliktträchtigkeit in Folge der Versuche der Staaten, ihre Handlungsspielräume auf Kosten anderer zu erweitern, für wahrscheinlich hielten, und die Liberalen immerhin Spielräume für "cooperative competition" sahen. Unter den Bedingungen der Globalisierung steht die Sicherung interner Souveränität im Vordergrund. Diese lässt sich nicht im Wettbewerb mit anderen Staaten sichern, sondern nur durch Kooperation zwischen ihnen (und Akteuren der Gesellschaftswelt). Die Handlungsfähigkeit der einzelnen Nationalstaaten kann nur noch kollektiv gesichert werden. Dies gilt nicht nur für kleine und mittlere Länder, sondern auch für Schwergewichte wie die USA, China oder Indien. Globale Finanz-, Kommunikations- und Wissensströme machen auch vor ihren Grenzen nicht halt und die Lösung zentraler Weltprobleme – Klima, internationale Kriminalität, Weltbevölkerung – kann keine Nation im Alleingang lösen.

Während "cooperative competition" das Interaktionsmuster zwischenstaatlicher Beziehungen im Kontext komplexer Interdependenz auf den Begriff bringt, verkehrt sich die Formel zur politischen Bewältigung der Globalisierung aufgrund der skizzierten strukturellen Veränderungen in "competitive cooperation". Wettbewerb bezieht sich hier nicht auf Ergebnisse, sondern auf den Prozess, der eine kooperative Ordnung begründet. "Wettbewerb" unter den Bedingungen von „competitive cooperation“ muss also verstanden werden als ein gemeinsamer Such- und Lernprozess, in dessen Verlauf unterschiedliche Problemlösungsvorstellungen ausprobiert werden (Wettbewerb der Idee), der letztlich aber auf kooperativen Übereinkünften und Regimen aufbaut. Das kooperative Ordnungsmuster ist also die Grundlage, um das Phänomen der geteilten Souveränitäten bearbeiten zu können. Der Wettbewerb der Ideen ist die Methode, um eine möglichst große Vielfalt von Lösungsansätzen hervorbringen zu können.

Diese Sicht auf die Globalisierung bedeutet nicht, dass Konflikte oder Kriege künftig ausgeschlossen sind. Sobald es jedoch um die Gestaltung von Weltpolitik geht, zeigt das skizzierte Interpretationsmuster die Grenzen von Strategien hegemonialer oder gar unilateraler Durchsetzung und Verteidigung "nationaler Interessen" gegenüber anderen Staaten auf. Die Entwicklungsdynamik der Globalisierung erzwingt geradezu kooperative Interaktionsmuster, erstens weil ansonsten die umfassende Erosion staatlicher Souveränität droht, und zweitens weil konfliktive Strategien in einer zunehmenden Zahl von Problemfeldern definitiv zum Scheitern verurteilt sind. Die Zukunft der Nationalstaaten, ihre Handlungsfähigkeit bei der Lösung interner und grenzüberschreitender Probleme, hängt von ihrer Kooperationsfähigkeit und der Herausbildung einer kooperativen „Global-Governance“-Architektur ab. Die Weltmächte des 21. Jahrhunderts werden sich auf diese Herausforderungen einstellen müssen.

Pointiert bringt Richard N. Haass, stellvertretender Direktor der Brookings Institution und Warner vor unilateralen Alleingängen der Supermacht USA, den Wandel des internationalen Systems in Richtung einer "international society" auf den Begriff: "The proper goal for American foreign policy, then, is to encourage a multipolarity characterized by cooperation and concert rather than competition and conflict. In such a world, order would not be limited to peace based on a balance of power or a fear of escalation, but would be founded in a broader agreement on global purposes and problems." (Haass 1999, 38)

Eine Weltmacht EU sollte ihren Beitrag dazu leisten, Kooperation und Kompetenz zur Lösung globaler Probleme und zur Gestaltung der Globalisierung zu organisieren. „Global Governance“ lautet der Terminus, der die Entwicklungsrichtung angibt. Globale Regelwerke dort, wo nationale Handlungsfähigkeit abnimmt; verbindliche Spielregeln für die Zusammenarbeit der Staaten und privater Akteure; Vereinbarungen, Regime und Verträge als Schutz vor Willkür; internationales Recht zur Zügelung nationaler Macht; Sanktionsmöglichkeiten gegen Verletzungen gemeinsamer Regeln; Aufbau tragfähiger Sicherheitssysteme (kooperieren statt beherrschen, überzeugen statt oktroyieren). Multilateralismus statt Unilateralismus heißen die neuen Wegmarken.

Eine kooperative „Global-Governance“-Architektur entsteht nicht von allein. Schon gar nicht ist ihre Konstruktion derzeit von der einzigen Supermacht zu erwarten, die eher nach der Maxime „sowenig Multilaterismus wie notwendig, soviel Multilateralimus wie eben nötig“ agiert und die internationalen Institutionen nach eigenem Gusto umzugestalten versucht. Entschließt sich die EU, nicht Weltmacht werden zu wollen, leistet sie dem starken Trend eines unilateralistischen Politikstils der USA Vorschub. Die in den 1990er Jahren oft diskutierte Option der im wesentlichen auf Europa bezogen „Regionalmacht EU“ hat sich in der „Epoche des Globalismus“ jedenfalls erledigt. Die regionale Begrenzung macht nur Sinn in Bezug auf Sicherheitspolitik und militärische Interventionen zum Schutz fundamentaler Menschenrechte (hier sollten künftig die UN sowie regionale Organisationen in den jeweiligen Weltregionen zuständig sein). Doch wo es um das Management globaler Interdependenzen geht, bleibt nur die Option „Weltmacht“.

 

Globale Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts: militärisch nicht zu lösen

In der immer dichter vernetzten Welt gehen Prozesse der Strukturbildung mit der Entstehung neuer Konfliktlinien einher. Vier wichtige Konfliktkonstellationen zeichnen sich ab:

Soziale Konflikte: Der globale Arbeitsmarkt führt weltweit zu harter Konkurrenz zwischen unqualifizierten Arbeitskräften. Davon sind insbesondere schlecht ausgebildete Menschen in den Industrieländern betroffen, deren Einkommen im Vergleich zu den besser qualifizierten Arbeitnehmern immer weiter zurückfallen. Im Norden entsteht eine neue Ungleichheit. Zugleich werden viele Ökonomien des Südens sowie einige Transformationsgesellschaften durch die Anforderungen der Weltwirtschaft überfordert. In Afrika und Südasien könnten ganze Länder zu "Weltsozialfällen" werden. Ob die Globalisierung weltweite Spannungen und Disparitäten abbauen hilft oder zu mehr Fragmentierung, Konflikten oder auch einem neuen Protektionismus führt, wird auch davon abhängen, ob sich im globalen System wirksame Mechanismen sozialen Ausgleichs entwickeln werden.

Ökologische Verteilungskonflikte: Der weltweite Umweltverbrauch steigt weiter an. Da es sich bei der Umwelt um ein begrenztes Gemeinschaftsgut handelt, bedarf deren Nutzung, unter Berücksichtigung der Erneuerbarkeit der Ressourcen, globaler Vereinbarungen darüber, wer wie viel davon beanspruchen kann. Damit stehen schwierige ökologische Verteilungskonflikte auf der internationalen Tagesordnung, wie bereits im Verlauf der Klimaverhandlungen der vergangenen Jahre deutlich wurde.

Moralisch-ethische Konflikte: Der beschleunigte technologische Fortschritt wirft in vielen Bereichen neue ethische Fragen auf und zwingt auch zu gesetzgeberischen Regulierungen. Angesichts der Mobilität von Unternehmen und von Forschungseinrichtungen laufen nationalstaatliche Gesetzesinitiativen allerdings oft ins Leere. Diskurse über die Chancen und Risiken der Gentechnologie, der Transplantationsmedizin oder der Präimplantationsdiagnostik sowie die Suche nach wirkungsvollen Regulierungen in diesen ethisch schwierigen Feldern müssen daher grenzüberschreitend organisiert werden.

Konkurrierende Weltbilder: Das Ende der Ost-West-Bipolarität hat die Universalisierung wichtiger gesellschaftlicher Leitbilder (wie Menschenrechte, Demokratie, Marktwirtschaft) vorangebracht. Die Globalisierung wirkt einerseits in die gleiche Richtung und provoziert andererseits in den durch die weltweiten Umbruchprozesse betroffenen Gesellschaften die Herausbildung ganz unterschiedlicher Weltbilder. Diese reflektieren potenzielle Konfliktlinien in der sich herausbildenden Weltgesellschaft (Kramer 1997). In den westlichen Ländern wird oft von einer zunehmenden "Verwestlichung der Welt" ausgegangen und die USA feiern sich sogar als die "indispensable nation" (Madeleine Albright), von der alle Welt lernen müsse, um in der globalen Welt überleben zu können. In Asien ist derweil von den westlichen Industriestaaten als den "Newly Decaying Countries" die Rede. Hier wird das „pazifische Jahrhundert“ beschworen, auch wenn dieses Gegenprojekt zur westlichen Moderne nach der Asienkrise einen Dämpfer bekommen hat. Benjamin Barber (1996) hat ein weiteres polarisiertes Szenario der Weltentwicklung entworfen. "McWorld" steht für die globale Integration über den Markt sowie gleichgeschaltete Konsum- und Kulturwelten. "Djihad" symbolisiert die anti-westlich orientierte Rückentwicklung zum neuen Stammesbewusstsein auf der Grundlage militanter Fundamentalismen. "Djihad" und "McWorld" sind parallele Trends, die in entgegengesetzte Richtung wirken. Jean-Chistophe Rufin (1993) sieht einen "neuen Limes" zwischen den zivilisierten Regionen des Nordens und den zerfallenden, von der Globalisierung überforderten, unzivilisierten und gewalttätigen Ländern des Südens entstehen. Aus der Perspektive Rufins muss sich der Norden von der "barbarischen Welt" und dem Katastrophenpotenzial des Südens abzukoppeln versuchen. Diese divergierenden Weltbilder reflektieren weniger reale Entwicklungen als vielmehr weltfremde "Siegergefühle" vermeintlicher Globalisierungsgewinner und Globalisierungsängste der in der Welt an den Rand gedrängten Akteure. Sie veranschaulichen jedoch, dass ohne massive Anstrengungen zur Intensivierung des weltweiten kulturellen Austausches sowie wirksame Strategien zur Reduzierung der Zahl der Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer in der Weltgesellschaft die Welt des 21. Jahrhunderts durch vielfältige grenzüberschreitende und bürgerkriegsähnliche Konflikte gekennzeichnet sein könnte.

 

Machtressourcen in der neuen Weltpolitik: Europa hat Nachholbedarf

Die entscheidenden Grundlagen der Macht in der neuen Weltpolitik bilden, wie Ernst-Otto Czempiel (1999a, 99 ff.) in seinen Überlegungen zur „Klugen Macht“ in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts überzeugend zeigt, Information, Wissen und die Fähigkeit, Kooperation zu organisieren. Wer die Problemkonstellationen der Zukunft erkennt und seine Partner dazu veranlasst, sie in einer spezifischen Weise zu interpretieren und zu behandeln, verfügt über bedeutende Macht. Der Export von global wirksamen Ideen, Orientierungen und Leitbildern ist daher eine wesentliche Machtquelle. Wirkungsvolle Definitions- und Konsensmacht ist darauf ausgerichtet, vorzugeben, was zentrale Probleme sind, in welche Richtung Lösungen gesucht werden müssen und wie Konflikte vermieden oder bearbeitet werden können. Sie schafft damit einen gemeinsamen Rahmen und Leitbilder, die die Situationsdeutung harmonisieren, und zielt darauf ab, Ergebniskontrolle sowie die Mobilisierung und Koordination von Kooperation zu verbinden. In einer immer dichter vernetzten Welt, in der die Steuerungsressourcen zur Lösung gemeinsamer Probleme immer breiter gestreut sind, gewinnt die Macht, Problemkonstellationen und Lösungswege zu definieren sowie Konsens und Kooperation in eine vorgezeichnete Richtung zu organisieren und so zukünftige Handlungsmuster zu beeinflussen, stark an Bedeutung.

Die entwickeltste Form der Macht des 21. Jahrhunderts ist die "strukturelle Macht" oder besser die "Fähigkeit zur Strukturbildung". Sie befähigt dazu, über Strukturen (also Institutionen und Regeln) die zukünftigen Handlungen anderer Akteure sowie deren Interaktionen über lange Zeiträume zu beeinflussen, ohne deren Autonomie direkt in Frage zu stellen. So werden die Akteure, denen es in den kommenden Jahren gelingt, durch Definitions- und Konsensmacht sowie die darauf aufbauende Fähigkeit zur Strukturbildung, die Reorganisation der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, die Weiterentwicklung der WTO, den Aufbau eines wirksamen globalen Klimaregimes oder auch die Herausbildung neuer Institutionen zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte zu prägen, die zukünftige Ausrichtung von Weltwirtschaft und -politik signifikant beeinflussen können. Strukturelle Macht beruht nicht auf Zwang oder Druck, sondern setzt auf Konsens. „The operative word here is ‚persuade’. Areas of consensus will begin to emerge only following strategic dialogues – intensive conversations with other governments and opinion leaders ... If ‘negotiations’ were at the center of Cold War diplomacy, ‘consultation’ must form the core of post-Cold War foreign policy ... to build or strengthen global institutions.“ (Haass 1999, 42 f.)

Was heißt das für die EU? Sie muss ihre Kräfte bündeln. Sie muss lernen, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen und strategische Ziele zu formulieren. um den weltpolitischen Such- und Lernprozessen eine Richtung zu geben. Aber Europa muss auch aufrüsten, nämlich in den Feldern Wissenschaft, Bildung, Spitzenforschung, globales Agenda-Setting, Aufbau weltpolitischer Kompetenz. Dies setzt voraus, dass Europa global denken und agieren lernt: In Deutschland arbeiten 200-300 wissenschaftliche Politikberater im weiten Feld der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik – in den USA sind es mehr als 10.000! Man täusche sich nicht; die Macht der USA basiert nicht nur, nicht einmal im Kern, auf ihrer militärischen Stärke (Seitz 1998, 176): Die besten Universitäten der Welt, die global wirksame Interpretationsmuster produzieren, sind US-amerikanisch, und sie ziehen die jungen Eliten der gesamten Welt an. Die amerikanischen Think Tanks und Zeitschriften wie Foreign Affairs, Foreign Policy und National Interest setzen global die Orientierungsmarken der außenpolitischen Diskussion. Die Lehrbücher, nach denen zukünftige Ökonomen, Manager und Experten für Weltpolitik und –wirtschaft studieren, sind überwiegend US-amerikanisch. Zudem spricht und lernt die Welt englisch.

Ein langes Programm ließe sich an dieser Stelle entwickeln. Es kann nur angedeutet werden:

·        In der EU sind dringend Investitionen in anwendungsorientierte Forschung in den Bereichen Weltwirtschaft und –politik erforderlich; wer die Welt mitgestalten will, der muss ein genaues Bild von ihr haben und in den entsprechenden Feldern der internationalen Diskussion führend sein. Einige Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen in Euroland sollten zu Kristallisationspunkten europäischer Such- und Lernprozesse für die Gestaltung globaler Politik und Wirtschaft entwickelt werden; hier müssen die Funktionseliten für internationale Führungsaufgaben qualifiziert werden und Räume entstehen, in denen zunehmend europäisch gedacht wird; diese Zentren sollten zugleich Anziehungspunkte für nicht-europäische Spitzenforscher und Führungskräfte sein.

·        In den USA werden mittlerweile 40 Prozent der Doktortitel an Ausländer vergeben. Diese Spitzenkräfte bilden den Pool, aus dem weltumspannende ökonomische und politische Netzwerke und Lerngemeinschaften entstehen. Wer sich „die Welt ins Haus holt“, der kann von vielfältigen Erfahrungen lernen und hat die Chance, eigene „Weltbilder“ zu vermitteln. In der EU besteht in diesem zentralen Feld großer Nachholbedarf.

·        Soll europäische Definitions- und Konsensmacht als Grundlage einer wirksamen gemeinsamen Außenpolitik entwickelt werden, so setzt dies nicht nur Elitendiskurse voraus, sondern eine europäische Öffentlichkeit, in der über die Rolle der EU in der Welt debattiert werden kann. Nur so können europäische Sichtweisen und Identitäten entstehen und kann nationale Engstirnigkeit abgebaut werden. Hier eröffnet sich ein weites, bisher völlig unzureichend bearbeitetes Feld für Medien, Parteien, Verbände, zivilgesellschaftliche Organisationen und Bildungseinrichtungen.

 

Europäische Stärken in der neuen Weltpolitik

Es gibt nicht nur gute Argumente, mit denen die Grenzen der derzeitigen globalen Handlungsfähigkeit der EU umschrieben werden können. Es gibt auch sehr gute Gründe für europäisches Selbstbewusstsein und es gibt „EU-Kapital“, das in den Prozess der Zivilisierung und Gestaltung der neuen Weltpolitik eingebracht werden kann:

Die große historische Leistung des europäischen Integrationswerkes in seinen ersten vier Jahrzehnten bestand erstens darin, nach zwei verheerenden Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Beziehungen ihrer Mitgliedsländer auf eine stabile und friedliche Grundlage zu stellen. Die europäische Integration hat einen grausamen Kriegs- und Krisenherd in eine demokratische Friedensregion verwandelt. Es lohnt sich, über Lehren aus dieser einzigartigen „friedenschaffenden Maßnahme“ für andere Weltregionen nachzudenken.

In einer instabilen Welt ist die EU zweitens ein wichtiges Stabilitätszentrum. Durch die angestrebte Erweiterung der EU „nach Osten“ sowie den Balkan-Stabilitätspakt leistet die Union einen enormen Beitrag zur Ausdehnung dieser Stabilitätszone. Stabilität in Europa bedeutet auch mehr Stabilität in einer global vernetzten Welt. Dieses in der Welt bisher einmalige Vorhaben der Verdichtung von Kooperation bis hin zur Vergemeinschaftung ganzer Politikfelder über viele territoriale Grenzen hinweg und die daraus folgenden international wirksamen Stabilitätsgewinne werden in der Diskussion unterbewertet. Die USA betonen gern ihr besonderes globales Engagement (und dessen Kosten). Eine EU, die sich anschickte, global orientiert zu denken und zu handeln, könnte mit Fug und Recht auf ihre Erfolgsbilanz in Sachen Friedenswahrung und -schaffung, Stabilisierung und Demokratisierung in einer zentralen Weltregion verweisen.

Die EU steht drittens für das Projekt eines zivilisierten Kapitalismus. Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit, soziale Entwicklung, Gerechtigkeit und Chancengleichheit werden zusammengedacht. Soziale Marktwirtschaft soll die Kräfte des Marktes nutzen und dessen destruktive Kräfte bändigen. Es wird immer deutlicher, dass auch die globale Marktwirtschaft krisenanfällig wird und zur Exklusion ganzer Weltregionen führen kann, wenn die sozialen Dimensionen der Ökonomie vernachlässigt werden. Die EU muss ihr spezifisches Konzept von Marktwirtschaft globalisierungstauglich machen und aktiv in den Prozess der Gestaltung der Weltwirtschaft einbringen.

Das vielleicht entscheidende Kapital der EU für die Epoche des Globalismus besteht viertens in den kumulierten und internalisierten Ergebnissen aus vier Dekaden sich verdichtender Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten. Die sukzessive Überwindung nationalstaatlicher Borniertheiten, die Entwicklung gemeinsamer, europäischer Sichtweisen, alltägliche Kooperation und Koordination über nationale Grenzen hinweg, die Schaffung einer gemeinsamen Währung und – alles in allem und bei aller berechtigten Kritik – handlungsfähiger europäischer Strukturen, die Übertragung nationaler Souveränitäten auf gemeinsame Institutionen, die Bündelung „geteilter Souveränität“ zur Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit, die Schaffung verbindlicher europäischer Regel- und Rechtssysteme sowie die permanente Suche nach einem sinnvollen Gleichgewicht zwischen nationalstaatlichem, zwischenstaatlichem und supranationalem Handeln stellen einen unschätzbaren Erfahrungsschatz dar. Was jahrzehntelang von vielen europäischen und nicht-europäischen Beobachtern als (hoher) Preis und (ineffektiver) Ballast im Dienste der friedensschaffenden Funktionen der EU gegolten hat, könnte sich als Prototyp eines Ordnungsmusters erweisen, das nun auf globaler Ebene entwickelt werden muss, um der Globalisierungsfolgen Herr zu werden. Die Teilung (und Bündelung) von Souveränitäten zwischen Nationalstaaten, europäischen und zukünftig auch globalen Institutionen, die Joschka Fischer in seiner „Humboldt-Rede“ angedacht hat (Fischer 2000a), ist kein „Notnagel“, weil die Menschen den Nationalstaat nicht aufgeben wollen, sondern eine „europäische Schlüsselkompetenz“ (Schwengel 2000), um sich in der Mehrebenenpolitik der Global-Governance-Architektur der Zukunft bewegen zu können. Eine kooperationsorientierte Weltmacht EU, die das Austarieren von vielfältigen Interessen und deren Transformation in gemeinsame Interessen lange eingeübt hat, sollte in der neuen Weltpolitik über gute Startchancen verfügen.

 

Ein europäisches Projekt zur Gestaltung der Globalisierung

Es gibt in der EU durchaus Ansatzpunkte und Potenziale, die zu Kernelementen und Grundorientierungen einer europäischen Außen- und Globalpolitik verdichtet werden könnten. Sie würden sich deutlich von US-amerikanischen Vorstellungen unterscheiden.

Sozialmodell: Das angelsächsische und das kontinentaleuropäische Konzept von Marktwirtschaft und Demokratie unterscheiden sich, wie bereits dargestellt, signifikant. Zweifelsohne sind die europäische Ökonomie und ihr Sozialmodell reformbedürftig und müssen den neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Gesamtphilosophie – Wettbewerb und soziale Verpflichtung, Markt und Schutz vor der Gnadenlosigkeit des Marktes, soziale Gerechtigkeit sowie Leistungs- und Chancengerechtigkeit - gewinnt jedoch gerade unter den Bedingungen globaler Ökonomie, die zu permanentem Wandel zwingt, zu sozialen Ungleichgewichten tendiert und infolgedessen anfällig ist für politische Instabilitäten, an Bedeutung. Die Europäer sollten sich engagiert in die Diskussion um „globalization with a human face“ einmischen, statt auf internationaler Ebene und in den internationalen Organisationen den USA das Feld zu überlassen.

Geoökonomie: Die USA und die EU verfolgen unterschiedliche geoökonomische Konzepte, die sich auf die Begriffe „Hegemonialität“ versus „Regionalität“ bringen lassen (Schwengel 2000). Die EU unterstützt aus wirtschaftlichen, aber auch aus politischen Gründen (z.B. im Rahmen ihrer Mittelmeerpolitik, des Balkan-Stabilitätspaktes, in der Zusammenarbeit mit dem MERCOSUR) Ansätze regionaler Kooperation und Integration. Dahinter steht die Vorstellung, dass eine stabile und dynamische Weltwirtschaft auf dicht vernetzten Ökonomien in den Weltregionen aufbaut. Die USA setzen demgegenüber auf das Prinzip der Marktöffnung, auf Freihandelszonen (Typus NAFTA) und bilaterale ökonomische Beziehungen mit „strategischen Partnern“, denen Sonderbeziehungen und spezifische Handelsabkommen angeboten werden. In Lateinamerika ist seit den 1990er Jahren z.B. Argentinien ein strategischer Partner, mit dem Ziel, potenzielle geoökonomische und -politische Ambitionen und Handlungsspielräume der ibero-amerikanischen Regionalmacht Brasilien zu begrenzen und eine Ausdehnung des MERCOSUR auf ganz Lateinamerika zu erschweren.

Geopolitik: In der Geopolitik lassen sich die gleichen Grundmuster von Regionalität versus Hegemonialität aufzeigen. In der Logik der Europäischen Integration liegt eine Global-Governance-Architektur, die auf handlungsfähigen und institutionell eng vernetzten Weltregionen sowie intensiven Kooperationsmustern zwischen den Regionen basiert. Die USA präferieren lockere regionale Zusammenschlüsse, in denen sie möglichst eine zentrale Rolle spielen können (Typus APEC) oder die Zusammenarbeit mit strategischen Partnern, um das eigene politische Gewicht in der jeweiligen Weltregion zu stärken. Diese Strategie reproduziert die asymmetrischen Beziehungen zwischen den USA und dem jeweiligen Partner und unterminiert die Bündelung von Macht und Handlungsfähigkeit durch regionale Kooperation in den Weltregionen. In ihrer hierarchischen Weltordnungsvorstellung spielt die Supermacht USA die Rolle eines „global protector of last resort“ (Kupchan 1999, 20).

Multilateralismus: Die EU setzt in der Weltpolitik auf Multilateralismus, der gemeinsame Interessen, Machtteilung, Reziprozität und Interessenabstimmung mit anderen betont und auf verpflichtende gemeinsame Spielregeln sowie Kooperation ausgerichtet ist. Die USA präferieren seit Mitte der 1990er Jahre altbewährte Instrumente klassischer Machtpolitik. Sie pflegen bilaterale „Sonderbeziehungen“ zu strategischen Partnern und setzen immer öfter auf Unilateralismus oder die Verweigerung von globaler Regelbildung, der sie sich dann auch selbst unterwerfen müssten (Gadzey 1994, Huntington 1999, Holloway 2000). Multilateralismus wird nur im Schatten des „benevolent hegemon“ akzeptiert: „... multilateralism must be preceded by unilateralism“, schreibt Robert Kagan (1998, 33), Direktor des „US Leadership Project“ des Carnegie Endowment for International Peace. Manch einflussreicher US-Autor diskutiert gar „A new age of liberal imperialism“ (Rieff 1999). James Chace und Nicholas Rizopoulos (1999, 3) kommentieren diese Entwicklung treffend: „Empires have no interest in cooperation within an international system; they aspire to be the international system.“

Sicherheit: Die Europäer haben nach zwei verheerenden Weltkriegen verinnerlicht, dass Unverwundbarkeit eine Illusion ist. Die USA hält sich Dank ihrer Geographie und dem Glauben an technische Lösungen für Bedrohungsprobleme (z.B. durch Raketenabwehrsysteme) für unverwundbar, wenn nur die Höhe der Rüstungsausgaben entsprechende Maßnahmen zulässt. Daraus resultieren unterschiedliche sicherheitspolitische Grundüberzeugungen (Bertram 2000). Europäer denken im Falle internationaler Krisen eher an wirtschaftliche Zusammenarbeit, den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen, Entspannungspolitik sowie multilaterale Strukturbildung zur Einhegung von Konflikten und nur sehr nachgeordnet an militärische Interventionen zur Zerschlagung "feindlicher Strukturen", auch wenn die Investitionen in zivile Außenpolitik weiterhin gegenüber den Militärausgaben zu niedrig sind. Das europäische Bewusstsein von Verwundbarkeit und Interdependenz koinzidiert mit dem Konzept "kollektiver Sicherheit". Vor dem Hintergrund des Vertrauens in die eigene militärische Überlegenheit sind in der US-Außenpolitik militärische Reflexe weit ausgeprägter, und es dominieren weiterhin die Freund–Feind-Kategorien des Kalten Krieges, die z.B. in dem Begriff der "Schurkenstaaten" zum Ausdruck kommen. Nationalen militärischen Eigenanstrengungen kommen vor diesem Hintergrund eine höhere Bedeutung zu als "kollektiven Sicherheitsstrukturen", die die eigenen Handlungsspielräume einzuschränken scheinen.

Internationale Organisationen: Die EU unterstützen handlungsfähige, wenn auch zu reformierende Vereinte Nationen sowie leistungsfähige internationale Organisationen, denen in einer global vernetzten Welt wachsende Bedeutung zugeschrieben wird. Die USA verfolgen seit Jahren das Konzept schwacher VN, die zuweilen zur Legitimationsbeschaffung instrumentalisiert werden, deren Regeln und Institutionen sich die Supermacht aber immer weniger verpflichtet fühlt (Holloway 2000).

Globale Regelwerke: Die EU baut intern auf der Idee gemeinsamer Regelbildung und der Macht des Rechts zur Bändigung des Egoismus der Nationen auf. Die Stärkung und Weiterentwicklung des Völkerrechts und globaler Regelwerke als Grundlage internationaler Kooperation ergeben sich aus dieser Logik. Die USA vertrauen auf ihre Stärke. Nationale Handlungsspielräume in der Weltpolitik sollen nicht durch globale Regeln eingeschränkt werden. Sie misstrauen einem Ausbau des Völkerrechts, wie z.B. in den Auseinandersetzungen um den Internationalen Strafgerichtshof deutlich wurde.

Zugegeben, die Kernelemente realer US-Weltpolitik und potenzieller EU-Weltpolitik sind mit groben Pinselstrichen gemalt und daher an mancher Stelle überpointiert. Und die EU müsste zu einem gewaltigen außenpolitischen Sprung ansetzen, um Wirkungen in die angedeutete Richtung zu erzeugen (Schubert et al. 2000). Die Skizze zeigt jedoch, dass sich ein Profil für die Mitgestaltung der Globalisierung durch ein global handlungsfähiges und –williges Europa entwickeln lässt. In jedem Fall würde sich ein internationaler Wettbewerb der Ideen um die Eckpfeiler der sich entwickelnden Global-Governance-Architektur kreativitätssteigernd auswirken. Und als sicher kann gelten, dass die USA handlungsfähige Partner in der Weltpolitik benötigen, um den Weg zur Kooperation zurückzufinden. Monopole sind nicht nur in der Ökonomie schädlich.

 

Kooperative Weltmacht EU: Sechs erste Schritte

Natürlich ist die EU noch nicht in der Lage, die Rolle zu spielen, die in dem skizzierten Panorama angedacht ist. Die Agenda, die entwickelt werden müsste, um auf diesem Weg vorankommen, ist zu lang um an dieser Stelle im Detail entfaltet zu werden. Sicher ist: Ohne weitreichende institutionelle Reformen und eine sukzessive Vergemeinschaftung der Außenpolitik (nach dem Muster der Währungsunion), an deren Ende wohl ein europäischer Außenminister stünde, wird es langfristig keine kooperationsorientierte und gestaltungsfähige Weltmacht EU geben. Die Gestaltung der Globalisierung, vielleicht die wichtigste Herausforderung an die Politik des 21. Jahrhunderts, würde dann anderen überlassen. Vielleicht denkt Außenminister Fischer in diese Richtung, wenn er in einem Interview davon spricht, dass in der Zukunft „die Hauptautorität in Brüssel liegen soll und die Alltagsautoritäten in die Hauptstädte gehören“ (Fischer 2000b, 29). Der Übergang von der Konzeption zur Realisierung ließe sich durch sechs erste Schritte einleiten.

Die außenpolitischen Debatten europäisieren

Die außenpolitischen Diskussionen in der EU sind bisher primär national organisiert. Auf die Tagesordnung gehören eine Europäisierung der außenpolitischen Debatten und europaweite Dialoge über die zukünftige Rolle der EU in der Weltpolitik. „Europäische Außenpolitik“ darf nicht länger als kleinste Schnittmenge der Mitgliedsländer-Interessen verstanden werden. Ein breiter Dialog ist notwendig, weil die Herausbildung globaler Gestaltungsmacht der EU eine öffentliche Meinungsbildung als Legitimationsgrundlage braucht. Die Regierungen der Mitgliedsländer, die EU-Kommission, das Europäische Parlament und die europäischen Parteien könnten einen solchen Prozess in Gang setzen.

Vorstellung von der künftigen Weltordnung entwickeln

Will die EU im Prozess der Herausbildung einer kooperativen Global-Governance-Architektur eine zentrale Rolle spielen, muss sie eine Vorstellung vom anzustrebenden Ziel entwickeln. Andernfalls bleibt ihre Außenpolitik richtungslos. In den USA wird über einen derartigen Kompass intensiv und kontrovers nachgedacht wird (Berger 2000, de Santis 1998/99, Rice 2000, Spiro 2000, Zuckermann 1998). Fünf Fragen stellen sich:

·        Was sind die entscheidenden globalen Herausforderungen der kommenden zwei Dekaden?

·        Welche EU-Interessen sind davon betroffen und wie sind diese Betroffenheiten zu gewichten (Prioritätensetzung)?

·        In welche Richtung sollen die globalen Prozesse beeinflusst werden (Ziele)?

·        Welches sind die entscheidenden Stellschrauben, um Gestaltungsspielräume zu nutzen oder auszuweiten (Handlungsstrategien)?

·        Welche institutionellen Innovationen im europäischen politischen System sind notwendig, um globale Gestaltungsmacht zu entwickeln?

In den Vereinten Nationen mit einer Stimme sprechen

Die Union könnte rasch bedeutenden Einfluss auf internationale und globale Prozesse nehmen, wenn es gelänge, im Rahmen der UN und anderer zentraler Institutionen der Weltpolitik oder auch im Kontext der internationalen Klimapolitik mit einer Stimme zu sprechen. Wenn die vier europäischen Regierungen, die an den G 7/8-Gipfeln beteiligt sind, die Erweiterung dieses Clubs um wichtige Regionalmächte vorschlügen (z.B. China, Indien, Brasilien) oder die Mitgliedsstaaten der EU gemeinsam für substanzielle Reformen in IWF, Weltbank und WTO einträten, so würde ihre Stimme ohne Zweifel großes Gewicht haben. Neue Gestaltungsspielräume können nur entwickelt werden, wenn es gelingt, bereits bestehende konsequent zu nutzen .

Die transatlantischen Beziehungen vertiefen

Die Weiterentwicklung der transatlantischen Beziehungen ist zentral für die Zukunft der Weltpolitik. Ohne oder gar gegen die USA ist die Herausbildung einer kooperativen Global-Governance-Architektur ein aussichtsloses Projekt. Erforderlich sind gemeinsame Initiativen oder zumindest gemeinsame Such- und Lernprozesse in unterschiedlichsten Politikfeldern (Bergsten 1999). Doch die Atlantische Gemeinschaft verfügt jenseits der NATO über keine Institutionen, um die neuen Herausforderungen mit Nachdruck zu bearbeiten (Czempiel 1999b, Weidenfeld 1996). Die Ende 1995 in Madrid auf Wunsch der Europäer verabschiedete Neue Transatlantische Agenda hat keine sichtbare Gestalt angenommen. Es scheint, als wenn die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht nur wenig Anlass sehen, ihre eigenen Handlungsspielräume durch Mitspracherechte anderer einzuengen. Ein Neuanlauf ist daher notwendig, um einen den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepassten politischen Rahmen für die transatlantischen Beziehungen zu entwickeln und das organisatorische Gefüge der Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU über die militärischen Strukturen hinaus zu verbreitern.

Aus der Rolle des „Juniorpartners“ der USA heraustreten

Die Beziehungen zu den USA müssen nicht nur inhaltlich vertieft werden. Es geht auch um ein verändertes Verhältnis zwischen den beiden Partnern. Aus den europäischen Juniorpartnern der Vergangenheit wird sich sukzessive ein „Seniorpartner EU“ entwickeln. In diesem Prozess sind Anpassungen auf beiden Seiten notwendig. Die USA werden ihre Attitüde der „unbekümmerten Dominanz“ (Schmidt 2000, 7) abbauen müssen, während die EU globale Handlungsfähigkeit und Verantwortung einüben muss. Zu einer neuen Partnerschaft gehört die inhaltliche Auseinandersetzung über „Global-Governance“-Konzepte. Die Kritik an unilateralistischen Irrwegen der USA darf nicht den amerikanischen Intellektuellen (Huntington 1999; Haass 1999) überlassen bleiben. Sie sollte genauso zur Routine der transatlantischen Beziehungen gehören, wie offen artikulierte Sorgen von US-amerikanischer Seite über die Schwächen europäischer Außenpolitik. Die Formel sollte lauten: wechselseitige Kritikfähigkeit gleichberechtigter Partner auf der Grundlage eines stabilen Fundamentes an Gemeinsamkeiten.

Außenpolitische Konzepte gegenüber anderen weltpolitischen Akteuren entwickeln

Die USA sind eine „indispensable nation“ (Madeleine Albright),weil ohne sie wichtige globale Probleme nicht gelöst werden können. Aber „it is false in also implying, that other nations are dispensable“ (Huntington 1999, 37). Zur Gestaltung der Globalisierung bedarf es weltweiter Kooperation. Die angestrebte Konsens-, Definitions- und strukturelle Macht der EU bedarf der Unterfütterung mit tragfähigen bi- und multilateralen Beziehungen (Beziehungsmacht). In diesem Sinne muss Europa außenpolitische Konzepte, die auf dem Leitbild einer kooperativen Global-Governance-Architektur aufbauen, für vier Akteursgruppen entwickeln:

·        die Weltregionen, um zwischen ihnen einen Prozess der sich verdichtenden Kooperation anzuschieben;

·        die bevölkerungsreichen Staaten (vor allem China, Russland, Brasilien, Indien, Indonesien);

·        die heterogene Gruppe der Entwicklungsländer, die im Rahmen einer reformierten Entwicklungspolitik (Messner 2000b) in den Prozess der Neugestaltung der Weltpolitik einbezogen werden muss, um eine weitere Verschärfung ökonomischer und politischer Asymmetrien zu verhindern;

·        die neuen (privaten und öffentlichen) Akteure der Weltpolitik, die in globalen Politiknetzwerken (Reinicke/Deng 2000) neue Formen von „global public private partnership“ erproben.

Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass die weltpolitische Bedeutung der EU auch von der politischen, ökonomischen und kulturellen Ausstrahlung ihrer Binnenstrukturen abhängt. Die Reform der „europäischen Innenpolitik“ und die Entwicklung außenpolitischer Konsens- und Definitionsmacht der EU sind eng miteinander verbunden.

 

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