Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2001

Jacques Delors

 

Für eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess*

 

Sie werden sich sicher daran erinnern, dass man uns vor sechs oder acht Monaten, als einige unter uns, in Frankreich und anderswo, Fragen über die Zukunft Europas stellten, mit ohrenbetäubendem Stillschweigen antwortete.

Heute ist dies zum Glück nicht mehr der Fall, die Diskussion ist angelaufen und man kann sich nur darüber freuen. Allerdings sollte diese Diskussion sich nicht auf eine, sondern auf vier Fragen erstrecken: Welches Ziel streben wir an? Mit welchen Mitteln? Unter welchen institutionellen Bedingungen? Und in welchem Rechtsrahmen? Von den Institutionen zu sprechen, ohne auf die ersten beiden Fragen zu antworten, wäre weder vernünftig noch realistisch. Man würde auf diese Weise Tür und Tor öffnen für Missverständnisse, die sich in der weiteren Diskussion häufig als sehr belastend erweisen. Wenn Sie mir diese kurze methodologische Vorrede gestatten, sollten meiner Ansicht nach zunächst vier heute oftmals verwendete Begrifflichkeiten klargestellt werden.

Begriffliche Verständigung

Die vier Begriffe Föderalismus, Subsidiarität, Verfassung und Charta haben nicht für jedermann die gleiche Bedeutung.

Beginnen wir mit dem Wort "Föderalismus": Für die Verfechter des Föderalismus und Vorreiter der europäischen Einigung, die um die 30er Jahre herum mit großer Sorge die Gefahr eines erneuten Weltkrieges heraufziehen sahen, waren Nationalismus und Nation das Gleiche. Deshalb bekämpften sie damals die Nation. Heute sind einige von ihnen zu der Auffassung gelangt, dass sich die Nation verändert hat, auch wenn nach wie vor Wachsamkeit geboten ist, und dass deshalb Föderalismus nicht unbedingt das Verschwinden der Nationalstaaten bedeutet. Wenn alle, die sich in Frankreich an der Diskussion beteiligen, diese Überzeugung hätten, wären die Dinge klarer. Der Föderalismus war auch der Grundgedanke der Vereinigten Staaten von Europa. Ich stelle jedoch fest, dass heute niemand mehr als neue Grenze unserer Anstrengungen die Vereinigten Staaten von Europa in Anlehnung an die Vereinigten Staaten von Amerika nennt. Schließlich gibt es noch eine dritte Auffassung von Föderalismus, die meinen persönlichen Vorstellungen entspricht: der föderale Ansatz ist der einzige, der es gestattet zu definieren, wer was macht, also die Entscheidungs- und Handlungsträger verantwortlich zu machen und die verschiedenen Entscheidungsebenen klar voneinander zu unterscheiden. Somit ist Föderalismus auch eine Sicht auf das Regieren von Menschen und das Verwalten von Dingen. Wenn ausgehend davon ein Einverständnis über diesen Begriff erreicht werden könnte, wäre er nicht mehr dieses Schreckgespenst, das er heute für viele noch darstellt.

Subsidiarität: Bei vielen europäischen Parlamentariern und auch bei manchen Verfechtern Europas herrscht ein erhebliches Maß an Skepsis in Bezug auf die Subsidiarität, weil sie meinen, die endgültige Festlegung der jeweiligen Kompetenzen würde die Dynamik der europäischen Einigung beeinträchtigen. Aber wenn die europäischen Institutionen sich um alles kümmern sollen, besteht die Gefahr, dass die Bürger vollkommen den Überblick verlieren und zunehmender Widerstand entsteht. Ein recht starker Widerstand ist – zu Recht oder zu Unrecht – bereits in Deutschland seitens der Bundesländer zu spüren. Die Subsidiarität ist nichts Kompliziertes, sie ist auch ein philosophischer Gedanke: Probleme sollen möglichst nah bei den von der Lösung dieser Probleme Betroffenen angepackt werden, und umgekehrt soll weiter oben in der Machthierarchie angesetzt werden, wenn dort die Probleme besser gelöst werden können. Die Subsidiarität ist daher ein wesentlicher Grundsatz zur Klärung der Verhältnisse.

Verfassung: Die Franzosen stellen sich immer gerne vor, sie könnten die Zukunft mit Begriffen erschaffen. So hat plötzlich der Begriff "Verfassung" einen unglaublichen Modeeffekt bekommen. Diejenigen, die vorher sagten: "Nur keine Verfassung, wir sind doch souveräne Staaten. Wir sind bereit, einen Teil unserer Souveränität abzugeben, aber nur in Form eines internationalen Vertrages", sind dieselben, die heute eine Verfassung vorschlagen. Kühn und listig zugleich zerstören sie damit jedoch insgeheim das Gemeinschaftssystem, das die Fortschritte der letzten 50 Jahre ermöglicht hat. Sie erwähnen es gar nicht oder ersetzen es schlicht und einfach durch ein anderes. Ein Teil meines Vortrags wird daher den Fragen gewidmet sein: Was soll aus dem Gemeinschaftssystem werden? Welchen Anteil soll die intergouvernementale Zusammenarbeit einnehmen? Wie bereits gesagt, teile ich nicht den Enthusiasmus derer, die von dieser "Verfassungsmode" so angetan sind, denn man muss schauen, was sich dahinter verbirgt.

Schließlich zum Begriff Charta: Das ist die bemerkenswerteste Linie, die in den letzten zwei Jahren erfunden wurde. Dies geschah unter dem Druck der Nichtregierungsorganisationen, die hier eine Möglichkeit gefunden haben, eine Form von Demokratie auszuüben, die nicht die der Wahldemokratie ist, aber auch unter dem Druck gewisser Politiker, die sich sagen, dass die Charta zumindest den Willen der Europäer zum Zusammenleben verdeutlicht, eine Art Ehevertrag gewissermaßen. Manche gehen sogar noch weiter; nach ihren Vorstellungen sollte diese Charta zur Präambel einer Verfassung oder eines "Verfassungsbündnisses" werden. Ich verkenne weder die tiefgreifende Wirkung der Diskussion über die Charta noch die besonderen Rahmenbedingungen, unter denen diese Charta vorbereitet wird. Doch bleibt – ohne mich jetzt länger zu diesem Ihnen ja bekannten Thema äußern zu wollen – auf jeden Fall die Frage zu entscheiden, ob diese Charta deklaratorisch sein soll, als Ausdruck unseres Willens zum Zusammenleben, oder ob sie verbindlichen Charakter bekommen soll. In diesem Falle müsste die schwierige Frage der Konkurrenz zwischen zwei Rechtsordnungen zum Schutz der Grundrechte geregelt werden, nämlich einerseits derjenigen, die vom Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg garantiert wird und andererseits derjenigen, die vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geschützt wird. Allein dieses Thema könnte Stoff für ein ganzes Referat bieten.

Wie kann die erweiterte Union aussehen?

Da es hier darum geht, über die Avantgarde zu sprechen oder zumindest Anhaltspunkte für eine Fortführung der Diskussion vorzuschlagen, würde ich sagen, dass man nicht über die Avantgarde nachdenken kann, ohne zunächst über die Erweiterung nachzudenken. Die erste Frage, die ich persönlich immer gestellt habe, lautet: Wie sehen die realistischen Ziele für ein Europa mit dreißig Mitgliedstaaten aus? Es ist durchaus kein Pessimismus zu sagen: Wie soll ein Europa mit dreißig Mitgliedstaaten alle Ziele der Verträge von Maastricht und Amsterdam verwirklichen können, wo doch die Fünfzehn noch nicht einmal so weit sind? Deshalb glaube ich, dass die Dreißig sich wohlbedacht oder implizit mit weniger hohen Ambitionen begnügen werden, zumindest für die kommenden 20 oder 30 Jahre. Wenn man diese Frage bewusst stellt, dann um ein Abdriften hin zu einer Art Freihandelszone zu vermeiden und keine Kompromisse mehr zu schließen zwischen dem Europa als Raum und dem Europa als Macht. Es ist normal, diese Frage zu stellen. Manche Bewerberländer nehmen zwar Anstoß daran und sagen: "Wir sind absolut fähig, alle Ziele aus Ihrem Vertrag anzustreben!" Und sie sind aufrichtig dieser Meinung. Aber schauen Sie sich doch all diese Länder im Osten wie im Westen an: ich glaube, dies ist auf kurze Sicht nicht realistisch. Möchte man eine Verwässerung vermeiden, so drängt sich zwangsläufig der Gedanke einer Avantgarde auf, die ich später noch definieren werde.

Zweitens: die Notwendigkeit, der Schizophrenie ein Ende zu setzen. Wenn Sie die Unterhändler befragen, die gegenwärtig mit den Bewerberländern diskutieren, werden die Ihnen sagen, dass es sehr schwierig ist. Sie sind umso pessimistischer als die Detailfragen ihnen den Blick auf das Notwendige versperren. Aber wenn ich einen Regierungschef dieser Länder besuche und ihm sage: "Es stellen sich schwierige Probleme, die Gemeinsame Agrarpolitik, der freie Personenverkehr, Umwelt- und Energiefragen...", dann erhalte ich oft die Antwort: "Ja, aber letzte Woche hat mich einer von Ihren Regierungschefs besucht, der mir gesagt hat: "Wir werden das schnell in Ordnung bringen, der politische Wille wird über all das hinweghelfen." Diese Schizophrenie, die da heute zu beobachten ist, nährt das Gefühl der Frustration bei den Bewerberländern. In ihren Augen wirken die Unterhändler wie verabscheuungswürdige Bürokraten, die immer wieder mit neuen Anforderungen kommen, während die Politiker sagen: "Wir werden es schon schaffen!" Diese Schizophrenie ist schädlich – auch für die Glaubwürdigkeit des Europas der Fünfzehn. Denn diese Länder haben jetzt den Eindruck, dass wir uns ein wenig über sie lustig machen oder die Dinge nur ständig weiter hinauszögern wollen. Damit muss Schluss sein.

"Aber", werden Sie mir jetzt entgegnen, "wenn das Europa mit 30 Mitgliedstaaten nicht sofort das ist, was wir uns erträumen, ein politisches Europa, ein Europa, das Macht und Raum zugleich ist, welche historische Tragweite hat die Erweiterung dann überhaupt?" Ich lasse zwar alles offen, ich habe ja nur Fragen gestellt und meine persönlichen Antworten gegeben, aber ich glaube, dass die Historiker im Jahr 2025 sagen werden, die Europäer aus 30–32 Ländern haben gemeinsam ein geopolitisches Gebilde geschaffen, das durch den Kompromiss aus freiem Verkehr und Marktwirtschaft auf der einen, gewissen Spielregeln und der Existenz einer regulierenden Machtinstanz auf der anderen in gewisser Weise das Vorbild abgegeben hat für den künftigen Umgang mit der Globalisierung. Glauben Sie mir, das wäre bereits ein enormer historischer Erfolg, denn im Grunde geht es doch genau darum. Während wir hier in allzu klassischer Manier über unsere Probleme reden, ist die Globalisierung in vollem Gange. Schon denken ein paar gewitzte Köpfe darüber nach, wie man sie regieren kann. Ich denke also, dass wir dazu durchaus imstande sind und dies bereits eine beträchtliche Leistung wäre.

Wie lassen sich die Beitrittsverhandlungen wieder in Gang bringen?

Um zunächst einmal die Lage zu klären, habe ich drei Vorschläge zu machen:

Erstens glaube ich, dass man in Nizza nicht umhin kommen wird, einen Termin für den Abschluss der Verhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Ländern festzulegen. Wenn man die betreffenden Länder betrachtet, sollte man vernünftigerweise davon ausgehen können, dass die Verhandlungen Ende Dezember 2001 beendet sein werden. Dann wird nach objektiven Kriterien – der gleichen Art von Kriterien, auf die man sich für die Wirtschafts- und Währungsunion gestützt hat (ich darf daran erinnern, dass einige seinerzeit sagten, die WWU könne nur zu fünft oder zu sechst aufgebaut werden) – in einer sachlichen Atmosphäre ohne Emotionen über die Beitrittstermine und die Übergangsperioden (Dauer und Inhalte) entschieden werden können.

Zweitens stelle ich die Frage: Könnte man nicht die Europäische Konferenz zu einer ständigen Einrichtung machen, um diesen Ländern das Gefühl zu vermitteln, dass sie bereits der europäischen Familie angehören? Bei jedem Europäischen Rat sind auch die Regierungschefs der Bewerberländer eingeladen: ein oder zwei Stunden Diskussion, ein gemeinsames Mittagessen – das ist alles. Könnte man es nicht so einrichten, dass sich die Siebenundzwanzig oder Achtundzwanzig regelmäßig auf Außenministerebene begegnen und über bestimmte Fragen sprechen? Eine der wichtigsten für diese Länder ist die Sicherheit sowohl im Innern als auch nach außen. Ferner sollte man sich auch angewöhnen, ihnen in Bezug auf den gemeinschaftlichen "Acquis" nicht einfach nur zu sagen, was sie zu tun haben, sondern ihnen auch zuzuhören. Dies würde das Klima sicherlich verändern.

Drittens – aber dazu haben wir ein wenig Zeit vor uns – muss der künftige soziale und politische Pakt zwischen den Siebenundzwanzig genauer definiert werden. Anders gesagt: unsere Regierenden haben bisher immer so argumentiert, als würde diese Erweiterung "vereinheitlichend" wirken. Diese Länder würden sich allmählich auf den gesamten gemeinschaftlichen "Acquis" einstellen. Spanien und Portugal haben dies sehr gut geschafft, aber für die jüngsten drei Neuankömmlinge trifft dies schon weniger zu, und den jetzigen Beitrittskandidaten dürfte es noch mehr Schwierigkeiten bereiten. Nein – diese Erweiterung wird nicht "vereinheitlichend" wirken. Die betroffenen Länder haben gar nicht die entsprechenden Möglichkeiten. Darüber hinaus findet in Europa vor dem Hintergrund der Globalisierung ein Paradigmenwechsel statt. Deshalb muss dieser Pakt genauer definiert werden – nicht sofort, aber zu gegebener Zeit.

Eine offene Avantgarde

Nach der Erläuterung der Frage, weshalb eine Avantgarde notwendig ist, gilt es jetzt über diese Avantgarde nachzudenken. Dabei ist zunächst einmal zu unterstreichen, dass die getroffenen Vereinbarungen bereits übel beschnitten wurden, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten! Großbritannien und Dänemark dürfen das sogenannte "opting-out" praktizieren, d.h. dass sie nicht alle Bestandteile des gemeinschaftlichen "Acquis" anwenden. Daneben gibt es auch die "opting-in"-Länder, also diejenigen, die noch etwas weiter gehen, ohne dass bisher von einer "Verstärkten Zusammenarbeit" gesprochen worden wäre. Gemeint ist das Euroland zu elft bzw. morgen zu zwölft wie auch der Schengen-Raum. Sie werden jedoch selbst feststellen, dass dieses "opting-in" im Euroland nur nach einem Beschluss der Fünfzehn funktionieren kann, also einschließlich der Vier, die bisher nicht dazugehören. Das allein würde schon das Nachdenken über die Zukunft der verstärkten Kooperationen rechtfertigen. Denn wenn es eine Verstärkte Zusammenarbeit gäbe, würde dies das Vorhandensein eines rechtlichen Rahmens bedeuten, der es diesen Ländern gestatten würde, bestimmte Dinge für die Euro-Zone zu beschließen. Derzeit ist dies jedoch nicht der Fall, und in Frankreich sind viele Ammenmärchen erzählt worden über die Befugnisse der Euro-11. In Wirklichkeit gibt es solche Befugnisse gar nicht. Aber diese Ammenmärchen sind genau wie das blumige Gerede um die Verfassung Bestandteile des bewundernswerten Illusionsvermögens der Politik. Diese Art von Politik dominiert natürlich. Ich persönlich habe jedoch einen anderen Ausgangspunkt und versuche die Dinge so zu sagen, wie sie sind.

Zweite Frage: Was ist Sinn und Zweck der Avantgarde? Erweiterung und Vertiefung miteinander vereinbar zu machen. Allerdings ist dies eine offene Avantgarde, eine Avantgarde ohne Mauer. Es wird keine Mauer aufgerichtet. Diejenigen, die dies behaupten, sind genau die, die eine Erweiterung ohne Bedingungen mit einer Entwicklung in Richtung Freihandelszone wollen. Das sind Hintergedanken. Es handelt sich nicht um eine "zweite Liga", und es wird auch kein Bruch gewünscht, sondern ein durch den Vertrag organisiertes geregeltes System. Mein Wunsch ist natürlich, dass sich eines Tages alle in dem "Paket" gemeinsamer Zielsetzungen, in der Dynamik der Avantgarde wiederfinden. Ich zumindest würde als Matrix für diese Avantgarde eine "Föderation von Nationalstaaten" vorschlagen. Eine schlagkräftige Formel, von der manche vielleicht meinen werden, dass sie genauso Illusionen schafft wie der Verfassungsgedanke. Diese "Föderation von Nationalstaaten" bedeutet jedoch zweierlei, wie ich bereits im Zusammenhang mit den Vorbedingungen angesprochen habe: eine Föderation, damit klar ist, wer was tut, denn das ist die Voraussetzung für Transparenz, Demokratie und Effizienz; und Nationalstaaten deshalb, weil diese gewiss nicht verschwinden werden. Zum leichteren Verständnis darf ich präzisieren, dass ich als "Europäische Union" die sich erweiternde Union und die Avantgarde als "Europäische Föderation" bezeichne.

Damit diese Föderation funktioniert, ist ein angemessener institutioneller Rahmen erforderlich, der neben Effizienz auch Transparenz und demokratische Verantwortung ermöglicht. Deshalb dürfen die Dinge nicht zu sehr festgefügt sein. Es gibt zwei mögliche Wege für diese Avantgarde (Ich blicke da hinaus über die sogenannten verstärkten Kooperationen. Semantisch gesehen – das ist wieder mal das Schöne an der Politik – sprechen manche mit einem Augenzwinkern von "der" verstärkten Kooperation, während andere von "den" verstärkten Kooperationen sprechen. Diese subtilen Unterscheidungen sind überhaupt nicht nachvollziehbar für die Bürger, die sich fragen, ob Europa morgen fähig sein wird, einer Krise wie der im Kosovo Einhalt zu gebieten...) Es gibt also, wie gesagt, zwei mögliche Wege: Der erste ist das Reproduzieren oder Klonen des derzeitigen Modells allein für die Länder der Avantgarde, mit einem Ministerrat, einer Kommission und einem Parlament. Mit anderen Worten: eine Art Vertrag im Vertrag – selbstverständlich genehmigt durch die Union. Wenn ich sage "im Vertrag", dann bedeutet dies, dass kein Bruch erfolgt. Der Vertrag der Fünfzehn würde die Möglichkeit der Avantgarde oder auch ein gemischtes System vorsehen. Angesichts des schlechten Funktionierens (und das ist gelinde gesagt) des Ministerrats und des Rates für Allgemeine Angelegenheiten wäre es sicherlich lohnenswert, dieses auszuprobieren. Ein und dieselbe Kommission wäre mit der Wahrung der europäischen Interessen sowohl für die Union als auch für die Föderation betraut. Daneben gäbe es einen gesonderten Ministerrat, einen gesonderten Vorsitz und ein Europäisches Parlament, bei dem man zwischen zwei Formeln schwanken kann. Ich weiß, dass einige von Ihnen sagen, dass kein Zurück möglich ist. Demzufolge könnte es sich um die den Avantgarde-Ländern angehörenden Abgeordneten des heutigen Europäischen Parlaments handeln. Ich persönlich würde es allerdings vorziehen, wenn es zur Hälfte nationale Parlamentarier und zur anderen Hälfte Abgeordnete des Europäischen Parlaments wären, um wieder eine Verbindung zu den nationalen Parlamenten herzustellen.

Welches sind die gemeinsamen Probleme dieser beiden Gebilde „Union“ und „Avantgarde“? Aus dieser Sicht möchte ich vor Ihnen die Aktualität der Gemeinschaftsmethode verteidigen. Denn Jean-Louis Bourlanges hat durchaus Recht: diese Methode wird heute in Frage gestellt. Selbst Joschka Fischer hat gesagt, sie sei überholt. Und da er sich mit dieser Aussage nicht begnügen konnte, zitierte er abschließend Schuman, um zu zeigen, dass er pragmatisch bleibt. Man sollte aufhören, dieser bedauernswerten gemeinschaftlichen Methode nachzuweinen (wobei es sich bei manchen um Krokodilstränen handelt), auch wenn diese das Vorankommen Europas ermöglicht hat. Wenn man die Väter der Gemeinschaftsmethoden, wie Daniel Cohn-Bendit vorschlägt, zusammen mit ein paar Veteranen - beispielsweise Giscard d'Estaing und mir – zur Bewachung ins Museum stellen würde, würde uns dies gewiss beschäftigen. Aber man sollte doch über diese Gemeinschaftsmethode sprechen, sie zerlegen, sie verteidigen und anpassen.

Sodann stellt sich die Frage, welcher Platz der intergouvernementalen Zusammenarbeit eingeräumt wird. Es steht außer Zweifel, dass das künftige Europa ein subtiler Kompromiss zwischen der Gemeinschaftsmethode und der intergouvernementalen Zusammenarbeit sein wird, mit der Subsidiartät als zusätzlichem Beitrag des föderalen Ansatzes. Diese drei Punkte möchte ich vor Ihnen etwas näher erläutern.

Die Aktualität der Gemeinschaftsmethode

Was ist eigentlich die Gemeinschaftsmethode? Es ist dies eine vom Gerichtshof gekrönte rechtsstaatliche Ordnung, mit einer Kommission, die gelbe Karten verteilen kann - eine besondere, genau angepasste Synergie zwischen Kommission, Rat und Parlament. Also kein System à la Montesquieu. Ein subtiles Gefüge, in dem Rat und Kommission nebeneinander stehen. Es ist insofern subtil, als – entsprechend den Vorgaben von Jean Monnet - der Präsident der Kommission, nachdem er in einer ersten Runde die diversen Besorgnisse zu einem bestimmten Vorschlag angehört hat, die europäischen Interessen verfolgt. Im Rahmen einer Dialektik mit einem gut funktionierenden Rat für Allgemeine Angelegenheiten macht die Kommission daraufhin ihren Vorschlag, und dann wird entschieden. Dieses System hat klar seine Überlegenheit bewiesen, denn jedesmal wenn man dieses System befolgt hat, wurden Fortschritte erzielt. Und jedesmal, wenn man sich nicht daran gehalten hat, zu Beginn der 60er und zu Beginn der 80er Jahre, war eine Stagnation zu beobachten, auch wenn dies nicht die einzige Ursache war. Natürlich gibt es Funktionsmängel, und dann fließen wieder die Krokodilstränen und die Taschentücher werden gezückt: "Die Kommission vergräbt sich! Der Rat für allgemeine Angelegenheiten kann gar nicht mehr funktionieren!", heißt es dann. Und das ist durchaus verständlich: Die Außenminister sind in der ganzen Welt unterwegs und wollen sich von ihren Reisen erzählen; da haben sie keine Zeit mehr, sich um die gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu kümmern! Und das Europäische Parlament übt sich derweil im Pfeile verschießen, wie auf dem Volksfest: für wen ist wohl der nächste Pfeil bestimmt? Eine Ermunterung für Herrn Juppe, der die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Ministers der Union vor dem Parlament ins Auge fasst. Dies zeigt, dass von den verursachten Schäden immer etwas zurückbleibt. Das System Kommission-Parlament lässt sich restaurieren: es würde genügen, dass der Rat für Allgemeine Angelegenheiten wieder ein echter Rat wird, dass er in Verbindung mit der Kommission die Agenda klärt und die Kommission ihn seine Rolle spielen lässt. Vorausgesetzt, man konzentriert sich wirklich auf das Wesentliche und hört auf, in dem Tempo Texte zu produzieren, wie sich die Kaninchen in einem Zuchtbetrieb fortpflanzen. Damit muss Schluss sein. Es gibt zu viele Texte. Es kommt jetzt darauf an, das Wesentliche im Auge zu haben. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass es mit der Gemeinschaftsmethode gelingt, hinausgehend über die legitimen Interessen der Einzelstaaten die europäischen Interessen herauszuarbeiten. Dabei sind wir noch nicht zu einem Reifegrad gelangt, der einen derartigen qualitativen Sprung gestatten würde, dass in den einzelnen Gremien nicht mehr mit den Belangen der jeweiligen Nationalstaaten im Hinterkopf beraten würde.

Dieses System gilt es meiner Meinung nach heute zu verteidigen. Denn den Worten von Herrn Chirac und Herrn Fischer und mehr noch dem Dokument Juppe-Toubon nach zu urteilen ist es bedroht. Freilich ist Frankreich ein Land, wo vom Quai d'Orsay bis hin zu den politischen Feingeistern überall die Bürokratie gegeißelt wird. Aber betrachten wir die Dinge doch einmal ehrlich: Die Union hat immer dann gut funktioniert und wieder Dynamik erhalten, hat Stabilität geboten und war auf der internationalen Bühne ein Element, um das niemand herumkommt, wenn dieses institutionelle Dreieckssystem gut funktioniert hat. Man kann es gewiss verbessern, aber immerhin existiert es. Wenn die Kommission heute einen Vorschlag macht, veranstaltet sie eine Pressekonferenz. Sie sind Leute, die sich für Europa interessieren, Sie lesen Ihre Zeitung und sagen sich: "Das ist wichtig!" Sie wollen am Ball bleiben, aber der betreffende Vorschlag wird den Regierungen, d.h. den Ständigen Vertretern übermittelt. Die sagen, das sei zu wichtig, als dass sie sofort entscheiden könnten. Sie benennen persönliche Vertreter in einem Ad-hoc-Ausschuss zur Bearbeitung der Angelegenheit. Der Vorschlag der Kommission verschwindet unterdessen wie das Yellow Submarine aus dem Beatles-Song in der Versenkung - sechs Monate, acht Monate, ein Jahr. Und Sie als europäische Verfechter der Demokratie müssen quasi mit der Taschenlampe auf die Suche gehen, um zu sehen, wo die Sache steht, oder (und das kommt teuer) von Zeit zu Zeit nach Brüssel fahren und dort jemanden ausfindig machen, der weiß, wo sich der Kommissionsvorschlag befindet. Nach sechs, acht Monaten oder einem Jahr taucht er dann wieder auf, ziemlich übel zugerichtet von den Ständigen Vertretern, zu denen auch einige nationale Beamte hinzugestoßen sind, die nur zum Orgasmus gelangen, indem sie gegen die Kommission agitieren. Anschließend kommt der Vorschlag zum Ministerrat, der sagt: "Sehr guter Vorschlag! Wir werden persönliche Vertreter bestellen, die sich damit befassen werden." Und schon taucht das Yellow Submarine wieder für sechs oder acht Monate ab. Was kann man da erwarten, abgesehen von Allgemeinplätzen, von all den Leuten, die durchs Land fahren und Ihnen ein wunderschönes Bild vom europäischen Auto malen?

Vom richtigen Gebrauch der intergouvernementalen Zusammenarbeit

Zweiter Aspekt: der künftige Platz der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Realismus und Vernunft gebieten uns, einen Kompromiss zwischen den beiden Methoden zu akzeptieren – allerdings mit gewissen Bedingungen, denn in den Sachgebieten des zweiten und dritten Pfeilers ist keine sofortige Vergemeinschaftung möglich gewesen. Dieser Kompromiss muss die Vorzüge der Union maximieren und damit die Union als unumgänglichen Gesprächspartner auf der internationalen Bühne stärken. Wie sieht denn beim derzeitigen Stand der Dinge die Situation des Mister GASP aus, wenn er eine Reise nach China zu machen hätte? Die "cohabitation" in Frankreich wollen wir einmal beiseite lassen, das ist zu kompliziert. Aber was würde in einem normalen Land passieren? Der Regierungschef würde zusammen mit dem Außenminister, dem Handels- und dem Finanzminister nach China reisen und dort sämtliche Themen behandeln: Menschenrechte, Handelsbeziehungen, Investitionen, WTO-Beitritt. In der heutigen Union würde, um das gleiche Themenspektrum abzudecken, zunächst ein Besuch des sechs Monate lang amtierenden Unionspräsidenten stattfinden, den die Leute manchmal gar nicht kennen. Er würde vielleicht sogar Herrn SOLANA mitnehmen. Anschließend würde der Präsident der Kommission mit dem Argument: "Ich bin schließlich auch noch da!" eine zweite China-Reise unternehmen. Und beim gegenwärtigen Zustand der Wirtschafts- und Währungsunion, die eigentlich nur eine Währungsunion ist, käme vierzehn Tage später auch noch Herr Duisenberg. Wie soll das Ganze unter diesen Bedingungen überhaupt funktionieren können? Nur die Marx Brothers könnten die Situation besser beschreiben als ich.

Lassen Sie mich die GASP als Beispiel anführen. Immer wenn die Fünfzehn zu entscheiden haben, ziehen einige mit. Sie sind zwar nicht einverstanden, aber sie ziehen mit, andere sind neutral. Bei Beschlüssen der Fünfzehn über eine gemeinsame außenpolitische Maßnahme hat derjenige, der zu handeln hat, nicht sämtliche Elemente in der Hand, da ein Teil davon in den Zuständigkeitsbereich der Kommission fällt. Doch es ist bis heute nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass der Rat für Auswärtige Angelegenheiten, Mister GASP und die Kommission zusammenarbeiten! Dafür ist keine Vertragsänderung notwendig. Ein wenig guter Wille und Sinn für die gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben würden genügen. Aber es klappt einfach nicht. Also muss die Methode der intergouvernementalen Zusammenarbeit her – sicher, aber man darf dabei nicht jedes Mal das europäische Interesse vergessen, ganz unabhängig davon, ob der direkte Weg der Gemeinschaftsmethode oder der der intergouvernementalen Zusammenarbeit beschritten wird.

Drittes Element: die Subsidiarität als Beitrag des föderalen Ansatzes, per Vertrag oder Verfassung. Ich haben Ihnen bereits eingangs gesagt, dass ich hinter der Idee von einer Verfassung eher eine Arglist vermute, aber vielleicht wird eines Tages ein internationaler Vertrag als Verfassung bezeichnet werden! Der Inhalt wäre der gleiche, nur mit einem anderen Etikett. In diesem Vertrag müssten die jeweiligen ausschließlichen Kompetenzen der Einzelstaaten und der Union beziehungsweise der Föderation definiert sein. Manche sagen: "Wenn Sie dies tun, werden Sie die Dynamik des europäischen Einigungsprozesses zunichte machen." Aber wir können nicht so fortfahren wir bisher. Ich war zum Beispiel zutiefst entrüstet, als Renault das Werk in Vilvoorde zugemacht hat. Alle, auch die reaktionärsten Politiker sagten damals, wir brauchen ein soziales Europa. Ich habe einen dieser Politiker befragt und zu ihm gesagt: "Gibt es etwa kein soziales Europa? Überhaupt nichts?" - Antwort: "Nein, nichts." – "Dann sollten Sie aber noch mal die Schulbank drücken, denn inzwischen gibt es doch schon ein erhebliches Maß an sozialem Europa, auch wenn es noch nicht genügt."

Und nach vierzehn Tagen war alles wieder vergessen. Ein anderes Mal werden sie ein Europa der Pharmazie fordern, wieder ein anderes Mal ein Europa der minderjährigen Mütter: wer weiß, was noch alles kommt! Es wäre daher besser zu sagen: beim derzeitigen Stand der Dinge und angesichts der bestehenden Globalisierungsgefahr müssen die Bereiche, die den sozialen Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl fördern, nämlich Bildung, Kultur, Gesundheit, soziale Sicherheit und in jedem Fall auch Beschäftigungspolitik, unbedingt auf nationaler Ebene verbleiben – wobei es hierfür dann aber konkrete Gründe gibt.

Für diejenigen, die jetzt vielleicht schockiert sind: Meiner Ansicht nach muss man im internationalen Bereich Integration und Kooperation deutlich unterscheiden. Integration ist das, wovon wir bisher gesprochen haben: sie liegt dann vor, wenn ein Teil der Souveränität gemeinsam ausgeübt wird. Kooperation kann auf ganz andere Art und Weise erfolgen: auch wenn das Thema Bildung in den nationalen Zuständigkeitsbereich fällt, hindert nichts die Minister daran, sich zu treffen, "best practices" auszutauschen, oder zum Beispiel auch die gleichen Termine und Zeitabschnitte – 3 Jahre, 5 Jahre, 8 Jahre - für das Hochschulstudium festzulegen. Etwas ganz anderes ist es, von einer europäischen Bildungspolitik oder einer europäischen Politik auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu träumen! Eine europäische Rentenpolitik wird vor allem von denjenigen gefordert, die eine Vorliebe für Rentenfonds haben. Die soziale Sicherheit ist übrigens ein guter Indikator: die Franzosen wollen kein Gesundheitswesen wie die deutsche Kassenmedizin, und sie wollen auch nicht das System der Briten, es sei denn, Herr Blair schafft die Warteschlangen in den Krankenhäusern ab. Aber so weit ist es im Moment noch nicht. Seien wir also vernünftig: die Franzosen – wie auch die anderen - sind von der Globalisierung so benommen, dass sie auf nationaler Ebene Dinge brauchen, die sie zusammenhalten und die die republikanische Solidarität zwischen allen Franzosen zum Ausdruck bringen.

Man sollte sich schließlich auch bemühen, die Bereiche von gemeinsam ausgeübten Kompetenzen zu reduzieren. Jeder von Ihnen, der den Föderalismus in der Praxis kennt, weiß, dass die Deutschen Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung der konkurrierenden Kompetenzen haben. Aber sie schaffen es, weil sie alle Deutsche sind, weil sie den Bundesrat und weil sie das Gericht in Karlsruhe haben. In der heutigen Union dagegen kümmert sich kein Mensch darum. Wenn eine konkurrierende Kompetenz auf europäischer Ebene landet und dies einem Land gerade gut passt, lässt es dies geschehen. Wenn es ihm nicht passt, beruft es sich auf die Subsidiarität. Es geht darum, den Bereich möglicher Konflikte zu reduzieren und die europäische Konstruktion übersichtlicher zu machen. Ich halte demzufolge zwei Dinge für wesentlich, nämlich die rechtliche und die politische Persönlichkeit der Union wie auch der Föderation. Daran führt kein Weg vorbei. Die Union sollte - ebenso wie die Föderation – internationale Verträge unterschreiben können und auch eine politische Persönlichkeit haben. Dies ist mit der Wahrnehmung der Verantwortlichkeiten durch alle Mitgliedstaaten im Übrigen durchaus vereinbar.

Nach meinem Dafürhalten sollte über ein System Rat / Kommission nachgedacht werden, das dieses Zweigespann wieder leistungsfähig macht und weder das eine noch das andere abschafft. Für die Union ist dies noch wichtiger als für die Föderation. Wenn in einer Union mit 32 oder 33 Mitgliedstaaten keine Kommission da ist, die immer an Europa denkt, die versucht, stets das Wesentliche im Auge zu haben und die verschiedenen Optionen vorzulegen, wird es zu extrem komplexen Situationen beziehungsweise sogar zur Apoplexie kommen. Natürlich brauchen wir entsprechend angepasste Arbeitsmethoden: der Ministerrat muss reformiert, der Europäische Rat entlastet werden. Beim letzten Europäischen Rat in Feira standen dreizehn Themen auf der Tagesordnung. Es wurden nicht alle dreizehn Themen tatsächlich behandelt, da die Staats- und Regierungschefs ja nur für einen Tag zusammenkommen, der sich allerdings ziemlich in die Länge zieht. Manche gähnen dann beim Abendessen um elf Uhr abends – solche Tage sind mit der 35-Stunden-Woche bestimmt nicht vereinbar! Auf jeden Fall haben sie nicht alle dreizehn Themen behandelt. Drei wurden gründlich besprochen, vier oder fünf nur ein wenig, und für die übrigen hatten die Beamten Kommuniqués vorbereitet. Trotzdem hat der Europäische Rat gesagt: "Wir sind doch die stärksten! Da es anderswo nicht klappt, werden wir uns um alles kümmern!" Wo bleiben da Demokratie und Effizienz?

Abschließend wollte ich Ihnen sagen: das Beste, was mit der derzeitigen Methode erreicht wurde, sind Frieden und gegenseitiges Verständnis. Am letzten Montag hatte ich ein Gespräch mit Jean-Pierre Chevenement, der mir sagte: "Der Frieden wäre ohnehin gekommen, weil niemand mehr die Kraft hatte, zu kämpfen. Die Zeiten haben sich geändert." Ich habe ihm entgegnet: "Du warst noch zu jung, um die zwischen 1945 und 1950 in der französischen Regierung und im Parlament geführten Diskussionen über das Saarland und das Ruhrgebiet mitzuerleben, die Sehnsucht nach einem Vertrag von Versailles, die Zahlung der Kriegsschulden usw." Die Gründerväter Europas trugen damals maßgeblich dazu bei, dass nicht erneut die gleichen Torheiten begangen wurden wie nach dem Ersten Weltkrieg. Hinzu kommt, dass auf beiden Seiten Männer und Frauen aufstanden, um sich die Hand zu reichen. Manche von ihnen hatten bereits während des Krieges damit begonnen. Das ist bewundernswert, und ich denke hier immer an Hannah Arendt. Sie haben Vergebung gewährt - was nicht Vergessen bedeutet – und das Versprechen gegeben, zum Zusammenleben fähig zu sein und den Deutschen zu sagen: "Ihr habt diese schwere Last zu tragen. Sie ist manchmal unerträglich, aber wir werden mit euch genauso umgehen wie mit den anderen, und ihr werdet mit den anderen zusammenarbeiten können." Im Gegensatz zu der von J.P. Chevenement vertretenen Auffassung wäre dies von alleine nicht zustande gekommen. Wir müssen all jenen, die dies möglich gemacht haben unsere Hochachtung zollen. Das dürfen wir nicht vergessen - auch wenn die jungen Leute von heute eine andere Einstellung dazu haben.

Eine weitere Errungenschaft der Gemeinschaftsmethode ist die wirtschaftliche Dynamik. Allein während der Zeit der Belebung der Wirtschaft durch den Binnenmarkt und das Zieldatum 92 haben wir zwei Wachstumsphasen erlebt. Zunächst von 1985 bis 1991 mit der Schaffung von 9 Millionen Arbeitsplätzen. Dann kamen nach den positiven Aspekten die negativen Konsequenzen der deutschen Wiedervereinigung. Und schließlich ein neuer Wachstumszyklus, gestärkte Stabilität und im Mittelpunkt der Euro: Stellen Sie sich vor, wie groß in den letzten vier Jahren für manche Länder die Versuchung gewesen wäre, währungspolitisches Dumping zu betreiben, wenn nicht der EURO gewesen wäre.

Ebenfalls zu diesen Errungenschaften gehört schließlich auch der Einfluss Europas nach außen, der oftmals unterschätzt wird.

All dies ist der berühmte "Dritte Weg", um einen bereits patentierten Begriff zu verwenden – Tony Blair wird es mir nicht übel nehmen: Europa hat einen dritten Weg gefunden – weder die reine Regierungszusammenarbeit, noch das Fischersche Schema in seiner aktuellen Version, noch die Vereinigten Staaten von Europa. Ein origineller Weg, wo man nicht so sehr per Analogie zu den nationalen Verfassungen argumentieren oder uns ein Präsidentenamt nach französischem Zuschnitt in Brüssel vorschlagen sollte. Nein – dieses System ist wirklich einzigartig. Ich habe mich bemüht, Ihnen zu beweisen, dass es durchaus nicht überholt oder der heutigen Geschichte nicht mehr angemessen ist. Nur funktioniert es aus einer Vielzahl von Gründen im Augenblick nicht gut. Man kann es aber wieder in Kraft setzen und von da aus neu starten. Das ist meines Erachtens die große Schlacht, die es nun zu schlagen gilt. Denn sonst werden auf Kosten der europäischen Integration und des von mehreren Generationen getragenen Ideals die Demagogen den Sieg davon tragen.

 



* Überarbeiteter Text einer Rede, die der Autor am 29. Juni 2000 in Paris auf einem gemeinsamen Kolloquium von Friedrich-Ebert-Stiftung, Europartenaires und Témoin zum Thema "L'avant-garde européenne, un nouveau centre de gravité?" gehalten hat.

 

 

 


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