Sabine Fischer: Russlands Westpolitik in der Krise 1992-2000. Eine konstruktivistische Untersuchung
 
    
   Heft 2/2005  
    
  Frankfurt 2003
Campus Verlag, 391 S.
  
 

Fischers Ansatz, die theoretische Debatte über die Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes mit Ergebnissen der Transformationsforschung zu verbinden und in diesem Amalgam die Wirkung von Ideen auf das außenpolitische Verhalten Russlands zu untersuchen, wobei sie Grundprämissen der konstruktivistischen Theorien für ihr Analysemodell verwendet, ist ambitioniert und für die Konstitutionsphase des neuen, postkommunistischen Russlands sicher interessant. Die Autorin hat eine immense Fülle von russischen Primärquellen und die gängige Sekundärliteratur verarbeitet und sehr einprägsam die zurückliegende Dekade, die das „System Jelzin“ hervorbrachte, beschrieben. Ein System, das institutionelle Schwäche und fehlende Ressourcen in der zurückliegenden Dekade postsowjetischer Transformation mit dem autokratischen und sprunghaften Führungsstil des russischen Präsidenten Boris Jelzin verband. Zu keiner Zeit, so die zentrale These von Fischer, gelang es, eine kohärente Konzeption von Außenpolitik zu entwickeln. Weder Präsident noch Außenminister vermochten die Dissonanzen der um Einfluss konkurrierenden Machtministerien, der „Siloviki“, zu beheben. Obwohl sich im Lauf der Dekade das Gewicht von selbsternannten, externen Beratungsorganen abschwächte, waren sie Faktoren im außenpolitischen Prozess. Die postsowjetische Außenpolitik war also zu keiner Zeit frei von Widersprüchen und externen Interventionen.

Treffend spricht Fischer von der „hochgradigen Personalisierung und eine[r] auf den Präsidenten fokussierte[n] Machthierarchie“ (S. 139), deren „Funktionieren stark vom Gesundheitszustand“ (ebenda) des Präsidenten abhing. Fischer arbeitet anschaulich heraus, dass es dem ersten russischen Außenminister eigentlich nie gelang, den eigenen Machtapparat zu kontrollieren. Kosyrew musste sich, so Fischer, ab 1993, als der unmittelbare postsowjetische Konsens zerbrach, gegen eine Unzahl von konkurrierenden Institutionen behaupten.

So richtig ihre Aussage vom geringen Einfluss der russischen Staatsduma auf die Außenpolitik ist, so ist die These, dass die „schwierigen Beziehungen zwischen Legislative und Exekutive“ (S. 159), letztlich also zwischen Präsident und den politischen Parteien, „das größte Hindernis auf dem Weg zu einem konsolidierten Parteiensystem“ (ebenda) waren, arg verkürzt. Stand doch das neue Russland erst am Anfang eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Organisation von Interessen. Bis heute fehlen daher auch Parteien, Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft. Hier zeigen sich erneut die Fallstricke des konstruktivistischen Ansatzes, dessen Rekurs auf die normative und institutionelle Innenarchitektur der Außenpolitik von sozioökonomischen und politischen Machtfaktoren abstrahiert.

Trotz Kompetenzgerangel zwischen den Machtministerien und der versuchten Einflussnahme von außen, stand aber die russische Außenpolitik, weil sie Domäne des Präsidenten war und blieb, zu keinem Zeitpunkt unter dem Druck der Straße oder spezifischer ideologischer Positionen der außen- und sicherheitspolitischen Experten-Community. Fischer räumt daher den Denkschulen der Außenpolitik zu viel Gewicht ein. Zur Illustration: In einer repräsentativen Elitenumfrage der Friedrich Ebert Stiftung Moskau, die zusammen mit dem Russischen Unabhängigen Institut für Soziale und Nationale Probleme im Jahr 2001 durchgeführt wurde, nannten die Befragten als Einflussfaktoren auf die russische Außenpolitik: 91,2 Prozent den Präsidenten, 52,4 Prozent den Außenminister, 36,7 Prozent die Öl- und Gasindustrie, 18,1 Prozent die Außenhandelslobby, 9,5 Prozent die Staatsduma, 7,1 Prozent die Armeeführung und fast am Schluss mit 6,7 Prozent rangierten die Experten und Fachleute für internationale Beziehungen.

Fischer beschreibt eingehend das schwache institutionelle Gefüge des Jelzin-Systems und beleuchtet die Funktion des Nationalen Sicherheitsrates, der zeitweise eine wichtige koordinierende Entscheidungs- oder zumindest Beratungsfunktion für den Präsidenten hatte. Die Autorin belegt überzeugend, warum dieser nach der Lebed-Affäre 1996 sukzessive bedeutungslos wurde.

Des Weiteren berichtet sie zwar korrekt über die Doppelung der exekutiven Strukturen, aber ihre Interpretation, dass sich dadurch die Bürokratie nur duplizierte, greift erneut zu kurz. Die Doppelung der staatlichen Apparate unter Kontrolle der Präsidialadministration war vielmehr quasi eine Lebensversicherung des Jelzin Systems gegen die weitgehend nicht als reformierbar eingeschätzten alten Sowjetapparate. Angesichts der Schwäche des Staates und um Konzeptionen und Ideen realistisch in Politik umzusetzen, musste sich Jelzin eine eigene politische Machtbasis schaffen. Gegen die alte Sowjetbürokratie wurde daher über die Präsidialverwaltung der Staatsaufbau lanciert. Dieser Prozess dauerte bis zum Ende der Jelzin-Ära an. Wenngleich auch der russische Staat nie über ausreichende Mittel und Ressourcen verfügte, um seinen Aufgaben nachzukommen, gelang es Jelzin dennoch bis zum Schluss, seine Machtbasis zu erhalten.

Fischers Beharren auf der Relevanz von Ideologien, Werten, und Vorstellungen ist angesichts der wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Schwächen des Jelzin-Systems nicht verständlich. Weltbilder hatten in dieser Zeit kaum Bezug zur Realität. Sie zirkulierten nur in kleinen Kreisen und kamen mehr einem ungedeckten Scheck auf die Zukunft gleich, oftmals mit Phantomschmerzen ob des untergegangenen Sowjetimperiums versehen.

Trotz der illustrativ hervorragend gelungenen Analyse des Systems Jelzin wird nicht klar, auf welchen Machtgruppen das Herrschaftsgefüge beruhte und welchen Einfluss sie auf die Außenpolitik hatten. So war die erste Generation der Oligarchen zu sehr mit der Sicherung der staatlichen Beute beschäftigt, als dass sie sich Gedanken um die außenpolitische Richtung gemacht hätte. Die heftige anti-westliche Verbalrhetorik nach 1994 entsprach eher einer „virtuellen russischen Außenpolitik“.

Die nachfolgende Generation von Oligarchen suchte den flankierenden Einfluss staatlicher Politik zur Verfolgung eigener Interessen, die von der sukzessiven Weltmarktintegration besonders der Energie- und Rohstoffbranchen diktiert wurden. Ein wichtiges Dokument, dass diesen Einfluss zeigte, aber leider von Fischer nicht voll gewürdigt wird, ist die „Mittelfristige Strategie Russlands gegenüber der Europäischen Union bis zum Jahre 2010“, dass im Oktober 1999 in Helsinki vom damals neu ins Amt berufenen Premierminister Wladimir Putin vorgestellt wurde.

Erstaunlich bleibt auch, warum die Autorin den in der russischen Literatur durchgängig bestätigten starken Konsens zwischen unterschiedlichen innen- und außenpolitischen Denkschulen nicht anerkennt, sondern eher vom Fehlen solcher Grundüberzeugungen ausgeht. Trotz des Dauerkonfliktes zwischen Präsident und Staatsduma während der gesamten Jelzin-Ära wurden die Prozeduren und Spielregeln der politischen Auseinandersetzung von allen Akteuren eingehalten. Dies allein lässt auf einen Konsens unter den konkurrierenden Machteliten schließen, in dem ideologische Positionen kaum eine Rolle spielten. Und dieser Konsens vereinte alle Fraktionen der Duma, einschließlich der liberalen Partei Jabloko. Nuancierungen, Kontroversen bestanden allenfalls in der Rhetorik. Aber in Schlüsselfragen wie der Ablehnung der Nato-Osterweiterung, der Unterstützung Serbiens und der Beurteilung des Militäreinsatzes der Nato im Kosovo, und dem Ziel, Russland wieder zu einer Großmacht mit internationalem Ansehen werden zu lassen, fanden alle Fraktionen der Duma zusammen. Hier wird auch Fischers Klassifizierung der ideologischen-politischen Strömungen problematisch. Die Machteliten waren entideologisiert. So waren die Kommunisten längst in die Metamorphose zu nicht erklärten Sozialisten und Sozialdemokraten eingetreten und schwankten zwischen Isolationismus und einer aktiven Hinwendung zu Europa. Die Liberalen hingegen hatten Gefallen am wirtschaftspolitischen Pinochet-Modell gefunden und traten für eine starke Allianz mit den USA ein. Allenfalls die Eurasier blieben im Kern ihres isolationistischen Denkens über weite Phasen der Jelzin-Ära unberührt, aber auch einflusslos.

Respekt verdient Fischers Darstellung der eurasischen und der realistischen Strömungen, obwohl die Zuordnung von einzelnen Repräsentanten nicht immer stimmig scheint. So kann man weder Sergej Kortunow noch Wjatscheslaw Daschitschew mit der eurasischen/nationalistischen Strömung in Verbindung bringen. Sehr anschaulich beschreibt sie die heimliche Faszination der Arbeiten Huntingtons auf russische Realisten wie Eurasier. Unter den drei von Fischer identifizierten großen konzeptionellen Strömungen, die gesellschaftspolitische und außenpolitische Ziel- und Wertvorstellungen miteinander verknüpften, also den Realisten, Liberalen und Eurasiern, dominierten seit 1996 die Realisten, die allerdings Elemente der liberalen und eurasischen Rhetorik übernahmen (S. 204). Nur, dass sich im Gefolge des Irak-Krieges die pro-westliche Strömung in der Moskauer Experten-Community in eine dominant „atlantische“ und eine wesentlich schwächere europäische Variante aufspaltete, ein Prozess, der allerdings außerhalb des Untersuchungszeitraumes von Fischers Studie (1992-2000) fällt. Wenn es denn einen Beleg für die relative Bedeutungslosigkeit der Experten-Community gibt, dann den Irakkrieg. Die russische Experten-Community hält bis heute die Entscheidung des Kremls für eine Interessengemeinschaft zusammen mit Paris und Berlin für einen strategischen Fehler. Nur: Der Kreml entschied anders und blieb bei seiner Entscheidung bis heute.

Dass weniger Ideen und Weltbilder die russische Westpolitik anleiteten, wie Fischer behauptet, als schlichte nationale Interessen, bleibt ein gravierendes Manko ihres ansonsten vortrefflich recherchierten Buches. Fischer beachtet zuwenig, dass insbesondere Außenpolitik ein funktionierendes Staatswesen und Ressourcen voraussetzt. Und von einem funktionierenden Staat kann man erst seit der ersten Amtsperiode Putins sprechen. Erst ab 1999 trat die russische Wirtschaft in eine bis heute andauernde imposante Phase nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums ein. Damit erhielt die russische Außenpolitik die erforderliche materiell-ökonomische Unterfütterung. Zugleich trat der Aufbau des Staates in eine neue Phase. Die „Ökonomisierung“ der russischen Außenpolitik begann. Für Russland gilt ebenso wie für die USA, dass Öl und Politik stets in die gleiche Richtung strömen.

Wenn weder das Volk noch die Staatsduma relevanten Einfluss auf außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen hatten und haben, warum sollte dann die Experten-Community solch ein Gewicht für sich reklamieren können? Diese Frage bleibt uns die Autorin schuldig, da sie nicht in den gewählten theoretischen Ansatz passt.

Kritisch ist zudem anzumerken, dass vorliegende empirische Studien über die außen- und sicherheitspolitische Elite, wie sie beispielsweise von der damaligen Leitung der Friedrich Ebert Stiftung für die Jahre 1993, 1996 und 2001 sowie für die militärische Elite aus dem Jahre 1995 angestellt wurden,benso wenig genutzt wurden wie die interessanten Ergebnisse der empirischen Befragungen 1995 und 2001 von Ideologieträgern, nämlich der Kommunikationseliten Russlands. Wären diese Analysen in die Untersuchung einbezogen worden, so hätten sie zweifelsohne den normativen Ansatz der vorliegenden Studie ergänzt, aber auch korrigiert, weil in allen diesen Studien sehr klar zum Ausdruck kommt, dass anstelle normativer Fragen und Weltbilder sehr konkrete, pragmatische und interessengeleitete Zielvorstellungen das Handeln der Akteure bestimmten.

Schließlich kommt in der vorliegenden Studie die fehlende externe Projektionsfläche zu kurz: nämlich die Unfähigkeit westlicher Staaten, eine kooperative und unterstützende Strategie für den postsowjetischen Transformationsprozess zu entwickeln, die über normative Beteuerungen der Partnerschaft hinausging. Das gilt gleichermaßen für die USA als auch für die Europäische Union. Zwar schlossen die Europäische Unionund die Russische Föderation bereits 1994 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, doch die EU brauchte bis zur Kölner Erklärung vom Juni 1999, um der stockenden Partnerschaft konkreteres Leben einzuhauchen. Auch die amerikanische Russlandpolitik ist in dieser Dekade keinesfalls konsistent. Sie schwankt bis zu den Ereignissen vom September 2001 zwischen attentistischer Distanz und offener Marginalisierung des Landes in wichtigen Fragen der internationalen Politik. Noch gegen Ende der 1990er Jahre machte der Slogan „a world without Russia“ in Washington die Runde.

Die vorliegende Arbeit verdient vor allem Anerkennung, weil die Autorin anschaulich und gründlich die vorhandenen Strömungen in der außen- und sicherheitspolitischen Debatte während der 1990er Jahre aufgearbeitet und auf die verworrenen, instabilen innenpolitischen Verhältnisse während der Jelzin Ära projiziert hat. Damit räumt sie implizit mit einem heute gängigen Vorurteil auf, wonach in der Jelzin Ära die russische Demokratie noch eine Chance hatte.

Peter W. Schulze, Lemgow

     
      
 
   << zurück Rezensionen/ Übersicht
 
 
     
© Friedrich Ebert Stiftung  net edition: Gerda Axer-Dämmer| 04/2005   Top