István Csoboth: Mitwirkung der Bürger an der Demokratie in Ungarn. Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit
 
    
   Heft 2/2005  
    
  Wiesbaden 2003
Deutscher Universitäts-Verlag, 145 S.
  
 

Ein sorgfältiges und fachkundiges Lektorat hätte der Studie von István Csoboth gut getan. Eine Fülle kleiner Fehler, unklarer Zusammenhänge und einander widersprechender Interpretationen hätte vermieden werden können. So liest sich das Buch eher zäh. Gleichwohl: Die Studie ist wichtig, weil sie am Beispiel eines Transformationslandes aufzeigt, wie weit demokratische Ansprüche und Realität auseinander klaffen und worin die Ursachen dieses Missverhältnisses zu suchen sind. Die Verfassung, das Recht und die Institutionen Ungarns bieten, so der Autor, vielfältige Chancen zur politischen Partizipation, diese Chancen werden aber von den Bürgern kaum genutzt. Folgen die Transformationsländer Ostmitteleuropas dem Weimarer Vorbild einer „Demokratie ohne Demokraten“ – und können daher in einer Krisensituation anti-demokratischen Führern oder Bewegungen zum Opfer fallen? So weit geht der Autor nicht. Zumindest in Ungarn ist die Demokratie weder gefährdet noch bloße Fassade. Sie ist jedoch „schlecht gelaunt“.

Die schlechte Laune wird anhand einer Reihe von Indikatoren illustriert: Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten niedrig, wenn auch in der Tendenz steigend. Wahlen dienten bislang dazu, die jeweils amtierende Regierung abzustrafen. Die Parteienbindung der Bürger ist dürftig, ebenso die Mitgliedschaft in politischen Parteien. Dasselbe gilt für die Verbände sozialer Interessenvertretung. Die Gewerkschaften sind schwach, zersplittert und einflusslos. Trotz drastischer Senkungen der Reallöhne in den neunziger Jahren hat sich der Organisationsgrad kontinuierlich verringert. Arbeitskämpfe finden nicht statt, der einzig relevante Streik war 1990 von den Taxifahrern (gegen die von der Regierung verfügte Erhöhung der Ben­zinpreise) organisiert worden. Bei den Arbeitgeberverbändern sieht es nicht besser aus. NGOs und Bürgerinitiativen sind kaum präsent, die einst wichtige Umweltbewegung ist als Akteur kaum noch wahrnehmbar. Die ohnehin kleine Zahl an Protestaktionen beschränkt sich auf die lokale Ebene. Unabhängig von der rechtlichen Lage bleibt die Verwaltung Ungarns autoritär, ineffizient, intransparent und, so wird behauptet, bestechlich. Sie ist aber trotz aller Klagen kein Gegenstand von Bürgerprotest und -kritik. Die kommunale Selbstverwaltung hat keine ausreichenden finanziellen Ressourcen, sie ist abhängig vom Zentralstaat, in winzige Einheiten zersplittert und immer weniger in der Lage, die ihr obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Konsequenterweise wird der Gesamtzustand der Demokratie in Ungarn in Meinungsumfragen in der Regel als wenig befriedigend beurteilt, statt dessen verbreitet sich eine gewisse nostalgische Verklärung des alten Systems.

Die politische Kultur des Landes hat, wie der Autor zeigt, einen gewissen Einfluss auf die politische Partizipation. Der „schlecht gelaunten Demokratie“ liegt ein jahrzehntelanger demographischer Abwärtstrend zugrunde, der durch die Transformation noch verstärkt wurde. Ungarn weist eine der höchsten Suizidraten und die geringste Lebenserwartung in Europa auf, die Zahl der Eheschließungen sinkt, qualifizierte Fachkräfte wandern ab. Diese aktuellen Trends verbinden sich mit einer resignativ-pessimistischen und gleichzeitig heroischen Sicht der Nationalgeschichte, die auch im politischen Alltag erstaunlich präsent ist. Die Ungarn sehen sich als historisches Bollwerk gegen den „Osten“, das vom „Westen“ immer wieder verraten wurde. Die Geschichte erscheint als eine Kette heroischer, aber sinnloser Anstrengungen und desaströser Niederlagen, von der Mongolen- und Türkeninvasion über die Nie­derschlagung der Erhebung von 1848, die Teilung des Landes 1918 bis hin zur Niederschlagung des Aufstands von 1956. Diese Mischung aus Heroismus und Resignation ist ein potenziell fruchtbares Feld für nationalen Populismus, und die politische Rechte weiß dieses Feld mit ihrer Propaganda aus „New Age“ und Mittelalter zu bestellen. Die Geschichte bietet aber kaum Anreize für politische Partizipation in Fragen, bei denen es nicht heroisch um Sieg oder Niederlage, sondern um Verhandlungen, Kompromissbildung, begrenzte Erfolge und verarbeitbare Rückschläge geht.

Das Ergebnis der Studie von Csoboth ist, so heißt es im knappen Geleitwort von Georg Simonis, „ernüchternd“ – und dies um so mehr, als Jahrzehnte des Fehlens demokratischer Strukturen und Dispositionen eigentlich die Vermutung nahe legen würden, die neuen Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten würden mit einem gewissen Enthusiasmus genutzt. Doch auch im Vergleich zur gegenwärtig ebenfalls alles andere als gut gelaunten und „reifen“ deutschen Demokratie schneidet Ungarn schlecht ab. Der Autor schränkt dieses Urteil zwar durch eine Reihe partieller Relativierungen ein, erwähnt aber ein zentrales Argument nur am Rande: Auch die Einführung der Demokratie 1949 in der Bundesrepublik war keinesfalls mit einer Blüte der Bürgeraktivität und demokratischen Partizipation verbunden. Die erste große Aufwallung demokratisch-bürgerlichen Selbstbewusstseins gegen den (formell demokratisch verfassten) Obrigkeitsstaat war die Spiegel-Affäre, immerhin 13 Jahre nach der Einführung der demokratischen Regierungsform. Die Generation, die im Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre maßgeblich war, war vor 1949, im Nationalsozialismus, in der Weimarer Republik oder in der Emigration politisch sozialisiert worden, und Ähnliches gilt für Ungarn: Die Generation, die die Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes bestimmt, wurde im Kommunismus sozialisiert, ob ihre Mitglieder dem Regime und seinen Verzweigungen angehörten, ob sie in grundsätzlicher Dissidenz zum Kommunismus standen oder ob sie als indirekte Nutznießer des Systems die Schwächen des Spätkommunismus erkannt hatten und die Konfusionen der Transformation für ihre (politischen oder privaten) Zwecke nutzen konnten.

Dieses Generations-Argument greift Csoboth nur am Rande auf. Er nennt die drei Generationen, die in die junge ungarische Demokratie zu integrieren sind: die 56er mit ihren traumatischen Terrorerfahrungen, die „Schachergeneration“ (Csoboth) des sogenannten Gulaschkommunismus und die Jugend. Bei dieser Aufzählung wird es belassen. Stattdessen verweist Csoboth auf einen zweiten, ebenso wichtigen Zusammenhang: Die Demokratisierung verlief parallel zu einer grundlegenden materiellen Schlechterstellung von etwa 60 Prozent der Bevölkerung – bis hin zur offenen materiellen Not, in der ein relevanter Teil der ungarischen Gesellschaft lebt. Die soziale Deklassierung der Bevölkerungsmehrheit in der Demokratie beeinflusst notwendig auch die Beurteilung dieser Demokratie seitens der so drastisch Enttäuschten. Zumindest die Spätphase des Kádárismus erscheint vielen aus heutiger Sicht als ein „Goldenes Zeitalter“, mit zwar eingeschränkter politischer Freiheit, aber hoher sozialer Sicherheit, biographischer Stabilität und einem bescheidenen, aber akzeptablen Konsumniveau. Es kommt hinzu – was Csoboth nicht thematisiert – dass der Spätkommunismus unter Kádár in einigen Bereichen – in der Landwirtschaft, im Handel, im Handwerk, aber auch in Kultur (etwa im Film) und Wissenschaft – individuelle Aufstiegs- und Bereicherungsmöglichkeiten bot, und zwar auf eine Weise, die eine transparente Beziehung zwischen Leistung und Entlohnung zuließ. Man konnte unter Kádár reich werden, aber Reichtum blieb an harte Arbeit gebunden. Die massive Umverteilung der Einkommen und Vermögen im Zuge der Transformation dagegen ist in der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit alles andere als transparent: Reichtum und Arbeit wurden entkoppelt. Reich wurde, wer über Informationen und Beziehungen verfügte, die legalen und illegalen Tricks kannte und die sich kontinuierlich verändernden Umstände schnell zu nutzen wusste. Das neue demokratische System wird also nicht nur zur materiellen Schlechterstellung der Mehrheit in Beziehung gesetzt, sondern auch zum Ersatz transparenter und legitimer durch intransparente und illegitime Ungleichheit.

Csoboths Fragestellung liegt ein bestimmtes Denkmuster zugrunde. Er sieht in einem niedrigen Niveau an politischer Partizipation ein Problem für die Demokratie. Diese Sicht ist zumindest nicht selbstverständlich. Im liberalen Politikverständnis ist politische Partizipation eine Option, aber keine Pflicht und auch keine Funktionsvoraussetzung der Demokratie – so-lange die Freiheitsrechte gewahrt und die Kontrolle und Auswechselbarkeit der Regierung garantiert sind. Repräsentative Demokratie bedeutet die Delegation politischer Willensbildung an die gewählten Repräsentanten, was als Eingrenzung direkter Partizipation, aber auch als Entlastung der Bürger von der Politik wahrgenommen werden kann. Kurz bevor man wie Csoboth ein niedriges Partizipationsniveau als Defizit wahrnimmt, wäre zu klären, inwieweit die Qualität einer Demokratie überhaupt vom Partizipationsniveau ihrer Bürger abhängt. Der Rezensent geht, hierin mit dem Autor übereinstimmend, davon aus, dass es diesen Zusammenhang gibt, dass das immanente Entwicklungspotenzial der Demokratie sich nur auf der Grundlage aktiver Partizipation zumindest einer Minderheit entfalten kann. Doch dieses Demokratieverständnis und seine Alternativen hätten ebenfalls zum Thema gemacht werden müssen.

Michael Ehrke
Friedrich-Ebert-Stiftung, Budapest

     
      
 
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