Zu diesem Heft — Heft 1 / 2004
 
       
    Nach der Wiedervereinigung und der Erlangung voller Souveränität stellte sich - für Deutschland wie für seine Partner - die Frage nach einer Neudefinition der deutschen Rolle im Geflecht internationaler Beziehungen. Deutschland, nun ein „normaler“ Nationalstaat, übernahm weltweit neue Verantwortung, auch mit den „normalen“, gegebenenfalls militärischen Mitteln. Die deutsche Außenpolitik bemühte sich aber zugleich um Berechenbarkeit und blieb eingebettet in die europäischen und transatlantischen Bündnisse.
 
Die Zerwürfnisse vor und während des Irakkriegs zeigen an, dass alte Rollenbeziehungen erneut auf dem Prüfstand stehen. In dieser unübersichtlichen Konstellation suggerierte die Rede des Bundeskanzlers vom "deutschen Weg" den Willen zu einer selbstbewussten, unabhängigen Politik. Der Begriff weckte aber auch Assoziationen mit dem deutschen Sonderweg der Vergangenheit und damit Befürchtungen einer gefährlichen Abkehr vom Pfad der Normalität. Hier zeigt sich, wie die historische Belastung und Ambivalenz der Begriffe die Debatte prägen. „Sonderwege“ sind gefährlich, obwohl eigentlich gerade in dem Recht auf je eigene Wege das Normale einer Gesellschaft souveräner Nationalstaaten liegt. Andererseits löst auch die Rede von „Normalität“ im deutschen Diskurs häufig ablehnende Reflexe aus, weil damit eine Verdrängung der historischen Verantwortung assoziiert wird. Oder weil dahinter ein leiser Abschied von der besonderen Rolle als „Zivilmacht“ vermutet wird, die Deutschland vor allem auf eine normgerechte Politik verpflichtete.
 
Die vorliegende Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT unternimmt es, die sensible Frage nach der deutsche Rolle von verschiedenen Standpunkten aus zu analysieren. Adam Krzeminski beobachtet den deutschen Selbstfindungsprozess seit der Wiedervereinigung aus einer polnischen Perspektive. Während Deutschland historische Selbstbeschränkungen abwirft, scheint die eigene Opferrolle wiederentdeckt zu werden. Dies löst jedoch bei den „fremden Opfern“ der deutschen Geschichte alte Befürchtungen aus. Der souveräne, nicht revisionistische Umgang mit der eigenen Vergangenheit, die Deutschland insbesondere in der Beziehung zu Polen begegnet, ist aber – so Krzeminski – Prüfstein der deutschen Europafähigkeit, die ihrerseits für das Gelingen des gesamteuropäischen Integrationsprozesses unabdingbar ist.
 
Eine tendenziell abnehmende "Europafähigkeit" auf dem außenpolitischen Terrain diagnostiziert Anne-Marie Le Gloannec. Obwohl das Mantra des Multilateralismus den deutschen Diskurs nach wie vor beherrscht, unterliegt Deutschland häufiger als früher der Versuchung, enge nationale Interessen zu verfolgen und unilaterale Wege zu gehen. Der Trend deutscher Selbstbezogenheit ist aber – um den Begriff noch einmal zu bemühen – durchaus "normal", denn die Muster des Multilateralismus sind – so Le Gloannec – auf internationaler Ebene insgesamt im Umbruch begriffen. Vor allem in der EU lösen kurzfristige Koalitionen und Bündnisse vermehrt alte verbindliche Partnerschaften ab. Der Blick für das übergeordnete Projekt weicht kurzfristigen nationalen Interessen.
 
Ein ähnlicher Paradigmenwechsel, von den Werten zu den Interessen, kennzeichnet die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Stephen Szabo konstatiert, dass die transatlantische Freundschaft auch nach einem möglichen Führungswechsel nicht zu ihrer alten Form zurückfinden wird. Zu tief greifen die Veränderungen der strategischen Landschaft, zu schwach sind nach dem Generationswechsel die historisch bedingten Verpflichtungen und Bindungen, die einst in der deutschen Gesellschaft verankert waren. Ein neuer strategischer Konsens ist möglich, aber die "deutsche Frage", die sich hinter der Besorgnis um einen neuen Sonderweg verbirgt, wird in Zukunft vor allem in Europa zu beantworten sein.
 
Diese Analysen unterstreichen durchgängig eins: Deutschland ist kein einfacherer Partner geworden, aber ebenso ist das Umfeld der Berliner Republik rauher und unübersichtlicher als früher. Damit stellt sich die Frage nach einer Zukunftsstrategie für die Bundesrepublik. Joscha Schmierer und Alfred Pfaller kommen von unterschiedlichen Ausgangspunkten zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Integration und Kooperation sind die Schlüsselwörter deutscher Staatsräson, ein Denken in Nullsummenspielen, alten Bündnissen und Machtbalancen hingegen nutzlos, und sogar gefährlich. Die Spannungen zwischen der Staatenwelt, der transnationalen Vernetzung im Rahmen einer Weltwirtschaft und einer sich von der Vision zur Realität entwickelnden Weltgesellschaft verlangen integrierte und integrative Lösungsstrategien. Die neuen Aufgaben sind nicht im Alleingang zu bewältigen, auch nicht von den USA, die – so Schmierer - als alleinige Supermacht vielleicht gerade keine Supermacht sind (vgl. auch den Review Essay von Stephan Böckenförde). Schmierer empfiehlt eine Allianz von Demokratien innerhalb der Vereinten Nationen, die Deutschland durch eine Integrationspolitik auf mehreren Ebenen unterstützen kann. Zentral ist zudem, so Pfaller, die ökonomische Dimension von Sicherheitspolitik: Für das Ziel weltweiter gesellschaftlicher Stabilisierung sind Wirtschaftswachstum und eine den Süden privilegierende Weltwirtschaftsordnung zentrale Hebel. Keineswegs bedeuten diese Strategieempfehlungen eine idealistische Absage an den Begriff des nationalen Interesses, die gegen den von Le Gloannec ausgemachten Zeitgeist wohl auch kaum eine Chance hätte. Vielmehr geht es um eine der Epoche der Globalisierung angemessene Definition von Interessen, die den langfristigen Nutzen von globalem Engagement und die Gewinne der Kooperation in die Kalkulation einbezieht.
 
Diese rationalistische Denkweise scheint hingegen an ihre Grenzen zu stoßen, wenn es um die Bedrohung der Sicherheit durch den internationalen Terrorismus fundamentalistisch-islamischer Prägung geht. Konfliktkonstellationen, bei denen eine Seite das eigene Überleben religiös begründeten Zielen wie Vernichtung oder Rache weit untergeordnet hat, eignen sich scheinbar kaum für die Suche nach Win-Win-Lösungen. Tatsächlich sind die Wurzeln und Entstehungsbedingungen des internationalen Terrorismus einer rationalen Analyse sehr wohl zugänglich, wie Herbert Kitschelt zeigt. Internationaler Terrorismus ist zunächst einmal eine spezifische Strategie – und zwar eine Strategie der Schwäche – , die unter ganz bestimmten ökonomischen und politischen Konstellationen zum Einsatz kommt. Dass diese Bedingungen derzeit vor allem im Nahen und Mittleren Osten vorzufinden sind, hat mit den inhärenten Merkmalen der islamischen Religion nichts zu tun. Kitschelt seziert die komplexe Ursachenkette, an deren Anfang "Raubherrschaft" („predatory rule“) steht. Derartige politische Regime verfolgen primär das Ziel der kurzfristigen Bereicherung der Eliten durch Renteneinkommen, blockieren sozioökonomische Entwicklung und wirtschaftliche Öffnung und bringen somit soziale Deprivation und Unzufriedenheit in großem Maßstab hervor.
 
Aus einem anderen Blickwinkel wird dieses Glied der Kette von Wolfgang Merkel und Mirko Krück analysiert: Stimmt es, dass derartige soziale Ungerechtigkeiten unter Bedingungen demokratischer Herrschaft eher vermieden werden? Die statistische Analyse über 124 Staaten hinweg deutet auf eine positive Antwort hin. Länder und Regionen, die politische Rechte und bürgerliche Freiheiten gewährleisten, weisen in der Regel auch eine gerechtere Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen auf.
 
Die spezifischen Entwicklungsperspektiven zweier Länder, die derzeit mit hoher Frequenz in den weltpolitischen Schlagzeilen auftauchen, stehen im Zentrum der Beiträge von Peter Gey und Sergei Medvedev. Nordkorea, vor allem bekannt als Element der "Achse des Bösen", als Land der hungernden Kinder und des trotzigen Atomwaffenbaus, hat jüngst Wirtschaftsreformen nach altem sowjetischem Muster eingeleitet. Die Erfolgaussichten sind, so zeigt Gey, jedoch äußerst gering. Die Staatswirtschaft ist kaum vor weiterer Erosion zu bewahren. Vielmehr wird mit den eingeleiteten Schritten weiteres Elend in der Bevölkerung verursacht. Auch alternative Reformen im Rahmen des sozialistischen Modells sind nicht in Sicht.
 
Wenig Grund für Optimismus sieht auch Sergei Medvedev in seinem Vergleich verschiedener Szenarien für Russlands Zukunft. Mit der Verhaftung des Ölmilliardärs Michail Chodorkowski im Herbst 2003 wurde eine neue Runde im Spiel um die Macht zwischen Staatsbürokratie, alten Sicherheitseliten und den Oligarchen der russländischen Privatwirtschaft eingeläutet. Dass diese Auseinandersetzung kurz- oder mittelfristig in einen Pfad der demokratischen Modernisierung einmündet, ist unrealistisch. Russlands Präsident steht vor der Alternative, weiterhin die gelenkte Demokratie mit bürokratischem Kapitalismus – nicht weit entfernt von der "Raubherrschaft", die Kitschelt beschreibt – zu verbinden, oder aber die zentralisierte Macht für Modernisierung und wirtschaftliche Liberalisierung zu nutzen. Letzteres Szenario könnte unter günstigen Bedingungen irgendwann die Weichen für politische Liberalisierung stellen. Dafür werden aber – so Medvedev – nicht zuletzt auch internationale Institutionen und Normen gebraucht, die Russland liberale Anschlusspunkte bieten. Denn ebenso wie in Deutschland verlaufen Selbstfindungs- und Normalitätsdebatten in der Epoche der Globalisierung – wohl glücklicherweise – nicht in nationaler Isolation.
         
 
         
 
 
         
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