Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2002

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Zu diesem Heft

Für eine Zeitschrift, die sich mit Fragen der internationalen Ordnung befasst, wird der 11. September aller Voraussicht nach für lange Zeit ein Referenzdatum bleiben. In der vorliegenden Ausgabe fragt Dick Howard nach der Bedeutung des 11. September. Der Autor bietet keine Liste registrierbarer Veränderungen an, auch keine neue Erklärung der Terrorangriffe, er bezieht das Ereignis auf das Politikverständnis der Linken. Howard kritisiert ein für die Linke typisches Herangehen, das die „Wurzeln“ des Terrors, das eigentliche Übel, im Kapitalismus, Imperialismus, der Globalisierung, Ausbeutung, usw. zu identifizieren sucht, aber nicht erklären kann, warum eine wie immer qualifizierte ungerechte Weltordnung gerade dieses Ereignis hervorbrachte. Die Suche nach den Wurzeln führt in eine ökonomisch oder moralisch bestimmte Welt der Anti-Politik, in der Gut und Böse, Richtig und Falsch immer schon vorgegeben sind, in der es keinen Raum mehr gibt für das politische Urteil und auf ihm gründende politische Handlungen. Demokratie aber ist eine Lebensform, die definitionsgemäß vorgegebener Sicherheiten entbehrt und daher ständig zum Urteil und zum politischen Handeln zwingt. Die Demokratie befindet sich in ständiger widersprüchlicher und (selbst)-kritischer Bewegung – und ist nicht zuletzt deshalb von innen wie von außen Angriffen ausgesetzt, die im Namen der Gewissheit, Reinheit, Einheit (oder auch des Marktes) demokratische Politik durch Antipolitik zu substituieren suchen. Die Bedeutung des 11. September liegt darin, dass der radikalislamistische Terror als Nachfolger der totalitären Ideologien und Staaten des 20. Jahrhunderts die Demokratie zu einer ständigen kritischen und offensiven Selbstvergewisserung zwingt – auch gegen Bestrebungen, die in der vorgeblichen Abwehr der terroristischen Bedrohung grundlegende Prinzipien der Demokratie verletzen.

Dick Howards Beitrag ist ein für die amerikanische Linke kennzeichnendes Dokument, nicht nur, weil er den 11. September mit der Hoffnung auf einen neuen innenpolitischen Konsens verbindet. Vor allem gibt er eine radikal republikanische Grundhaltung (in der Tradition von Hannah Arendt) wieder, deren Bezugssystem nicht in den sozioökonomische Bedingungen (die nicht negiert werden) liegt, sondern in der widersprüchlichen, offenen und ungewissen Dynamik der Demokratie, die die Möglichkeit bietet, alle Formen von Herrschaft praktischer Kritik zu unterziehen.

Sean L. Yoms Beitrag zum Zusammenhang zwischen Islam und Globalisierung geht eher indirekt auf den 11. September ein: In seiner Kritik der „globalen Chaostheoretiker“ wie Bernard Lewis, Samuel Huntington oder Robert Kaplan, die den Zusammenstoss zwischen Islam und der westlichen Welt (der Moderne, der Globalisierung) für unausweichlich halten – eine These, die durch den 11. September scheinbar bestätigt wurde. Diese Sicht basiert auf einer Gleichsetzung der Begriffspaare Säkularisierung/Religion und Moderne/Antimoderne, die sowohl historisch unzutreffend (auch nach der Aufklärung war Politik im Westen oft religiös beeinflusst; auch die Religionen einschließlich des Islam nahmen moderne säkulare Impulse auf) als auch auf den politischen Rahmen des Nationalstaats zugeschnitten ist, dessen Bedeutung durch die Globalisierung aber gerade relativiert wird. Die Renaissance des Islam, Teil einer generellen Renaissance der Religionen, reagiert auf die kosmopolitischen Tendenzen der Globalisierung, indem sie eine Art originären Rechts auf „einen Ort, eine Kultur und eine Gemeinschaft“ proklamiert, die sich vom Rest des Planeten unterscheiden. Die Religionen bilden als Instanzen der Identitätsbildung auch eine Pluralität von Widerständen gegen die Globali­sierung, deren Stärke aber darauf zurückgeht, dass sie sich der Mechanismen bedienen, die nur die Globalisierung bietet. Der Islam – von seinen radikalsten, bewusst antimodernen Fraktionen abgesehen – ist keine selbstbezügliche, sondern eine sich in der Interaktion mit der Globalisierung ständig verändernde Tradition, und als solche im globalen Chor der politischen und moralischen Optionen eine deutlich hörbare Stimme.

Yoms Beitrag wirft, durch die Brille Dick Howards gelesen, eine Frage auf, deren Beantwor­tung künftigen Auseinandersetzungen vorbehalten bleiben muss: Ist eine Religion wie der Islam kompatibel mit dem von Howard propagierten Demokratieverständnis, das definitionsgemäß durch die Abwesenheit vorgegebener Wahrheiten und Sicherheiten bestimmt ist? Säkularisierung und Aufklärung haben ja nicht die Religion an sich, sondern – wie auch Yom anmerkt –  „nur“ deren ontologischen Anspruch auf Wahrheit (und damit auch ihren Anspruch, verbindlich Politik anzuleiten) bekämpft. Können sich – umgekehrt – Religionen wie der Islam damit abfinden, politisch zur Privatsache degradiert zu werden? Wenn die Antwort nega­tiv ausfällt, könnte sich der von Yom vertretene Pluralismus der politischen und moralischen Optionen als problematisch erweisen – auch wenn dies nicht bedeutet, dass dies auf den von den „Chaostheoretikern“ prognostizierten unvermeidlichen Zusammenstoss der Kulturen hinauslaufen muss.

Der Analyse des russisch-amerikanischen Verhältnisses nach dem 11. September von Hans-Joachim Spranger kommt zu einem Ergebnis, das der von Howard normativ gezogenen Lehre diametral entgegengesetzt ist: Der amerikanische Staat reagierte auf die Terroranschläge, indem er jeden (auch vorher eher proklamierten als realisierten) Ansatz zur Demokratisierung Russlands ad acta legte und statt dessen schamlos macht- und interessenpolitisch vorging, nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund, unabhängig davon, welche weiteren Qualitäten er aufweist.

Drei Beiträge – die Analysen von Marcus Höreth zur europäischen Verfassungsdebatte, von Robert Christian van Ooyen zum Streit um den Internationalen Gerichtshof sowie von Eric Teo zur regionalen Kooperation in Ostasien – bewegen sich im Spannungsfeld Nationalstaat-Globalisierung, sie verweisen auf unterschiedliche Tendenzen und Probleme post-nationalstaatlicher politischer Strukturen. Anton Hemerijcks Analyse der Selbsttransformation europäischer Sozialmodelle zeigt, dass die europäischen Sozialstaaten – gegen die gängige These von deren Verkrustung und Inflexibilität –auf Entwicklungen wie die Alterung der Gesellschaft, die Währungsunion, die veränderten Geschlechterrollen usw. durchaus innovativ und differenziert geantwortet haben.

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 9/2002