Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2002


Zu diesem Heft

Der Kapitalismus hat gesiegt, aber es gibt sie noch: Länder, die dem Sozialismus keineswegs abgeschworen haben, auch wenn sie versuchen, ihn durch Reformen wirtschaftlich ertragreicher zu machen. Eines von ihnen, das volkreichste Land der Erde überhaupt, ist seit zwei Jahrzehnten auch das wirtschaftlich dynamischste – wenn man so will: das eigentliche Wirtschaftswunderland der Gegenwart. Sein kleiner sozialistischer Nachbar Vietnam gehört seit fünf Jahren ebenfalls zur Gruppe der besonders schnell wachsenden Volkswirtschaften. Vergleicht man damit das ökonomische Debakel, das in Europa und Zentralasien den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus begleitet hat, dann drängen sich Fragen auf, die sich nicht mit einem schnellen „Das lässt sich nicht vergleichen“ wegwischen lassen. Hans-Jörg Herr und Peter Wolff  bieten analytische Einsichten zum Erfolgsgeheimnis des ostasiatischen „Reformsozialismus“ an. Sie haben etwas mit dem Unterschied von Akkumulationsdynamik und statischer Effizienz zu tun, mit der makroökonomischen Kontrollfähigkeit politischer Systeme sowie mit Artikulation und Desartikulation wirtschaftlicher Austauschbeziehungen.

China und Vietnam haben bewusst den langen Marsch des Herauswachsens aus der Planwirtschaft angetreten, ohne dass das Ziel der Reise schon genau feststünde (für eine skeptische Sichtweise steht der in diesem Heft besprochene „China Dream“ von Joe Studwell). Castros Kuba, jener faszinierende „Fremdkörper“ der westlichen Hemisphäre, ist von der Not dazu getrieben worden, vom festen Ufer der sozialistischen Orthodoxie vorübergehend abzulegen. Dabei ist es jedoch in starke Strömungen geraten, gegenüber denen das Kurshalten des Kapitäns sich immer deutlicher als wirkungslos erweist. Hans-Jürgen Burchardt zeigt die Wege auf, die Kubas Entwicklung nehmen könnte. Beschleunigter zivilisatorischer Fortschritt ist weniger wahrscheinlich als ein Abdriften in die krisenträchtige Normalität der „Dritten Welt“.

Die Verheißung von Frieden, Freiheit und Wohlstand, die die weltpolitische Zäsur am Ende des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ zu kennzeichnen schien, ist nur zehn Jahre später wieder in weite Ferne gerückt. Der Stoff, aus dem Geschichte wieder vorrangig gemacht ist, ist der Kampf um Privilegien, um Macht und Einfluss. Jene Emanzipation der „normalen“ Menschen, die in der Figur des mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers eine einstweilige institutionelle Gestalt gefunden hat, kommt in weiten Teilen der Welt nicht voran. Das ist der Hintergrund für die neue Entfaltung von großen geopolitischen Machtspielen - „Great Games“ – ebenso wie für die Verfestigung gewaltsamer Konflikte unterhalb der staatlichen Ebene. Beide Arten von Machtkämpfen sind miteinander verbunden. Zu beiden bringt diese Ausgabe von INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT exemplarische Beiträge. Alec Rasizade stellt die Dimensionen und die Akteure des erneuten Ringens um die Auffüllung jenes Machtvakuums vor, das der Zusammenbruch der Sowjetunion in Zentralasien hinterlassen hat. Michael Ehrke  richtet an Hand eines Literaturberichts den Blick auf die „perverse“ Logik der Selbstverfestigung, die gewaltsamen Auseinandersetzungen innewohnt.

Im Anschluss an die Terrorakte des 11. September 2001 war viel die Rede von der neuen Herausforderung, mit der die „zivilisierte Welt“ konfrontiert ist. Tatsächlich stellt sich die politische Zivilisierung der Welt – in diese Richtung argumentiert auch Gernot Erlers Kommentar am Anfang des Heftes – immer mehr als die eigentliche große Herausforderung dar: die Ausweitung jenes institutionalisierten inneren und äußeren Friedens, der uns im Westen als Normalität erscheint, auf die ganze Welt. Das bedeutet sowohl „Weltordnung“ im Sinne des Beitrags von Hanns Maull in unserer 2/2002-Ausgabe als auch tragfähige Ordnung im Innern von Gesellschaften. Können wir Privilegierte der Welt hierzu etwas tun? Carlos Santisos Beitrag über die Bemühungen der Europäischen Union, Demokratie im Rest der Welt zu fördern, wirkt eher ernüchternd.

Die Perfektionierung des Zusammenlebens in den reichen demokratischen Gesellschaften mag vor dem globalen Hintergrund als Herausforderung verblassen. Gleichwohl ist gerade dies die Aufgabe, bei deren Bewältigung sich unsere Ordnung zu bewähren hat. Es ist der Stoff, aus dem zivilisierte Politik gemacht ist. Das mag als Perspektive dienen für die Überlegungen von David Miliband, einem der derzeitigen „Vordenker“ der Labour Party, zur behutsamen Neugestaltung der britischen Gesellschaft.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 5/2002