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Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2003 |
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Alle westlichen Regierungen äußern sich regelmäßig besorgt über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dennoch vermeidet die vom „Quartett“ im Mai 2003 vorgestellte Nahost-„Wegekarte“ das zentrale Problem: Wie lässt sich die politische Souveränität der Palästinenser durchsetzen? Erst die Antwort darauf wird über Erfolg oder Misserfolg der „Road Map“ entscheiden. Bisher jedenfalls hat die internationale Enthaltsamkeit in dieser Frage dazu geführt, dass jeder Lösungsvorschlag mit Enttäuschungen und in Bitternis endete, weil die Leidensfähigkeit von Israelis und Palästinensern offensichtlich nicht erschöpft ist. Beide Parteien sind davon überzeugt, dass sie von „essentials“ ihrer Bestrebungen abrücken sollen: hier von der Fortgeltung des Status quo seit 1967 und dort von einem Mindestmaß an individueller und kollektiver Selbstbestimmung. „Oslo“, ehedem hartnäckig als Friedensvertrag apostrophiert, versagte nicht wegen der mangelhaften Umsetzung seiner Vorgaben, sondern trug den Kern des Misserfolgs in sich, weil seine Autoren auf einen mechanistisch angelegten Verhandlungsprozess vertrauten. Die analoge Erwartung bedroht auch die Implementierung der „Road Map“: Auch sie will die Entscheidung über die endgültige palästinensische Ebenbürtigkeit bis 2005 aufschieben.
Israels flexible Verweigerung
Die Osloer Vereinbarungen hatten den Konflikt von der internationalen Tagesordnung genommen und regionalisiert. Die Palästinenser waren aufgerufen, von nun an ihre politische Zukunft selbst zu verantworten. Dieser Ansatz entsprach den Überzeugungen der PLO, wonach ihrer Sache am besten gedient sei, wenn sie sich von innerarabischen Auseinandersetzungen fernhalte, die Einmischung der USA minimiere und mit der Regierung in Jerusalem direkt verhandele. Auch die israelische Politik versprach sich gewichtige Vorteile: Sie musste ihre Interaktionen international nicht länger erklären und verteidigen, sondern die Gestaltung der Beziehungen zu den palästinensischen Gebieten sollte endgültig Teil der Innenpolitik werden; diese Absicht vertrat zumindest die parlamentarisch starke Opposition, die 1996 mit Benjamin Netanyahu die Regierungsgeschäfte übernahm. Wenn seit einiger Zeit im Westen unentwegt behauptet wird, dass die nahöstlichen Kontrahenten den Konflikt nicht aus eigener Kraft beenden können und vor allem auf die Amerikaner angewiesen sind, dann trifft diese Auffassung nur bei den Palästinensern als den Verlierern von 1993/95 auf Zustimmung. Ariel Sharon hingegen wehrt sich mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen Einmischungen. Seine politische Vita bietet keinen Anlass zu Optimismus: Ablehnung des Friedensvertrages mit Ägypten 1979, der israelischen Teilnahme an der Madrider Friedenskonferenz 1991 und der Prinzipienerklärung 1993, Stimmenthaltung gegenüber dem Friedensvertrag mit Jordanien 1994 sowie Ablehnung des Hebron-Protokolls 1997 und des Rückzugs aus dem Süden Libanons 2000. Nicht einmal von der Gliederung der palästinensischen Gebiete in die Zone A (vollständige palästinensische Autonomie), Zone B (mit Israel geteilte Verfügungsgewalt) und Zone C (vollständige israelische Verfügungsgewalt) ist unter seiner Führung etwas übriggeblieben. Der im Juni 2002 begonnene „Sicherheitszaun“ mit einer Länge von 365 Kilometern wird den Alltag der Palästinenser durch den israelischen Vorbehalt bei der Exklusivnutzung erheblicher Grundwasser-Vorräte in der Westbank weiter erschweren. Ihre Einwände gegen die „Road Map“ hat die israelische Regierung in vierzehn Änderungswünschen zusammengefasst. Die Kernbotschaft lautet, dass sie sich die Entscheidung über die Siedlungen besonders in der Westbank und über die Bewertung der palästinensischen Politik im Rahmen anstehender bilateraler Verhandlungen sowie die simultane Erfüllung eigener Verpflichtungen vorbehalten will. Würde sich abzeichnen, dass der Apparat des palästinensischen Regierungschefs Machmud Abbas seine Zusagen gegenwärtig nicht einhalten will oder kann, entfiele für Sharon die Einleitung der nächsten Phase – die Zustimmung zu einem vorläufigen palästinensischen Staat. Sharon fürchtet davon eine Dynamik, die auf das Ende der Besatzung und auf einen souveränen palästinensischen Staat statt auf die Konsolidierung der israelischen Präsenz hinausläuft. Israels flexible Verweigerung, die sich auf das Argument der nationalen Sicherheit stützt, dürfte auch deshalb schwer wiegen, weil die Mitglieder des „Quartetts“ ausgiebig mit eigenen Problemen beschäftigt sind: die USA mit dem Irak und Russland mit innenpolitischen Problemen. Die Europäische Gemeinschaft muss ihre Aufmerksamkeit der Osterweiterung widmen, wobei für die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) neue Hürden zu nehmen sind. Die Vereinten Nationen schließlich sorgen sich um ihre Struktur und ihre Handlungsfähigkeit. Dagegen bemühen sich einige arabische Staaten, allen voran Ägypten, die als Partner der „Wegekarte“ gar nicht vorgesehen waren und deren Beiruter Nahost-Friedensprogramm vom Frühjahr 2001 sich keiner Wertschätzung erfreuen darf, um eine Deeskalation des Konflikts in ihrer Nachbarschaft und um die Entschärfung innerpalästinensischer Rivalitäten.
Angesichts der Gefahr eines neuen Fehlschlages sind im Westen zwei Überlegungen vorgetragen worden, die den Verlust an politischer Glaubwürdigkeit in Grenzen halten sollen. Da ist zunächst die Forderung des Europäischen Parlaments vom April 2002 nach Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel aufgrund der in Artikel 2 festgeschriebenen Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien. So sehr die Vorwürfe gerechtfertigt sind, so sehr entbehren sie einer gewissen Glaubwürdigkeit, wenn arabische Assoziierungspartner im Mittelmeerraum – Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien – verschont werden, denen Menschenrechtsorganisationen ebenfalls kein gutes Zeugnis ausstellen. Das Argument, dabei handele es sich um innenpolitische Angelegenheiten, die sich der Intervention entziehen, führt im Zeitalter der Globalisierung nicht weiter. In die gleiche Richtung zielen Brüsseler Überlegungen, die
Israel zur Deklarierung von Exportprodukten aus den Siedlungen
zwingen sollen. Die Jerusalemer Regierung bestreitet zwar nicht
deren Herkunft, betrachtet aber den Vorgang als eine bilaterale
israelisch-palästinensische Angelegenheit – ein Nachhall Oslos.
Gleichsam im Gegenzug haben Ökonomen der Weltbank eine neue
Entwicklungsstrategie für den palästinensischen Arbeitsmarkt
sowie für Handwerk und Gewerbe vorgeschlagen, um den Frieden
zwischen beiden Völkern zu fördern. Diese Ansatz greift freilich
zu kurz. Schon das Pariser „Protocol on Economic Relations“
vom April 1994 zeigte, dass nur der Abbau der äußeren Voraussetzungen
– der von Israel betriebenen bürokratischen Hemmnisse, der physischen
Blockaden und der infrastrukturellen Zerstörungen – dafür sorgen
kann, dass sich die palästinensische Wirtschaft selbstbestimmt
entwickelt. Die nach Milliarden Euro zählenden Güter- und Finanztransfers
in die palästinensischen Gebiete haben den Aufbau nicht vorangebracht,
sondern bei Gebern und Empfängern Frustrationen genährt, weil
die Bedingungen der Souveränität fehlen. Für Israel unerwartet
war freilich, wie flüchtig sich Fremdkapital in Krisensituationen
auch im eigenen Land verhält. Netanyahus einstige Prophezeiung
vom „Silicon Wadi Israel“ hat sich in Luft aufgelöst, und die
wirtschaftlichen Spannungen sind gewachsen. Zum anderen ist im Ausland die Idee einer Interventionstruppe ventiliert worden. Aber sie kann ihre politische Kurzatmigkeit ebenso wenig verleugnen wie der Gedanke an ein Protektorat auf Zeit. Zwar ist nach dem Vorstoß von Kofi Annan im Juni 2003 der französische Vorschlag einer Machbarkeitsstudie international auf deutliche Zurückhaltung gestoßen, doch hat diese Vorsicht auch deutsche Politiker nicht davon abgehalten, sich der Forderung nach einer militärischen Pufferzone zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten anzuschließen. Abgesehen davon, dass sich Sharon gegen ihre Existenz von Grund auf verwahrt, scheinen sich nur wenige Verantwortliche die Frage zu stellen, wie die geplanten Überwachungen und Eingriffe angelegt sein müssten, denn auch hier ist die Hoheitsgewalt das entscheidende Hindernis. Noch ist in lebhafter Erinnerung, dass nicht einmal einer UN-Delegation zur Untersuchung der Vorgänge im Flüchtlingslager Jenin (Mai 2002), die Annan dem früheren finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtissari anvertraute, der Zutritt gewährt wurde. Die vier unter US-amerikanischer Leitung stehenden Überwachungsteams für die „Road Map“ stehen deshalb vor einer außerordentlichen Bewährungsprobe. Völlig fraglich ist, ob die seit 1967 geschaffenen „facts on the ground“ in den besetzten Gebieten reversibel sind. Auf den israelischen Landkarten ist die Markierung der alten „Grünen Linie“ längst weggefallen; in Schulbüchern sind die Palästinenser nach einer Untersuchung des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig kulturell, religiös und gesellschaftlich abwesend oder unterliegen negativen Stereotypen. Pädagogische Curricula und Medien werben für die öffentliche Akzeptanz der Idee von der Herrschaft des jüdischen Volkes über alle Teile des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan. Die Asymmetrie ist planmäßig tief gestaffelt.
Wem gehören Westbank und Ost-Jerusalem?
In Israel gehört die Vorstellung von den palästinensischen
Gebieten als Faktoren der militärisch-strategischen Sicherheit
längst der Vergangenheit an. Gegenüber dem Ausland erfüllt sie
zwar eine wichtige Funktion der politischen Rechtfertigung,
im Inland hingegen wird der Begriff immer stärker im Sinne eines
nationalen, biblisch begründeten Vermächtnisses interpretiert:
Im allgemeinen Sprachgebrauch hat „Land Israel“ weithin den
Begriff „Staat Israel“ ersetzt. Zwar hat Sharon wiederholt erklärt,
dass er den Palästinensern einen Staat, in welcher territorialen
und politischen Konstruktion auch immer, zugestehen will, aber
er sieht sich vorrangig der Sicherung der jüdischen Existenz
in der Wiege des jüdischen Volkes verpflichtet, woraus er die
Weigerung ableitet, der palästinensischen Bevölkerung das Recht
auf volle Unabhängigkeit einzuräumen. Die israelische Politik argumentiert seit langem, dass die Gültigkeit des Völkerrechts in der Westbank und in Ost-Jerusalem zumindest strittig interpretiert werden kann. Auch wenn es die Vierte Genfer Konvention ratifiziert hat, wird zwischen ihrer theoretisch-bindenden Beachtung und der freiwillig-praktischen Anwendung unterschieden. Zur Begründung ist ausgeführt worden, dass Art. 6 (9) des israelisch-jordanischen Waffenstillstandsvertrages die Demarkationslinien nicht als endgültige politische oder territoriale Grenzen bestätigt und dass deshalb die Einverleibung der Westbank im April 1950 durch König Abdullah I. völkerrechtswidrig sei. Tatsächlich erkannten lediglich Pakistan und Großbritannien die Annexion dieses Gebietes durch Jordanien an. London wollte damit seine privilegierte Stellung im Haschemitischen Königreich festigen, die es bis zur Entlassung des kommandierenden Generals der „Arabischen Legion“, des Briten John Glubb Pascha, im März 1956 aufrechterhalten konnte, während die israelische Regierung unter David Ben-Gurion die Einverleibung ohne Aufhebens hinnahm, weil sie ihre eigenen territorialen Gewinne im Unabhängigkeitskrieg nicht gefährden wollte; schließlich waren sie vom Waffenstillstandsvertrag in Rhodos festgeschrieben worden. Außerdem hatte Abdullah auf ein Gebiet von rund 600 Quadratkilometern und auf einige arabische Dörfer verzichtet, so dass Israel seine Wespentaille östlich von Hadera von 13 auf 18 Kilometer verbreitern konnte.
Nach dem Sechstagekrieg folgte der sogenannte Allon-Plan dem Grundgedanken, dass Israel am Jordantal und an der Judäischen Wüste wegen ihrer strategischen Vorteile festhalten und dafür andere Gebiete in der Westbank den Palästinensern überlassen solle. Dieser Grundriss des damaligen Arbeitsministers sah sich freilich durch zunehmende Einwirkungen einer religiösen Renaissance herausgefordert. Sie bereitete der Ambivalenz bisheriger Rechtsstandpunkte, die sich bislang der politischen Pragmatik beugen mussten, ein Ende. So vertraten besonders der ehemalige Präsident des Obersten Gerichts Meir Shamgar und der israelische UN-Botschafter Yehuda Blum die Auffassung, dass vor dem Junikrieg in der Westbank kein allseits unumstrittener Souverän regiert habe und die Präsenz der israelischen Militärverwaltung über das Gebiet und seine Bevölkerung zeitlich ungebunden sei. Angesichts solcher Einsprüche, in denen sich juristische Fachkompetenz mit dem kollektiven Gedächtnis der jüdischen Religionskultur in Palästina verband, scheiterte König Husseins Föderationsplan für die Westbank und den Gazastreifen im März 1972 am Widerstand Golda Meirs, auch wenn Vorbehalte für das letztgenannte, als unregierbar geltende Gebiet mit 1,3 Millionen Menschen auf 360 Quadratkilometern später eingeschränkt wurden. Der Beendigung der israelischen Hoheit über die 1200 Quadratkilometer großen, 1981 annektierten Golanhöhen stehen ebenfalls keine unüberwindlichen Hindernisse im Wege. Wenn das Schicksal der Sheba-Farmen – ein 25 Quadratkilometer großes Gelände mit 14 Gehöften im Grenzgebiet zwischen Israel, Libanon und Syrien – sowie ein syrischer Zugang zum See Genezareth geklärt werden können und wenn Syrien sein faktisches Protektorat über Libanon aufgibt – und dies mit einer weiteren Domestizierung der „Hisbollah“ einher geht –, dürfte der Weg für die Anerkennung der Damaszener Souveränität über den Golan mittels pragmatischer Regelungen frei werden. Für die Westbank sind von Israel hingegen andere Vorgaben definiert worden, die sich in fünf Abschnitte gliedern lassen:
Diese Polster sorgten dafür, dass Anfang der achtziger Jahre
die Herrschaft vom israelischen Militärregime stufenlos auf
eine „Zivilverwaltung“ übergehen konnte, deren umfassende Kompetenzen
in der internationalen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit erregten.
Nach schweren Auseinandersetzungen mit der PLO unternahm König
Hussein Ende Juli 1988 jenen folgenschweren Schritt, der zu
Lasten der Palästinenser bis heute nachwirkt: Jordanien gab
seine Souveränitätsrechte in der Westbank auf und übertrug sie
auf die PLO. Da jener aber die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt
fehlte, konnte sich die israelische Auffassung endgültig bestätigt
fühlen, dass die Gültigkeit des fremden Staatsrechts auf der
Westbank endgültig erloschen sei. Folgerichtig enthielt die Prinzipienerklärung keine Zustimmung
zur Konstituierung einer palästinensischen Regierung, vielmehr
gewährte Israel die Einrichtung einer Autonomiebehörde („Palestinian
Authority“) – die Beigabe „National“ ist palästinensischen Ursprungs
zur Betonung des eigenen Selbstbewusstseins – und behielt sich
alle Souveränitätsrechte vor. An keiner Stelle der Osloer Vereinbarungen
machte die damalige Regierung Rabin/Peres die Zusage eines palästinensischen
Staates. Wenn Arafat der Aufschiebung der zentralen strittigen
Fragen um die Zukunft der Siedlungen, Jerusalems, der palästinensischen
Flüchtlinge, der Sicherheitsprobleme und der internationalen
Beziehungen der Palästinenser bis Mai 1999 zustimmte, dann darf
vermutet werden, dass er dem kommenden Schwung des Verhandlungsprozesses
eine Qualität beimaß, die Israel zu weitreichenden Konzessionen
zwingen werde. Es sprach für Ehud Barak, dass er nach der ergebnisschwach
verlaufenen Interimsphase den Konflikt nicht mehr schrittweise
regeln wollte, sondern mit einem großen Wurf („grand design“)
abzuschließen suchte.
Entsäkularisierung der israelischen Politik ...Die Vitalität des zionistischen und des palästinensischen Nationalismus
speist sich aus tieferen Quellen als aus einer geopolitischen
Rivalität. In Israel hat der sogenannte Yeshiva-Nationalismus
– die aktivistische Ideologie-Symbiose aus Religion, Volk und
Land, die den säkularen Zionismus verdrängt hat – seinen Marsch
durch alle Teile der Gesellschaft angetreten; Völkerrechtler
wie Blum und Shamgar sprachen wie selbstverständlich von „Judäa
und Samaria“, wenn sie die Westbank meinten. An die Botschaften
und Konsulate erging Ende der siebziger Jahre die Anweisung,
die „befreiten Gebiete“ als integrale Bestandteile des Staates
Israel zu bezeichnen. Kein Jude, so war in Siedlerkreisen zu
vernehmen, habe zweitausend Jahre lang für die Rückkehr ins
„Philisterland“ – in die Küstenebene – gebetet, und nicht nur
in Hebron wurde der Satz kolportiert, wer sich aus dieser Stadt
zurückziehe, solle den Mut haben, in Tel Aviv die Lichter zu
löschen. Dem klassischen Verhandlungskonzept wurde mithin ein
theologisches Verständnis von Souveränität gegenübergestellt,
das in der vollständigen Verfügung über alle Teile des „Landes
Israel“ ein heilsgeschichtliches Axiom erblickt. Es reife die
Zeit heran, in der nach der politischen Wiedergeburt Israels
im Jahr 1948 die umfassende Heiligung Gottes, der „Shalom“,
hervortreten werde. Die Politik sorgte für den Schutz der Siedler, auch wenn diese gegen die palästinensischen Eigentümer an Grund und Boden zur Gewalt griffen. Handelt das Militär im Rechtsstaat gemäß den Vorgaben der Politik, so entstand durch personelle Überlappungen das symbiotische Modell einer instrumentellen Partnerschaft mit der Politik (Regierung, Parteien und Institutionen): Die Grenzen zwischen Militär und Zivilgesellschaft verwischten sich, weil Generäle und Obristen immer deutlicher eigene Ziele jenseits ihrer militärischen Professionalität verfolgten. Sie greifen in politische Planungen ein, entscheiden in den palästinensischen Gebieten über Recht und Gesetz und rühmen sich analog dem früheren Postulat von der „Reinheit der Waffen“ höchster moralischer Kompetenz, obwohl viele Soldaten davon weit entfernt sind. Selbst die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sieht sich in seiner Unabhängigkeit massivem Druck ausgesetzt. Aus einer Studie unter jungen „säkularen Gläubigen“ aus den
Jahr 2001 geht hervor, dass sich unter dem Mantel individueller
Lebensentwürfe eine tiefe Sehnsucht nach Tradition und Religion
verbirgt, denen die Öffentlichkeit größeren Respekt entgegenzubringen
habe. Solche Erhebungen bestätigen den allgemeinen Eindruck,
dass sich die israelische Gesellschaft im Blick auf die Anhänger
der religiösen Observanz weit verständnisvoller und toleranter
zeigt, als dies in Außenwahrnehmungen erscheint. Mehr noch:
Auch die politisch extremistische Peripherie ist in die gesellschaftliche
Mitte eingewandert und hat alle Parteigrenzen überwunden. Dieser
schon in den siebziger Jahren erkennbare Trend hat das gesamte
System nachhaltig beeinflusst, wenn nicht gar gestört. Die Bemessung
ihrer quantitativen Größe und ihres qualitativen Gewichts an
der Zahl der Abgeordneten der rechtskonservativen und Religionsparteien
im Parlament führt in die Irre. Denn säkulare Politiker nutzen
traditionalistische Bedürfnisse für ihre Ziele, während sie
in religiösen Kreisen als „Esel des Messias” willkommen sind:
Auf ihre religiöse Gelehrsamkeit komme es nicht an, solange
sie ihre Pflicht zur „Erlösung des Landes Israel” erfüllen.
Auf die These, dass die Anwesenheit der palästinensischen Bevölkerung
einem historischen Zufall zuzuschreiben ist, hat die politisch
amorphe Friedensbewegung keine bündigen Antworten gefunden außer
einer Vernunft, der die Kraft einer politischen Räson abgeht.
Mahnende Stimmen bleiben akademischen und intellektuellen Zirkeln
vorbehalten, die in der Öffentlichkeit verhallen. Wenn Meinungsumfragen
die Bereitschaft zu erheblichen Zugeständnissen für die Palästinenser
ermitteln, dann ist damit keineswegs entschieden, welche Deutung
dem Frieden beigemessen wird. Soll er sich auf die Hypothesen
der Politik oder auf die ewigen göttlichen Wahrheiten gründen?
Das erste Opfer dieses Antagonismus wurde der zu politischer Zögerlichkeit neigende Yitzhak Rabin. Als er im Interimsabkommen vom September 1995 („Oslo II“) einem Teilrückzug aus der Westbank zustimmte, ließ er zwar keinen Zweifel daran, dass „in jedem Weinberg, auf jedem Feld, auf jedem Olivenbaum und in jeder Blume die jüdische Geschichte tief eingepflanzt ist“. Weil er indes gleichzeitig darauf hinwies, dass „diese gute Erde heute mit dem palästinensischen Volk zu teilen ist“, gab er ein Bekenntnis zu einer halbierten Souveränität, das er fünf Wochen später mit dem Tod bezahlte: Er hatte die von oberster rabbinischer Stelle stammende Warnung in den Wind geschlagen, wen das Land – Judäa und Samaria – nicht kümmere, um den kümmere sich das Land nicht. Seither strapazieren Politiker, Schriftsteller und Intellektuelle unabhängig von ihren ideologischen Bindungen das Wort von den „schmerzlichen Kompromissen“.
Es war das bleibende Verdienst Baraks, dass er gegen den Widerstand der parlamentarischen Mehrheit einen territorialen Mittelweg einschlagen wollte, der mutiger war als die Bereitschaft jedes Premiers vor ihm und wahrscheinlich auch danach: das Angebot eines Staates Palästina mit dem gesamten Gazastreifen und zwischen 80 und 86 Prozent der Westbank bei gleichzeitigem palästinensischem Verzicht auf den gänzlichen Vollzug des Rückkehrrechts der Flüchtlinge von 1947/48. Doch bereits vor dem Gipfeltreffen in Camp David hatte eine Medienkampagne für den Eindruck gesorgt, dass die israelische Regierung ständig zu Konzessionen bereit sei, während die Palästinenser jegliche Bereitschaft zum Einlenken von sich weisen würden. Baraks kapitaler Fehler bestand darin, dass er den Jahrhundertkonflikt mit dem Geniestreich einer zweiwöchigen Konferenz ohne ein Sicherheitsnetz beenden und sich dazu eines Diktats bedienen wollte, das die Entscheidung über die vollständige Souveränität der Palästinenser aussparte. Ihr Staat wäre in vier unterschiedliche Sektoren aufgeteilt worden: die nördliche, die zentrale und die südliche Westbank sowie der Gazastreifen, dazu eine von Ost nach West verlaufende Transitstrecke. Auch wenn Arafats Delegation in wesentlichen Fragen keine gemeinsame Linie fand und durch persönliche Rivalitäten von sich reden machte, war sie sich darin einig, dass die israelischen Angebote auf eine Kapitulation hinausliefe, wie Nabil Shaath, Minister für Außenbeziehungen, betonte: „Wir werden keinen Quislingsstaat akzeptieren. Wir werden keinen Semistaat akzeptieren. Wir werden keinen Staat ohne Hauptstadt, ohne Grenzen unter unserer Souveränität und ohne den Himmel unter unserer Souveränität akzeptieren und ohne eine tatsächliche Lösung jener Probleme, denen wir in den Jahren der Besatzung ausgesetzt waren.“ Hingegen glaubte Barak, dass die palästinensische Führung zu
einem historischen Kompromiss bereit sei, weil ihre politische
Autorität in der eigenen Bevölkerung schwinde – die Einschätzung
bestätigte sich mit dem Ausbruch der zweiten „Intifada“. Als
er weitere Vorschläge im Januar 2001 nachschob, war sein Stern
innenpolitisch bereits so stark gesunken, dass er die kürzeste
Amtszeit in der israelischen Geschichte absolvierte: Bei den
Wahlen belief sich der Stimmenabstand zu seinem Herausforderer
Sharon auf einmalige 26 Prozent. Die Israelis, ansonsten gespalten
und fraktioniert, sammelten sich in seltener Geschlossenheit
hinter dem Versprechen des neuen Ministerpräsidenten, die Palästinenser
militärisch zu domestizieren und ihnen jede Hoffnung auf einen
lebensfähigen Staat zu nehmen.
... und der palästinensischen PolitikAuch wenn die palästinensische Politik weithin unter dem israelischen
Diktat steht, verfügt sie über autonome Gestaltungsräume: Ohne
einen Staat und ohne einen professionell arbeitenden Behördenapparat
hat sich eine Dynamik entwickelt, in der Fraktionen und Institutionen
kontrovers argumentieren und handeln. Nach der versuchten Abschiebung
Arafats auf das Amt eines Präsidenten und der Ernennung von
Abbas zum „Ministerpräsidenten“ sowie parallel zu den Bemühungen
um das Ende der von „Hamas“ und „Islamischem Djihad“ geplanten
Selbstmordattentate äußert sich dieses politische Eigenleben
als gefährlicher Nervenkrieg zwischen den Lagern. Wenn die Dimension der innerpalästinensischen Willensbildung
im Westen nur geringe Aufmerksamkeit gefunden hat oder lediglich
als Reaktion auf die israelische Politik verstanden wird, so
ist die Neigung zu vermuten, die Palästinenser ausschließlich
als beklagenswerte Opfer zur Kenntnis zu nehmen und ihnen die
Rolle als historische Subjekte abzusprechen. Darüber hinaus
wird der Anschein erweckt, als ob die blutigen Begleiterscheinungen
des Befreiungskampfes keinem politischen Ermessen folgten und
statt dessen auf einen genetischen oder kulturellen Defekt zurückzuführen
seien. Ein Dokument für die Absurdität der These, dass sich
die Palästinenser allein als die hilflosen Objekte einer gnadenlosen
Militärmaschinerie sehen, vermittelt der materialreiche Streifen
des israelisch-palästinensischen Filmemachers Nizar Hassan „Unabhängigkeit“
über das Flüchtlingslager Jenin mit rund 13 000 Palästinensern,
Flüchtlingen von 1948 und deren Nachkommen. Dem Vorgehen des
israelischen Militärs im Rahmen der „Operation Schutzschild“
stellten sich im April 2002 ungefähr 150 bewaffnete Lagerbewohner
verschiedener Milizen entgegen. Die Autonomiebehörde spielte
während der zweiwöchigen Auseinandersetzungen keine Rolle. Für
die Lagerbewohner, die nach eigener Überzeugung „historischen
Widerstand“ leisteten, endete die 28tägige Gegenwehr mit einem
Sieg. Der palästinensische Kampf, so Hassan, sei moralisch gerechtfertigt,
auch wenn er unmoralische Elemente enthalte, und in das Moment
des Schmerzes mischten sich Stolz und neue Kraft: „Es gibt das
ständige Image des Palästinensers als bedauernswertes Opfer.
Ja, er ist ein Opfer und bestimmt zu bedauern, aber im Lichte
dessen, was ich gesehen habe, gibt es keinen Grund, noch einmal
[im Film] das Bild des elenden, verwundeten Palästinensers zu
wiederholen, der aus den Seiten der Geschichte heraustritt und
um Gnade bei seinen Unterdrückern oder bei den amerikanischen
und den europäischen Herren seines Unterdrückers bettelt. Es
ist an der Zeit, den Palästinenser zu zeigen, dass er handelt,
denkt, an der Geschichte teilhat, die Wirklichkeit kontrolliert,
in der er lebt, sich seiner Situation bewusst ist und ein Ziel
verfolgt: zu siegen.” Wie der Ausbruch der ersten „Intifada“ machte die PLO auch der Beginn des zweiten Volksaufstandes verlegen: Er ging nicht auf eine Anweisung Arafats zurück. Die Erklärung des provokativen Besuchs von Ariel Sharon auf dem Tempelberg Ende September 2000 reicht ebenfalls nicht aus. Vielmehr war der Aufruhr eine Mixtur von Faktoren, zu denen der innerpalästinensische Streit gehörte. Nach dem endgültigen Zusammenbruch des Friedensprozesses, mit der erwiesenen Reformunfähigkeit der Autonomiebehörde und unter dem Eindruck des unberechenbaren und autoritären Führungsstils Arafats in Kombination mit seiner politischen Sprunghaftigkeit und dem bisweilen abenteuerlich anmutendem Kalkül ließen sich Zorn und Ärger nicht länger verbergen. Eine „junge Garde“ – „Fatah“-Angehörige, Mitglieder des Kommandos von „Tanzim“ („Organisation“) unter Führung von Marwan Barghouti, dem nominellem Generalsekretär von „Fatah“, sowie Mitglieder des Revolutionsrates der PLO – meldete sich gegen die „Tunesier“ zu Wort, die eins ums andere Mal politisch versagt hatten. Die Erosion bisheriger Loyalitäten trat desto deutlicher hervor, je länger die „Intifada“ dauerte.
Die „Tunesier” repräsentierten weder die neue Generation, die in der Besatzungszeit sozialisiert worden war, noch verfügten sie über konkrete Erfahrungen, die sich auf die damaligen Okkupationsbedingungen bezogen. Bevor sie Anfang Juni 1994 im Gazastreifen triumphal begrüßt wurden, hatten sie sogar darum gebeten, dass sich die israelischen Truppen nicht schon bei Unterzeichnung des Dokumentes, sondern erst nach ihrem Eintreffen zurückziehen möchten – sie fürchteten um die Fortgeltung ihres politischen Alleinvertretungsanspruchs. Zwar war es Israel gelungen, die palästinensische Gemeinschaft sozial zu verwüsten, doch gleichzeitig hatte sich ein neues Selbstbewusstsein etabliert, das sich nur mühsam dem politischen Import fügen wollte. Endgültig erreichten die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Strömungen Anfang 2002 die politischen Führungsebene: Der damals als Sekretär des PLO-Exekutivausschusses amtierende Abbas warf die Frage auf, welche Ziele der Kampf erreicht und welche Konsequenzen er nach sich gezogen habe. Abbas präsentierte die wenig schmeichelhafte Erkenntnis, dass der bewaffnete Aufstand Israel die Chance vermittelt habe, seine Aggression fortzusetzen und zu intensivieren. Mehr noch: Abbas forderte die Auflösung der „Al-Aqza-Brigaden“ von „Fatah“ dem traditionellem Rückgrat der nationalen Befreiungsbewegung -, weil sie die politisch legitimierte Führung beschädigten, und schlug eine international ausgreifende Sympathiekampagne vor: „Lasst uns der Welt sagen, dass wir gemordet und zerstört haben und dass dies ein Verbrechen ist, das beendet werden muss, weil wir Frieden wollen. Jeder, der an den Frieden glaubt, würde dann auf unserer Seite stehen. Wir müssen sehen, dass die ganze Welt jetzt nach einem palästinensischen Staat ruft, was bisher nicht vorgekommen ist. In Ergänzung zu [der Forderung nach] dem Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten ist dieses Verlangen zu einem beständigen Axiom der internationalen Gemeinschaft geworden.“ Selbst wenn man solche Hoffnungen als realitätsfern beurteilt, so legte das Eingeständnis von selbstgestellten Fallstricken und Fehlern die Illusion Arafats bloß, wonach die gewaltige Militärmaschinerie Israels in die Knie gezwungen werden könne. Dass die Selbstkritik von einem Angehörigen der „alten Garde“ kam, zeigte zudem an, dass es den jungen Militanten nicht gelungen war, eine politische Alternative anzubieten, die sich erheblicher Popularität erfreuen konnte. Über diese Schwäche konnte auch der Beitrag des inzwischen in einem israelischen Gefängnis einsitzende Marwan Barghouti nicht hinwegtäuschen, als er in der „Washington Post“ (16.1.2002) die israelische Politik aufforderte: „Beendet die Okkupation, erlaubt den Palästinensern, in Freiheit zu leben, und lasst die unabhängigen und ebenbürtigen Nachbarn Israel und Palästina eine friedliche Zukunft mit engen wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen aushandeln... Ich will Israel nicht zerstören, sondern nur die Besetzung meines Landes beenden.“ Damit wiederholte Barghouti Vorstellungen, die bislang ohne Ergebnis geblieben waren. Dafür erreichte der islamistische Diskurs, der in der arabischen Welt seit der katastrophalen Niederlage von 1967 eingesetzt hatte, die palästinensischen Gebiete in den späten achtziger Jahren. Nach dem Scheitern der Osloer Vereinbarungen wurde das Vertrauensvakuum, das die Autonomiebehörde aufriss, allmählich von „Hamas“ gefüllt, deren Leitung politische, religiöse und soziale Vorstellungen miteinander kombinierte. „Unser Ziel ist die Errichtung eines panislamischen Staates, wie es ihn noch vor einhundert Jahren [in Gestalt des Osmanischen Reiches] gab“, erklärte ihr Sprecher Machmud Zahhar, der führende ideologische Kopf im Gazastreifen. Was den Juden recht erschien, sollte den Palästinensern billig sein: Der israelischen „Ganz-Israel“-Politik setzte „Hamas“ das Postulat der territorialen Integrität des arabisch-islamischen Palästina gegenüber. Dabei berief sich der religiöse Widerstand auf das Konstrukt vom „Haus des Islam“, das keine fremde Herrschaft in seiner Mitte dulden will. Hatten Islamisten zunächst auf gewalttätige Aktionen gegen Israelis verzichtet, so änderte sich diese Zurückhaltung mit dem ersten Selbstmordattentat im April 1993. Die Unterschätzung dieses „Islamo-Nationalismus“ spüren mittlerweile auch die Amerikaner im Irak: Nach dem willkommenen Befreiung verlangt die öffentliche Meinung ihren sofortigen Abzug. Wie in Israel stellte sich heraus, dass große Teile der palästinensischen Bevölkerung keineswegs so säkular sind, wie bisweilen angenommen worden war – von Gilles Kepels Prophezeiung eines Niedergangs des Islam ist nicht die Rede, solange die Politik mit ihrem Handeln kein Vertrauen schafft. Dabei geht es führenden Kräften unter den religiösen Extremisten nicht allein um die Zerstörung des Staates Israel, sondern im letzten Stadium um die Eliminierung säkularer Regimes wie jenem der Autonomiebehörde. Immer stärker stach deshalb Arafats Bemühen ins Auge, mit echauffierter islamischer Rhetorik dieser Herausforderung standzuhalten. Politisch schlug sich die Wendung in den diversen Verfassungsentwürfen nieder, in denen der Islam als Staatsreligion und die „Sharia“ als Hauptquelle der Gesetzgebung bezeichnet wurden. Indem sich das politische Denken zunehmend in theologisch-religiösen Kategorien äußerte, nahm der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern den Charakter eines Widerstreits zweier Zivilisationen an – und näherte sich damit der Gefahr eines unauflösbaren Gegensatzes.
Das System Arafat und seine OpponentenJe aussichtsloser die palästinensischen Hoffnungen auf einen
eigenen Nationalstaat wurden, desto üppiger schossen alternative
Phantasien einschließlich eines gemeinsamen Staates für Juden
und Araber aus dem Boden und gewannen eine verblüffende Dynamik.
Damit wurde ein wunder Punkt in den politisch vorherrschenden
Lösungsmodellen getroffen, dem auch die „Road Map“ mit einer
gewissen Ratlosigkeit ausgesetzt ist. Auch wenn palästinensische Repräsentanten keinen Zweifel an der Berechtigung ihrer Forderung nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht aufkommen ließen, so setzten sie als Kontrapunkt zur schleichenden politischen Resignation auf die Entwicklung einer pluralen Zivilgesellschaft. So trat Haydr Abd’ al-Shafi, Verhandlungsführer seit Madrid, dafür ein, das palästinensische Haus unabhängig vom Ende der Okkupation in Ordnung zu bringen. Auch für seine Sprecherin Hanan Ashrawi begann der Prozess des staatlichen Aufbaus („nation-building”) mit der Verwirklichung demokratischer Ideen bei umfassender Achtung der Individualrechte. Noch weiter ging der heutige Präsident der Al-Quds-Universität Sari Nusseibeh, der die Integration der besetzten Gebiete in das Staatsgebiet Israels auf der Grundlage gleicher politischer Rechte empfahl: Menschen wie er hätten nicht für einen weiteren, sondern für einen demokratischen Staat in der Region gekämpft. Der Präsident des Obersten Gerichts in Gaza kritisierte den geringen Respekt der Autonomiebehörde vor dem Gesetz und die mangelnde Unabhängigkeit der Rechtspflege. Per Verordnung wurde die Medienberichterstattung über die Arbeit des Parlaments an Auflagen gekoppelt, die eine Missachtung von Grundsätzen der Berufsmoral begünstigten. Um Unabhängigkeit bemühten Journalisten wurde vorgehalten, die „nationale Einheit” zu gefährden, manche flüchteten daraufhin in die Selbstzensur. Gleichwohl verstummten kritische Anfrage wie diese nicht: Wie sei von Israel glaubwürdig das Ende von Terror und Folter zu verlangen, wenn die eigenen Behörden mit dem Volk genauso umgingen? Wer einen Staat aufbauen wolle, brauche Bürger und keine Sklaven. Akademiker und Angehörige der politischen Führung wie Faisal
Husseini, Jerusalem-Beauftragter der Autonomiebehörde, hatten
sich den eigenen Staat als Übergangsetappe für weniger als zehn
Jahre – gleichsam für einen Flügelschlag der Geschichte – oder
ein konföderatives Modell mit Israel und Jordanien vorstellen
können, „um frische Luft zu atmen nach so vielen Jahren der
Unterdrückung”; erst kurz vor seinem Tod im Sommer 2001 veranlasste
ihn die Mutlosigkeit zum Plädoyer für die Befreiung des historischen
Palästina in allen seinen Teilen. Der an der Columbia University
lehrende Edward Said und der syrische Philosoph Sadik al-Azm
hielten einen unabhängigen palästinensischen Staat für keine
tragfähige politische Option mehr. Ähnlich argumentierte der
Jerusalemer Historiker Nazmi al-Jubeh, der sich auf eine kleine
Gruppe von palästinensischen Akademikern und Intellektuellen
berief. Dagegen wollte der israelische Soziologe Meron Benvenisti
dem anhaltenden Kreislauf der Gewalt eine Hoffnung abgewinnen:
Vielleicht werde sich stufenweise ein Verständnis entwickeln
oder gar der Traum verwirklichen lassen, wonach der utopische
Sinn dieses blutigen Kampfes tribalistischer Instinkte in die
Schaffung eines ungeteilten Landes Israel/Palästina mit menschlichem
Antlitz, vielfältigen Strukturen und intimer Koexistenz münde.
Alle diese Stimmen erkannten damit zweierlei an: Zum einen war
die Zwei-Staaten-Regelung für sie obsolet geworden, und zum
anderen verwahrten sie sich gegen Arafats Priorität, einen Staat
zu gründen, solange dessen künftiger innenpolitischer Matrix
keine angemessene Aufmerksamkeit zuteil werde. Insgesamt gesehen sind es allerdings nur wenige Palästinenser, die einer offenen demokratischen Gesellschaft gleiches Gewicht wie dem Kampf um die nationale Existenz beimessen. Zu ihnen gehörten zwanzig Mitglieder des Legislativrates („Palestinian Legislative Council, PLC“), Intellektuelle, Lehrer, Journalisten und Angehörige freier Berufe – darunter einige „Fatah“-Angehörige –, die im November 1999 ein Manifest unter dem Titel „Das Vaterland ruft uns“ vorlegten. In ihm verurteilten sie die Fortdauer der Siedlungspolitik, bezichtigten aber gleichzeitig die Autonomiebehörde der Korruption, der Täuschung und der Despotie. Daraufhin setzten Arafats Sympathisanten eine Resolution im PLC durch, in der die Verfasser „des Aufruhrs, der Verleumdung, der Diffamierung und der Beleidigung“ beschuldigt wurden; ein Ausschuss sollte fortan Meinungsäußerungen der Abgeordneten bewerten. Darüber hinaus wurde den Unterzeichnern nach dem Vorbild von Verschwörungstheorien eine politische Fernsteuerung unterstellt – interessanterweise aus Damaskus. Gegen einige „Aufrührer“ schritten Arafats Geheim- und Sicherheitsdienste ein, sie wurden unter Hausarrest gestellt und misshandelt; nicht einmal der Umweltminister blieb von Belästigungen verschont. Doch diesmal ließ sich die Opposition nicht zum Schweigen bringen: In einem zweiten Anlauf wiesen die Unterzeichner die ständigen Proklamationen nationaler Souveränität als Manöver zurück, solange sie zu Lasten des Rechts gehe. Gleichzeitig distanzierten sie sich von Arafats Vorstellung, dass „der Weg nach Palästina“ über Amerika führe – eine frühe Warnung an die Adresse von Abbas.
Dass die Aufrufe und Stellungnahmen keine stärkeren öffentlichen
Wirkungen entfalteten, lag in der personellen Konstruktion der
Autonomie sowie im Fehlen institutioneller Alternativen begründet.
Zum einen kamen sie der israelischen Politik ungelegen, weil
sie bei den Autoren eine intellektuelle Eigenständigkeit vermuten
ließen, die sich von Arafat zu emanzipieren suchte und damit
dessen direkte Abhängigkeit von der Regierung in Jerusalem auszuhöhlen
drohte; ihre Ablehnung Arafats als „Partner“ hat eine palästinensische
Variante. Zum anderen konnte sich die Opposition gegen Arafats
Regime nicht gänzlich von der These befreien, dass vornehmlich
die israelische Politik für die palästinensische Misere verantwortlich
sei. Jedenfalls wurden die Geltung des Volkes als Souverän,
die Schaffung eines Mehrparteiensystems, eine kraftvolle Legislative,
eine unabhängige Rechtsprechung, die Harmonisierung ottomanischer,
britischer, jordanischer und ägyptischer Kodizes sowie eine
effektive Aufsicht über die Sicherheitsdienste innenpolitisch
einmal mehr hintangestellt. Insofern glich das Unvermögen der
Arafat-Kritiker, sich nachdrücklich Gehör zu verschaffen, der
Schwäche des israelischen Friedenslagers. Dabei hatte der 88 Personen umfassende PLC seine Arbeit zwar unter komplexen Bedingungen angetreten, löste aber gleichwohl eine Art Aufbruchsstimmung aus, weil zu seiner Glaubwürdigkeit die Wahl von ausgesprochenen „Oslo”-Skeptikern wie al-Shafi und Ashrawi beigetragen hatte. Selbst Sympathisanten von „Hamas“ beteiligten sich trotz einer Empfehlung zum Boykott zu sechzig bis siebzig Prozent an der Stimmabgabe. Seine politische Marginalisierung konnte der PLC auch und gerade beim Gestaltungsrecht des Haushalts nicht verhindern. Selbst wenn seine Rechnungsprüfungsberichte der Autonomiebehörde gravierende Unregelmäßigkeiten, Verschwendung und Nepotismus bescheinigten, verließen sich Arafats Gefolgsleute auf die Angehörigen der Sicherheitsdienste, die allein auf die pünktliche Auszahlung ihrer Bezüge hoffen konnten. Die Konkurrenz unter den Ämtern und Instanzen, die an Beratungen beteiligt sein oder zumindest gehört werden wollten, lud zu periodischen Konflikten ein und stärkte die Dominanz Arafats. Das Kabinett traf sich nur selten, seine „Minister“ führten im Briefkopf den Namen der nicht durch Wahlen legitimierten PLO, die sich weiterhin als die wahre Vertreterin des palästinensischen Volkes verstand und damit Sorgen nährte, dass der PLC als Staffage dienen solle, um zumindest im Ausland den Anschein eines normalen parlamentarischen Betriebs zu vermitteln. Daneben blieb die politische Führungsebene nicht von dem Vorwurf verschont, dass sie Strategie und Taktik verwechsele. Kritisiert wurde, dass Demonstrationen und gewalttätige Vergeltungsaktionen als politischer Widerstand hochgeschätzt würden und dass die miteinander rivalisierenden Fraktionen eher die Zahl der Märtyrer zählten statt die gegnerischen Verluste. Der israelisch-palästinensische Abgeordnete Azmi Bishara, der sich durch politische Eigenwilligkeit ebenso wie durch intellektuelle Präzision auszeichnet, definierte fünf Ziele, an denen sich jede palästinensische Führung künftig messen lassen müsse:
Die Diskussionen über die strategischen Konzepte, die aus Sackgassen
herausführen und der Befreiung der Palästinenser dienlich sind,
stehen noch am Anfang. Sollten sie versanden, wird sich die
palästinensische Führung weiterhin den Vorwurf des politischen
Selbstbetruges gefallen lassen müssen, weil sich die Schere
zwischen hohen nationalen Absichtserklärungen und der bescheidenen
Realität nicht schließen wird. Für den Standpunkt „Alles oder
nichts!“ haben die Palästinenser mehrfach einen hohen Preis
bezahlt. Von dem früheren Außenminister Abba Eban ist der Satz
überliefert, dass sie keine Chance versäumten, eine Chance zu
versäumen, und schon vor der Prinzipienerklärung vertrat al-Shafi
die Auffassung, dass alle palästinensischen Niederlagen auf
interne Reibereien zurückzuführen seien. Tatsächlich hatten
die britische Peel-Kommission im Juli 1937 und der UN-Teilungsplan
im November 1947 der arabischen Bevölkerung Palästinas mehr
zugesprochen als Baraks Angebot in Camp David, nämlich 80 bzw.
44 Prozent Palästinas. Der interne Klärungsbedarf ließ einen
ehemaligen Kabinettsminister zwei Jahre nach Camp David darüber
klagen, dass Arafat jetzt genau das verlange, was er damals
zurückgewiesen habe.
„Palästina“ als ÜbergangsprojektDie im März 2003 neu konstituierte Autonomiebehörde steht vor zwei Herausforderungen von politisch wegweisender Bedeutung: Zum einen kämpft das alte Arafat-Regime um sein politisches Überleben. Noch zehrt der „Ra’ees“ von seinem legendären Ruf als Revolutionsführer, aber nachdem seine Unterschrift unter die Prinzipienerklärung, das „Gaza-Jericho-Abkommen“ und die Interimsvereinbarung keine Früchte getragen hat, muss die „alte Garde“ ihre Hoffnungen einmal mehr auf die „Road Map“ setzen; sie ist ihre letzte Chance. Damit steht die palästinensische Gesellschaft vor schweren Zerreißproben, weil die Zugeständnisse Israels hinter den Angeboten Baraks zurückbleiben werden, woran auch das „Quartett“ nichts ändern wird. Daneben hat die „alte Garde“ durch militante Kräfte der „Nach-Oslo“-Generation Konkurrenz erhalten, auch wenn deren Gefolgschaft durch die Militär- und Vergeltungsschläge der Israelis zu stark ausgedünnt ist, um auf absehbare Zeit die politische Macht übernehmen zu können. Ob es Abbas und seinen Verbündeten gelingt, die anfänglich verschwindend geringe Unterstützung in der Bevölkerung durch eine produktive Politik wettzumachen, ist offen. Dass Barghouti aus seiner israelischen Gefängniszelle an den Verhandlungen über die Waffenruhe zwischen der Autonomiebehörde und den extremistischen Gruppen beteiligt gewesen sein soll, und dass auch bei „Hamas“ ein Prozess des politischen Nachdenkens eingesetzt hat, lässt sich zwar als ein Zeichen werten, dass die Realisten nicht abgedankt haben. Dennoch fehlen ihnen Stärke und Geschlossenheit. Mit dem Abtreten der alten politischen Eliten droht mithin ein Führungschaos, wenn die Pläne des „Quartetts“ versagen. Auch das Prestige des Westens müsste im Nahen Osten eine schwere Niederlage hinnehmen. Andererseits ist die Zeit der Interimsvereinbarungen vorbei.
Sie hat nach 1993 jenen Protagonisten auf beiden Seiten zu viele
Spielräume überlassen, die mit allen Mitteln konstruktive Verhandlungsergebnisse
verhindern wollten, sofern sie ihren Interessen zuwiderliefen.
Sharon hält am Vetorecht gegenüber allen Fragen fest, die im
Mittelpunkt der palästinensischen Politik stehen. „Hamas“-Führer
wie Abdel Aziz Rantisi zeigen sich ebenfalls unversöhnlich.
Zwar gibt es zur politischen Forderung nach dem eigenen Staat
gegenwärtig keine Alternative als die Fortdauer der Konfrontation
mit allen Konsequenzen. Gleichwohl dürfte „Palästina“, perspektivisch
gesehen, ein Übergangsprojekt sein. Denn Geschichte, Geographie
und wirtschaftliche Zukunft werden unter Einbeziehung Jordaniens
mit seiner palästinensischen Mehrheitsbevölkerung nach konföderativen
Ansätzen verlangen. Aber auch die Neuordnung des Verhältnisses
zwischen den jüdischen und arabisch-palästinensischen Staatsbürgern
Israels, den „Feinden in unserer Mitte“ - so der durch seine
Transferphantasien berüchtigte Rechavam („Ghandi“) Zeevi, der
im Herbst 2001 von palästinensischen Attentätern ermordet wurde
- wird eine erhebliche Rolle spielen; das Stichwort „Staat aller
seiner Bürger“ ist positiv oder negativ in vieler Munde. Solange
hier Fortschritte ausbleiben, entbehren selbst nachhaltige Bemühungen
um die Regelung des Streits über das Schicksal der Westbank
und des Gazastreifens der moralisch-politischen Glaubwürdigkeit.
Der Frieden liegt nach wie vor in weiter Ferne. Gegenwärtig
stehen auf der Tagesordnung „Regelungen“, die ärgste Zuspitzungen
verhindern sollen. Alle israelischen Regierungschefs haben sich
zwar gegen eine maßgebliche politische Rolle Europas im Nahen
Osten ausgesprochen, doch lassen sich seit den späten neunziger
Jahren auch Stimmen vernehmen, die den Nachbarkontinent stärker
einbinden möchten; ob sie ernst gemeint sind oder nur zur taktischen
Spielmasse gehören, muss sich noch erweisen. Dieselbe Ambivalenz
spiegelt sich in Vorstellungen wider, die Aufnahme Israels in
die Europäische Union zu betreiben. Sie ist zwar nicht spruchreif,
aber mit der Einbeziehung eines künftigen „Palästina“ eröffnen
sich neuartige Optionen. Wenn das Postulat der palästinensischen
Souveränität einmal außer Frage steht – an ihm kommen auch die
USA nicht vorbei –, könnte Europa schrittweise dazu beitragen,
dass der Epoche der Konfrontation eine Ära der kontrollierten
Zusammenarbeit auf allen relevanten Politikebenen folgt. Dies
entspräche den Grundvorstellungen des Barcelona-Prozesses seit
1995 mit seiner Förderung von Partnerschaften rund ums Mittelmeer.
Von Israelis und Palästinensern ist dafür eine Bereitschaft
zu verlangen, die ihrem Nachbarn dasselbe Leben erlaubt, das
sie für sich selbst und für ihre Kinder wünschen. Im Gegenzug
müssen die Verantwortlichen in Europa mehr Theologie lernen.
Literatur:Agha, Hussein, and Robert Malley: “The Palestinian-Israeli
Camp David Negotiations and Beyond”, in Journal of Palestine Studies no. 121 /
XXXI(Autumn 2001)1, p. 62ff.. Benvenisti, Meron: Intimate Enemies. Jews and Arabs in a Shared Land. Berkeley et al. 1996. Bernstein, Reiner: Der verborgene Frieden. Politik und Religion
im Nahen Osten. Berlin 2000. Bishara, Azmi: “The Quest for Strategy”, in Journal of Palestine Studies no. 126 /
XXXII(Winter 2003)2, p. 41ff.. Peri, Yoram: The Israeli Military and Israel’s Palestinian
Policy. From Oslo to the Al Aqsa Intifada. United States Institute
of Peace, Washington, D.C., 2002 (http://www.usip.org). Pingel, Falk (ed.): Contested Past, Disputed Present.
Curricula and Teaching in Israeli and Palestinian Schools.
Hannover 2003. Sayigh, Yezid: Arafat and the Anatomy of a Revolt, The
International Institute for Strategic Studies. October 2001.
Shamgar, Meir (ed.): Military Government in the Territories
Administered by Israel 1967–1980. The Legal Aspects. Volume
I, Jerusalem 1982. Shehadeh, Raja: Occupier’s Law. Israel and the West
Bank. Washington, D.C. 1985. Shikaki, Khalil: “Palestinians Divided”, in Foreign Affairs January/February 2002,
p. 89 ff..
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