Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/2002

 

 
 
 

 


Vietnam: Laissez-faire unter sozialistischem Dach

Peter Wolff*

Freiheit für Kleingewerbe und Landwirtschaft gepaart mit stabilitätsorientierter Wirtschaftspolitik haben Vietnam einen eindrucksvollen wirtschaftlichen Boom beschert. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten stieg. Weitere Reformen stehen an, aber Demokratie wird es vorerst nicht geben.

Vietnam hat seit Ende der achtziger Jahre eine gradualistische Reform auf der Grundlage einer „Sozialistischen Marktwirtschaft“ auf den Weg gebracht, die – im Gegensatz zu den osteuropäischen Transformationsländern – die Lebensverhältnisse der Bevölkerung rasch deutlich verbessert hat. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg steigt allerdings der Anpassungsdruck – nicht zuletzt auch auf das bislang kaum reformierte politische System.

Der Reformdruck von unten

Mehr als zehn Jahre nach dem Ende des „amerikanischen“ Krieges und der Vereinigung von Nord-und Südvietnam unter dem Vorzeichen des Kommunismus stand Vietnam Ende der achtziger Jahre vor einem Desaster. Es gab Hungersnöte in vielen Teilen des Landes; der überwiegende Teil der Bevölkerung besaß nur das Notwendigste zum Überleben; das Land war vollständig von den Entwicklungsprozessen in Südost- und Ostasien abgekoppelt. Vietnam war eine Enklave der Armut, unberührt vom Asiatischen Wirtschaftswunder wie auch vom nachholenden Entwicklungsprozess in China seit 1978.

Die Ursache für diese Entwicklung konnte nicht mehr allein in den verheerenden Auswirkungen des langen Krieges gesehen werden. Verantwortlich dafür war vielmehr eine Politik, die voll und ganz auf ein orthodoxes Sozialismus-Modell setzte: Zentrale Planwirtschaft, Kollektivierung der Landwirtschaft, weitgehendes Verbot privater Wirtschaftstätigkeit, Außenhandel beschränkt auf die Länder des RGW. Es war für die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) eine bare Selbstverständlichkeit, dass nach der Vereinigung mit dem kapitalistischen Süden des Landes ein „reines“ Sozialismus-Modell umgesetzt werden musste. Die Partei wurde darin bestärkt von den Beratern aus Moskau und Berlin, die Vietnam mit Warenhilfe und Entwicklungsprojekten unter die Arme griffen. Die Beziehungen zu China waren prekär. Ende der siebziger Jahre war es zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen. Die chinesische Wirtschaftsreform konnte für Vietnam kein Modell sein.

Im Gegensatz zu den zentralen Planwirtschaften Osteuropas war die Planwirtschaft in Vietnam allerdings zu keiner Zeit voll funktionsfähig. Die Bauern im Süden des Landes leisteten stillen aber nachhaltigen Widerstand gegen ihre Kollektivierung in Produktionsgenossenschaften. Die Enteignung und Vertreibung der chinesischstämmigen  Händler- und Kleinunternehmer hatte ein Vakuum hinterlassen, das die verstaatlichten Betriebe nicht ausfüllen konnten. Mehr als in anderen sozialistischen Ländern wurde die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern durch die Produktion „außerhalb des Plans“ gewährleistet. Bauern und Staatsbetriebe lenkten einen wachsenden Teil ihrer Produktion auf informelle Märkte, wo freie Preisbildung herrschte und wo die Betriebe die Schwerfälligkeit des Planes unterlaufen konnten, um an Vorprodukte zu gelangen.

Im Laufe der achtziger Jahre versuchten Partei und Regierung vorsichtige Reformen umzusetzen: Schrittweise wurde die Produktion „außerhalb des Plans“ legalisiert, bekamen die Bauern private Parzellen zugestanden, auf denen sie eigenverantwortlich produzieren konnten. Die Partei zeigte sich pragmatisch: Um die Versorgung der Bevölkerung zu

Im Gegensatz zu den zentralen Planwirtschaften Osteuropas war die Planwirtschaft in Vietnam zu keiner Zeit voll funktionsfähig

gewährleisten, mussten Abstriche an der „reinen Lehre“ gemacht werden. Es hatte sich gezeigt, dass die vietnamesische Wirtschaft, mit einer überwiegend ländlichen Bevölkerung, mit chronischem Nahrungsmitteldefizit und einem kleinen, wenig komplexen Industriesektor für die Einführung einer zentralen Planwirtschaft ungeeignet war. Dies galt umso mehr, als der Verwaltungsapparat überfordert war. Es mangelte an allem: Personal, Ausbildung, Disziplin und materielle Ressourcen. Kader, die vom Norden in den Süden geschickt wurden, fehlten in den Zentralbehörden. Der Zentralstaat hatte nicht die Kapazitäten, um sich gegen lokale Interessen durchzusetzen (Fforde, 1997, S.149). Die „Reform von unten“, Kennzeichen des vietnamesischen Reformprozesses im Unterschied zu den Reformprozessen in Osteuropa  begann sich durchzusetzen.

 

Doi moi – Erneuerung

Auf dem Sechsten Parteitag der KPV 1986 wurde die Wende zu einer konsequenteren Reform eingeleitet. Unter dem Schlagwort „doi moi“ (Erneuerung) wurde im Grundsatz die Abkehr von der zentralen Planwirtschaft und der Wechsel zu einer „Sozialistischen Marktwirtschaft“, allerdings unter Führung des Staates und mit einer dominierenden Rolle staatlicher Unternehmen, beschlossen. Den Staatsunternehmen wurde ein größeres Maß an Autonomie zugestanden; das staatliche Außenhandelsmonopol wurde abgeschafft und – wichtigste Neuerung – private Haushaltsunternehmen in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe wurden zugelassen. Im Grunde wurde vom Parteitag nur das legalisiert, was die Realität der Wirtschaft ohnehin schon mehr und mehr prägte: eine zunehmende Kommerzialisierung und Marktorientierung der Betriebe „außerhalb des Plans“. Was allerdings nicht abgeschafft wurde war der Plan selbst und das damit verbundene duale Preissystem: künstlich niedrig gehaltene, staatlich festgelegte Preise für die Güter „innerhalb des Plans“ und praktisch freie Preise außerhalb. Der staatliche Sektor blieb damit von Subventionen abhängig, die letztlich von der Zentralbank finanziert werden mussten. Damit war die Grundlage für einen Inflationsprozess gelegt, der Ende der achtziger Jahre von vielen als Misserfolg der Reformen gewertet wurde. In den Jahren 1986–88 machte das Budgetdefizit zwischen zwanzig und vierzig Prozent der Staatsausgaben aus; die Inflationsrate stieg auf bis zu 500 Prozent in den Jahren 1987/88. Die Lebensverhältnisse der Bevölkerung verbesserten sich kaum.

Als Ende 1989 die kommunistischen Systeme der Verbündeten in Osteuropa zusammenbrachen, stand Vietnam vor einer entscheidenden Weichenstellung: Sollten die Reformen zurückgenommen und ein „nordkoreanischer“ Pfad der Orthodoxie eingeschlagen werden, oder sollten die bis dahin halbherzigen Reformen weitergeführt werden. Die Partei, ungefährdet in ihrer Legitimität als Garant der nationalen Unabhängigkeit, entschied sich für das Risiko. Mit drastischen Stabilisierungsmaßnahmen und weiteren Strukturreformen schlug sie 1989/90 einen Weg ein, der von Beobachtern charakterisiert wurde als „pure IMF orthodoxy, albeit without the IMF behind it“ (Riedel und Comer, S.10).

IWF und Weltbank hatten zu dieser Zeit keinerlei Einfluss auf die vietnamesische Politik. Sie waren, wie auch andere westliche Länder, durch das amerikanische Embargo daran gehindert, wie in anderen Entwicklungsländern neoliberale Reformkonzepte durchzusetzen. Eine kleine Gruppe von Technokraten in der vietnamesischen Führung verstand es indes, die prekäre Situation nach dem plötzlichen Wegfall der Hilfe der Ostblockstaaten und eines großen Teils des Außenhandels mit dem RGW zu nutzen, um den „doi-moi“-Prozess voranzutreiben. Das duale Preissystem wurde abgeschafft; die Zinsen wurden erstmals auf ein real positives Niveau angehoben; die vietnamesische Währung wurde auf das Niveau des Kurses auf dem Schwarzmarkt abgewertet; der Außenhandel wurde liberalisiert; ausländische Direktinvestitionen wurden zugelassen; die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden praktisch abgeschafft und die Subventionen an die staatlichen Unternehmen wurden drastisch reduziert. Vor allem der Abbau der Subventionen an die Staatsunternehmen reduzierte das Budgetdefizit auf nahe Null.

Übergangsboom statt Übergangsrezession

Der Erfolg der Maßnahmen war durchschlagend: Die Inflationsrate konnte bereits bis 1993 auf unter zehn Prozent reduziert und danach auf unter fünf Prozent stabilisiert werden. Nach Jahren stagnierenden Wachstums erreichte die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts (BSP) 1990 und 1991 zwischen fünf und sechs Prozent und stieg danach auf über acht Prozent bis 1998 an. Das Wachstum basierte vor allem auf einem geradezu explosionsartigen Anstieg der landwirtschaftlichen und kleingewerblichen Produktion und des Kleinhandels. Binnen zweier Jahre nach Einführung der Reformen waren die Versorgungsengpässe praktisch beseitigt. Über siebzig Prozent der vietnamesischen Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt und nur etwa fünfzehn Prozent im Staatssektor. Die Rückkehr zu landwirtschaftlichen Familienbetrieben, begleitet von der Abschaffung der Preiskontrollen für landwirtschaftliche Produkte (außer Reis) und dem Rückgang der Inflation führte zu raschen Einkommenssteigerungen auf dem Lande. Die chronischen Nahrungsmittelengpässe waren beseitigt und Vietnam wurde bereits in der ersten Hälfte der neunziger Jahre vom Reisimporteur zu einem der wichtigsten Reisexporteure auf dem Weltmarkt. Der Markt für Konsumgüter wurde zunächst vor allem durch Importe, auch durch geschmuggelte Waren, überwiegend aus China gespeist. Es war eine glückliche Fügung, dass Anfang der neunziger Jahre die mit sowjetischer Hilfe aufgebaute Erdölförderung die Produktion aufnahm. So konnten die rasch steigenden Importe durch Exporte von Erdöl und landwirtschaftliche Produkte ausgeglichen werden und das Handelsbilanzdefizit hielt sich in Grenzen.

Von den ca. 2,4 Millionen Beschäftigten in den Staatsbetrieben wurden etwa ein Drittel entlassen. Gleichzeitig wurden – nach dem Ende des militärischen Engagements in Kambodscha – etwa 500.000 Soldaten demobilisiert. Aus Osteuropa und der ehemaligen DDR mussten Zehntausende vietnamesische Vertragsarbeiter nach Vietnam zurückkehren. Ohne soziale Abfederungsmaßnahmen wurden diese Arbeitskräfte im rasch wachsenden Privatsektor – im Kleingewerbe und in informellen Tätigkeiten –  weitgehend absorbiert.

Bemerkenswert war, dass die auch für die Reformkräfte in der Partei unerwarteten Erfolge zu einer Zeit eintraten, als Vietnam so gut wie keine Hilfe von außen erhielt. Die Hilfe der RGW-Staaten war weggefallen. Die Entwicklungshilfe der westlichen Länder kam erst ab Mitte der neunziger Jahre zum Tragen. Dies kann als ein Indiz dafür gewertet werden, dass Unterstützung von außen nicht unbedingt funktional ist, wenn es darum geht, drastische Reformen einzuleiten. Der Handlungsdruck von innen war offenbar groß genug, um die wesentlichen Korrekturen an einem offensichtlich ungeeigneten Wirtschaftssystem vorzunehmen und damit das beträchtliche endogene Entwicklungspotential des Landes – in Gestalt von Millionen fleißiger, relativ gut ausgebildeter Menschen – zu entfalten.

Dass in Vietnam ein dramatischer Wirtschaftseinbruch wie in den europäischen Transformationsländern vermieden wurde, hatte vor allem die folgenden Gründe (Wolff, 1997):

  • Vietnam ist von der Landwirtschaft geprägt. Der Industrie- und Dienstleistungssektor war nur wenig entwickelt und beschäftigte nur relativ wenige Menschen. Millionen von Kleinbauern, die seit jeher an der Subsistenzgrenze existierten, reagierten unmittelbar auf die verbesserten Rahmenbedingungen und steigerten die landwirtschaftliche Produktion. Die kleinbäuerlichen Produktionsformen waren – vor allem im Süden des Landes - nie vollständig in den Produktionsgenossenschaften aufgegangen. So konnte die Transformation der landwirtschaftlichen Produktion praktisch ohne staatliche Eingriffe rasch vonstatten gehen.
  • Angesichts der Unzulänglichkeiten der zentralen Planwirtschaft und der graduellen Reformschritte bereits in den 80er Jahren war die Wirtschaft bereits in einem erheblichen Maße „kommerzialisiert“, schon bevor die eigentliche Reform einsetzte. Die Menschen, auch die Beamten und die Manager von Staatsbetrieben, hatten bereits gelernt mit Marktbedingungen umzugehen. Im Süden des Landes hatte die Planwirtschaft nur gut zehn Jahre lang das Wirtschaftsleben bestimmt.
  • Es handelte sich bei den „doi-moi“-Reformen der ersten Phase im wesentlichen um Deregulierungsmaßnahmen. Der Staat musste nur aus dem Weg gehen und den unterdrückten Produktivkräften freien Lauf lassen. Die staatliche Gestaltungskraft zur Umsetzung von komplexen Strukturreformen war erst in späteren Phasen der Reform gefordert.
  • Die makroökonomische Stabilisierung war „einfach“ in dem Sinne, dass lediglich das Budgetdefizit als wesentliche Quelle der Inflation zurückgeführt werden musste. Mit der gleichzeitigen Abwertung des Wechselkurses und einem geringen Handelsbilanzdefizit konnte die Stabilisierung rasch gelingen. Die massive Reduzierung der Staatsausgaben und die Absorption entlassener Staatsangestellter auf dem Arbeitsmarkt erforderte allerdings eine Anpassungsfähigkeit der Bevölkerung, die nur vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte Vietnams zu verstehen ist.
  • Vietnam verfügte über kein ausgebautes System der sozialen Sicherung. Soziale Sicherung erfolgt nach wie vor durch die Familie. Auch die Sozialleistungen für Staatsangestellte waren so niedrig, dass für viele keine andere Alternative bestand, als im Kleingewerbe und in informellen Beschäftigungen unterzukommen.
Die aufgeführten Gründe zeigen, dass Transformation in einem sehr armen (jährliches Pro-Kopf-Einkommen 1989 ca. 170 US-Dollar) und landwirtschaftlich geprägten Land eine völlig andere materielle und soziale Ausgangsbasis hat als in weiter entwickelten Transformationsländern. Hieraus „Modelle“ für industriell entwickelte, vom europäischen Kulturkreis geprägte Gesellschaften abzuleiten, verbietet sich von selbst. Der Vergleich mit China liegt indes nahe. Auch dort konnte eine Übergangsrezession vermieden werden, obwohl

 

Im Zuge der „doi-moi“-Reformen wurden nicht nur hohe Wachstumsraten erzielt,
sondern zugleich auch die Rate der absoluten Armut von ca. siebzig Prozent Mitte
der achtziger Jahre auf ca. dreißig Prozent im Jahr 2001 gesenkt.
der chinesische Industriesektor zu Beginn der Transformation – auch relativ gesehen - wesentlich weiter ausgebaut war als der vietnamesische. China hatte allerdings bereits 1978 mit der Transformation begonnen und hat es vermocht, in der Grauzone von Staats- und Privatwirtschaft und mithilfe massiver Auslandsinvestitionen einen wettbewerbsfähigen Exportsektor aufzubauen, welcher die treibende Kraft des Wachstums in den achtziger und neunziger Jahren darstellte und das Land von Auslandskrediten und damit verbundenen Verschuldungsproblemen weitgehend unabhängig machte. Im Vergleich dazu ist die vietnamesische Transformation wesentlich mehr landwirtschaftlich und kleingewerblich geprägt. Mit der Verbesserung der politischen Beziehungen zum Nachbarn im Norden wurde China allerdings zunehmend zum - heimlichen - Vorbild für Vietnam. Zahlreiche Reformschritte in China wurden mit einiger Verzögerung in Vietnam nachvollzogen.
Aus vietnamesischer Sicht ist China ist aber vor allem dafür ein Vorbild, dass „sozialistische Marktwirtschaft“ als Grundlage für eine gradualistische Transformation, unter Verzicht auf politische Reformen, d. h. unter Beibehaltung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei, offenbar ein tragfähiges Modell darstellt. Vietnam ist, nachdem IWF, Weltbank und westliche Entwicklungshilfegeber seit Mitte der neunziger Jahre an Einfluss gewonnen haben, umfassenden Privatisierungs- und Liberalisierungsempfehlungen von außen nicht gefolgt. Ohne die Erfolge Chinas wäre diese Position nur schwer durchzuhalten gewesen.

Direktinvestitionen statt Kredite

Der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag in Vietnam bis 1990 unter fünfzehn Prozent (China: 30-35 Prozent). Der Staat war der einzige Investor und die Ressourcenbasis des Staates war angesichts wenig produktiver Landwirtschaft und defizitärer Staatsbetriebe denkbar schmal. Der Anteil der Investitionen aus inländischen Quellen konnte im Laufe der neunziger Jahre allmählich erhöht werden, nicht zuletzt auch durch den wachsenden Privatsektor, blieb jedoch immer unter zwanzig Prozent des BIP. Eine wichtige Investitionsquelle stellten deshalb seit Anfang der neunziger Jahre ausländische Direktinvestitionen dar. In den Jahren 1994-97 lagen die Zuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen bei zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr. Danach sanken sie wieder auf unter eine Milliarde Dollar jährlich. Bei einem BIP von ca. 22 Mrd. Dollar Mitte der neunziger Jahre machte das immerhin ca. zehn Prozent des BIP und dreißig Prozent der Bruttoanlageinvestionen aus, ein höherer Anteil als in China. Die meisten Investoren kommen aus Asien: Japan, Korea, Singapur und Taiwan stellen mehr als zwei Drittel der ausländischen Investitionen.

Die ausländischen Direktinvestitionen hatten damit  einen erheblichen Anteil an den hohen Wachstumsraten der neunziger Jahre. Vietnam war somit nicht auf die Aufnahme von Auslandskrediten zur Finanzierung von Investitionen angewiesen. Lediglich vergünstigte  Entwicklungshilfekredite – insbesondere von Japan, der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank – spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Die Zuflüsse aus Offizieller Entwicklungshilfe liegen seit Ende der neunziger Jahre bei ca. einer Milliarde US-Dollar pro Jahr, mit steigender Tendenz. Die Auslandsverschuldung Vietnams hält sich daher - vor allem nachdem die Schulden gegenüber Russland vor einigen Jahren geregelt wurden - in einem vertretbaren Rahmen von unter vierzig Prozent des BIP.

Der Beitrag der ausländischen Direktinvestitionen zum Technologietransfer und zur Entwicklung moderner Produktionsstrukturen blieb bisher eher bescheiden. Das liegt zum einen am niedrigen Ausgangsniveau der vietnamesischen Wirtschaft, das nur wenig Anknüpfungspunkte für technologieintensive Investitionen bietet. Zum anderen wurden

Das Wachstum basierte auf einem geradezu explosionsartigen Anstieg
der landwirtschaftlichen und kleingewerblichen Produktion.

zahlreiche Investoren durch die hohe Protektion in den meisten Sektoren der vietnamesischen Wirtschaft dazu verleitet, wenig effiziente und kaum international wettbewerbsfähige Produktionen in Vietnam anzusiedeln. So teilen sich vierzehn Automobilproduzenten einen Markt von weniger als 100.000 Kraftfahrzeugen pro Jahr. Eine Ausnahme bildet der Schuh- und der Bekleidungssektor, wo überwiegend asiatische Investoren die Lohnkostenvorteile Vietnams nutzen, um weltmarktfähige Produktionen aufzubauen. Die im Lande verbleibende Wertschöpfung in diesem Sektor ist allerdings nach wie vor gering, da die meisten Vorprodukte noch immer importiert werden müssen.

Direktinvestitionen werden weiterhin einen wichtigen Beitrag zur vietnamesischen Entwicklung leisten können. Wesentliche Hindernisse für eine Erhöhung sind die schwachen Zulieferstrukturen, relativ hohe Transport- und Kommunikationskosten und die Unberechenbarkeit einer schwerfälligen Verwaltung. Bislang sind überwiegend Staatsbetriebe die Joint-Venture-Partner ausländischer Unternehmen. Häufig spielen sie aber keine aktive Rolle im Management und ihr Kapitalanteil besteht im wesentlichen in der Bereitstellung von Gewerbeflächen. Erst wenn der private Sektor eine größere Dynamik erhält und größere Privatunternehmen als Partner zur Verfügung stehen, wird auch der Beitrag ausländischer Direktinvestitionen zum Technologietransfer steigen können.

Reform der Staatsunternehmen

Im vietnamesischen Verständnis der „sozialistischen Marktwirtschaft“ kommt dem Staatssektor auch längerfristig eine führenden einer „multisektoralen Wirtschaft“ zu, wobei mit den Wirtschaftssektoren die verschiedenen Eigentumsformen gemeint sind: Staatsunternehmen, Privatunternehmen, Genossenschaften, Haushaltsunternehmen, Unternehmen mit ausländischer Beteiligung. Für die KPV sind staatliche Unternehmen die Grundlage für „Industrialisierung und Modernisierung“. Die Partei hat auch im Laufe der neunziger Jahre immer wieder bekräftigt, dass sie nicht gewillt ist, von diesem Grundsatz abzugehen.

Die Staatsunternehmen sind Anfang der neunziger Jahre aus der zentralen Planung entlassen worden und haben ein höheres Maß an Autonomie erhalten. Ihre Finanzierung aus dem Staatshaushalt wurde weitgehend beendet. Sie erhielten stattdessen einen privilegierten Zugang zu den Krediten staatlicher Banken. Mit diesen ersten Reformen wurde die Zahl der Staatsbetriebe auf ca. fünf tausend, die Beschäftigtenzahl auf etwa 1,7 Millionen reduziert. Seither sind diese Zahlen weitgehend stabil geblieben. Bei etwa 35 Millionen Erwerbstätigen insgesamt und ca. zehn Millionen Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft ist die Bedeutung der Staatsbetriebe für die Beschäftigung geringer als in vielen anderen Transformationsländern. Im Industriesektor lag ihr Anteil an der Bruttoproduktion in den neunziger Jahren allerdings bei fünfzig Prozent, mit leicht sinkender Tendenz zugunsten der Unternehmen mit ausländischer Beteiligung.

Im Zuge der neunziger Jahre wurden, auch auf Druck der internationalen Finanzinstitutionen, immer wieder Reformschritte angekündigt, mit welchen die Staatsunternehmen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen unterwerfen werden sollten: Die größeren Betriebe wurden in sektoralen Holdings, sogenannten „General Corporations“ zusammengefasst; ca. 700 kleinere Betriebe wurden „equitisiert“, d.h. die Belegschaft und private Investoren konnten ein Teil ihres Kapitals übernehmen; ca. hundert kleinere Betriebe wurden vollständig an die Belegschaft oder an private Investoren veräußert. Mehr als die Hälfte der Staatsbetriebe gilt als nicht profitabel, wobei mangels international vergleichbarer Bewertungsmaßstäbe hierzu keine genauen Angaben vorliegen.
Mit der gewachsenen Autonomie haben die Staatsbetriebe ein Eigenleben entwickelt, das in vielen Fällen von ihren übergeordneten Instanzen - den Sektorministerien, den Provinzbehörden und anderen staatlichen Einrichtungen - nicht umfassend kontrolliert werden kann. Ein großer Teil der Staatsbetriebe ist nur zum Teil im eigentlichen Kerngeschäft tätig und überlebt durch Handelsgeschäfte, durch die Vermietung von Grundstücken, Gebäuden und Anlagen oder durch die quasi-Privatisierung von Geschäftsbereichen, die nur noch nominell von dem Staatsbetrieb, tatsächlich aber von Privaten -  gegen Abführung entsprechender Kommissionen - betrieben werden. Insofern hat sich eine umfassende Kommerzialisierung der Staatsunternehmen durchgesetzt, die es ihnen erlaubt, unter dem schützenden Dach des Staates und mit entsprechend privilegiertem Zugang zu Krediten, Grundstücken und Lizenzen zu überleben.

Von dieser Kommerzialisierung des staatlichen Sektors profitieren die Institutionen, welche die Eigentümerschaft ausüben, in erheblichem Umfang. Jedes Ministerium, jede Provinzregierung, aber auch die Massenorganisationen (Gewerkschaften, Vaterländische Front, Frauenverband, Jugendverband), die Partei und natürlich auch die Armee besitzt Staatsbetriebe, die wichtige Beiträge zu ihren Einnahmen – auch den Einkünften ihrer Mitarbeiter - leisten. Dass hierbei auch informelle Zahlungen, Kommissionen für Investitionen und Aufträge, kurz: Korruption, eine große Rolle spielen, liegt auf der Hand.

Der Widerstand gegen eine durchgreifende Reform der Staatsunternehmen kommt vor allem aus der Funktionärsschicht, die von dieser Verquickung von staatlicher Eigentümerschaft und privaten Privilegien profitiert. Im Zuge des „doi-moi“-Prozesses sind diese Interessen kaum angetastet worden. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung haben sie sich eher noch verfestigt. Eine weitere Transformation des Staatssektors wird vor diesem Hintergrund wahrscheinlich nur in kleinen Schritten möglich sein, etwa durch weitere „Equitisierung“ und die Veräußerung der zahlreichen kleinen Staatsbetriebe. Eine grundlegende Reform zeichnet sich derzeit allerdings nicht ab. Wahrscheinlich ist, dass ähnlich wie in China der private Sektor allmählich an Bedeutung gewinnt und die Rolle der Staatsbetriebe damit langsam in den Hintergrund tritt.

Wachsender Privatsektor

Mit der Dekollektivierung der Landwirtschaft Ende der achtziger Jahre war ein großer Teil der vietnamesischen Wirtschaft praktisch privatisiert worden. Außerhalb der Landwirtschaft wurden kleine „nicht-kapitalistische“ Haushaltsbetriebe zugelassen und im Laufe der neunziger Jahre auch „kapitalistische“, d. h. auf Lohnarbeit (und damit „Ausbeutung“) basierende Klein- und Mittelbetriebe. Ihre Zahl stieg schnell an, wenngleich ihre Bedeutung in den meisten Wirtschaftssektoren gegenüber den Staatsunternehmen zunächst gering blieb. Der Privatsektor ist nach wie vor kleingewerblich strukturiert. Große Privatbetriebe gibt es nur wenige. An der 1999 eröffneten Börse in Ho-Chi-Minh-Stadt werden bisher nur die Anteile von Staatsunternehmen gehandelt.

Ein Durchbruch wurde mit einem im Jahr 2000 in Kraft getretenen neuen Unternehmensgesetz erzielt, das die Gründung und Registrierung von Privatbetrieben wesentlich erleichterte und mit dem praktisch der Grundsatz der Gewerbefreiheit eingeführt wurde. Seitdem wurden etwa 50.000 Betriebe gegründet, mehr als in den neunziger Jahren insgesamt.

Der Privatsektor hat in den vergangenen Jahren den größten Teil der jährlich etwa 1-1,5 Millionen neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Arbeitskräfte absorbiert, viele davon allerdings in prekären und informellen Beschäftigungen. Nach Angaben der Weltbank wurden in den Jahren hohen Wachstums 1993-97 insgesamt nur etwa 1,6 Millionen formale, d.h. auf regulären Arbeitsverträgen beruhende Beschäftigungsverhältnisse geschaffen (Weltbank, 2002). Die Tatsache, dass der Privatsektor die einzige Quelle für die Schaffung von neuen

Bemerkenswert war, dass die Erfolge zu einer Zeit eintraten, als Vietnam
so gut wie keine Hilfe von außen erhielt.

Arbeitsplätzen darstellt, ist der wesentliche Grund dafür, dass die KPV mittlerweile ihre ideologischen Bedenken gegenüber kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen über Bord geworfen hat und der Gründung von Privatbetrieben freien Lauf lässt. Auf mittlere Sicht werden mehr Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft freigesetzt. Der Migrationsdruck auf die Städte wächst. Deshalb gibt es keine andere Wahl, als im städtischen und vor allem auch im ländlichen Raum mehr Klein- und Mittelbetriebe entstehen zu lassen. Erst jetzt, viele Jahre nach der erfolgreichen Gründung zahlloser „Village and Township Enterprises“ in China, die wesentlich zur Absorption ländlicher Arbeitskräfte beigetragen haben, beginnen die vietnamesischen Provinzen mit der aktiven Unterstützung von Industrieansiedlungen im ländlichen Raum.

In einer Resolution des Fünften Plenums des Neunten Parteitags im April 2002 hat die KPV schließlich eine weitere ideologische Barriere beseitigt. Einige Zeit nachdem dies von der chinesischen KP für ihre Mitglieder erlaubt wurde, haben auch die vietnamesischen Kommunisten die Mitgliedschaft von Unternehmern in der Partei zugelassen. Nach jahrelangen parteiinternen Auseinandersetzungen wurde damit ein wichtiges Signal für die gesellschaftliche Anerkennung privatwirtschaftlicher Tätigkeit gegeben. Die Partei hat wieder einmal dem Reformdruck „von unten“ nachgegeben. Es war schon seit langem eine allseits bekannte Tatsache, dass sich die Familien hoher und höchster Parteifunktionäre in der Privatwirtschaft, bzw. in der Grauzone zwischen Staats- und Privatwirtschaft, erfolgreich betätigen. Die Einsicht in die Realität hatte sich als stärker erwiesen als die Parteidogmen. Die Partei hat diesen Prozess nicht vorangetrieben, aber sie hat – wenngleich mit einiger Verzögerung – pragmatisch reagiert, um ihre Legitimität aus der Sicht der Bevölkerung nicht aufs Spiel zu setzten.

Unterentwickelter Finanzsektor

Ein wesentlicher Engpass für die Entwicklung der Wirtschaft ist der niedrige Entwicklungsstand des Bankenwesens. Der Bankensektor wird weiterhin von vier großen staatlichen Banken dominiert, die ca. achtzig Prozent der verauslagten Kredite auf sich vereinigen. Einige weitere „Joint Stock Banks“ befinden sich überwiegend ebenfalls im Eigentum staatlicher Anteilseigner. Ihre Bedeutung, wie auch die Rolle einiger privater Aktienbanken, wächst allerdings nur langsam.

Die staatlichen Banken haben sich traditionell überwiegend der Finanzierung der Staatsunternehmen gewidmet und öffnen sich nur langsam der Kreditvergabe an Privatunternehmen. Entsprechend hoch sind ihre uneinbringlichen Forderungen. Sie liegen offiziell bei ca. fünfzehn Prozent. Nach allgemeiner Einschätzung sind sie jedoch weit höher. Schätzungen gehen bis zu fünfzig Prozent bei einzelnen Banken. Erst in jüngerer Zeit werden auf Druck der internationalen Finanzinstitutionen unabhängige Prüfungen der Banken vorgenommen. Ihre Ergebnisse wurden bisher allerdings nicht veröffentlicht.

Vorgesehen ist, dass auf mittlere Sicht die uneinbringlichen Forderungen der Banken ausgegliedert und die Banken selbst vom Staat rekapitalisiert werden. Der Staat, der Anfang der neunziger Jahre die Finanzierung der Staatsunternehmen vom Staatshaushalt auf das Bankensystem verlagert hatte, wird nun also von den volkswirtschaftlichen Lasten des Staatssektors wieder eingeholt. Wie diese Lasten finanziert werden können, ist derzeit nicht abzusehen. Wie die staatlichen Banken nach einer Rekapitalisierung reformiert werden sollen, zeichnet sich erst in Umrissen ab. Die internationalen Finanzinstitutionen drängen auf privatwirtschaftliche Lösungen, beispielsweise die Beteiligung ausländischer Investoren bei zunächst einer der vier großen staatlichen Banken. Dafür besteht aber derzeit noch keine Bereitschaft bei der vietnamesischen Regierung.

Der Finanzsektor ist damit die Achillesferse der vietnamesischen Wirtschaft. Ein dynamisches Wachstum des Privatsektors wie auch eine Behandlung der Staatsunternehmen nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen erforderte eine kommerzielle Kreditkultur, die im vietnamesischen Bankensystem noch weitgehend unbekannt ist. Hinzu kommen die makroökonomischen Risiken des hohen internen Schuldenstands mit seinen unabsehbaren Risiken für den Staatshaushalt. Wie  bei den Staatsunternehmen insgesamt zeichnet sich auch im Bankensektor eine Entwicklung ab, die auf ein langsames Herauswachsen aus der Staatswirtschaft hinausläuft: Die eine oder andere der staatlichen Banken wird möglicherweise einer konsequenten Strukturreform unterzogen. Langfristig werden die Joint Stock Banks an Bedeutung gewinnen, ohne allerdings die staatlichen Banken verdrängen zu können.

Ähnlich wie bei der Reform der Staatsunternehmen kann auch für den Bankensektor die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die gradualistische Reform – bei allen Nachteilen der Immobilität und der Fehlallokation knapper Ressourcen – dem Reformprozess insgesamt eine

Das Ausmaß der Korruption ist beträchtlich. Im Unterschied zu
vielen anderen Transformationsländern partizipieren an ihr
allerdings breite Bevölkerungsteile.

gewisse Stabilität ohne größere Einbruche und gesellschaftliche Turbulenzen verliehen hat. Diese Stabilität erlaubte es den Wirtschaftseinheiten auf der Mikroebene, ihren Geschäften nachzugehen und sich trotz aller Widrigkeiten weiter zu entwickeln. Unter unzureichenden rechtlichen Rahmenbedingungen, einer Überregulierung auf der einen Seite und einem regulatorischen Vakuum auf der anderen Seite, beispielsweise auf dem Immobiliensektor, ist dies allerdings nur möglich unter Nutzung informeller Kanäle und Beziehungen und unter Umgehung von Regeln und Rechtsgrundsätzen.

Vor diesem Hintergrund hat die vietnamesische Wirtschaft einen hohen Grad an Informalität entwickelt, der darin zum Ausdruck kommt, dass ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Transaktionen im Staats- und im Privatsektor statistisch – wie auch steuerlich – nicht erfasst wird. Das offizielle Zahlenwerk bringt deshalb nur einen Teil der Realität zum Ausdruck. Der deutlich gewachsene Wohlstand vor allem in den Städten, die private Aneignung „offiziell“ gesellschaftlichen Vermögens – z. B. im Immobiliensektor - findet in den Statistiken keinen Niederschlag. Die informellen Transaktionen und die damit verbundene Einkommensbildung verleiht dem System einen relativ hohen Grad an Funktionsfähigkeit und an Stabilität, allerdings auch eine Intransparenz, die es ausländischen Beobachtern schwer macht zu ermessen, wo die Grenzen zwischen Staats- und Privatwirtschaft, zwischen marktwirtschaftlicher Steuerung und Interventionismus verlaufen.

Das Ausmaß der Korruption ist vor diesem Hintergrund beträchtlich. Im Unterschied zu vielen anderen Transformationsländern partizipieren an ihr allerdings breite Bevölkerungsteile. Das finanzielle Volumen der Kommissionen und informellen Abgaben hält sich im Einzelfall in Grenzen und verteilt sich auf viele Köpfe. Mit wenigen Ausnahmen wurden bisher keine großen Vermögen auf der Grundlage von Korruption gebildet. In diesem Sinne hat die Korruption – noch – keine destabilisierende Wirkung auf das System.

 

Zunehmender Druck von außen

Die Asienkrise hatte auf Vietnam keine unmittelbaren Auswirkungen, da der vietnamesische Kapitalmarkt gegenüber kurzfristigen Kapitalzuflüssen und Portfolioinvestitionen bisher nicht geöffnet wurde und auch die langfristige Verschuldung mit einem hohen Anteil an Entwicklungshilfekrediten zu vergünstigten Konditionen auf relativ sicherem Fundament steht. Dass der Kapitalmarkt bislang nicht nach außen geöffnet wurde, war keine bewusste Politik, sondern ist lediglich dem niedrigen Entwicklungsstand des Finanzsektors geschuldet. Entsprechende Investitionsmöglichkeiten für ausländische Investoren existierten auf dem vietnamesischen Kapitalmarkt einfach noch nicht.

Damit war es auch möglich, den Wechselkurs der vietnamesischen Währung, der von der Zentralbank innerhalb eines engen Korridors nach Maßgabe der Inflationsdifferenzen zu den Handelspartnern in kleinen Schritten abgewertet wird, stabil zu halten. Es wurde befürchtet, dass China im Zuge der Asienkrise zum Instrument einer Abwertung seiner Währung greifen würde und Vietnam zum Nachziehen gezwungen sein würde. Die stabilitätsorientierte Politik Chinas hat dies verhindert.

Mittelbar wurde Vietnam aber dennoch von den Auswirkungen der Asienkrise getroffen, insbesondere durch den Rückgang der Direktinvestitionen, die sich seit 1998 von über zwei Milliarden auf weniger als eine Milliarde US-Dollar verringert haben. Einige Investitionsprojekte asiatischer Investoren konnten wegen Kapitalmangels nicht fertiggestellt werden. Hinzu kam ein rückläufiges Exportwachstum aufgrund der mangelnden Aufnahmefähigkeit der Märkte der Handelspartner in der Region. Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass die Wachstumsrate des BSP nach über acht Prozent seit Anfang der neunziger Jahre 1998 auf unter vier Prozent sank und sich seither bei fünf bis sechs Prozent stabilisiert hat (nach Angaben des IWF).

Vietnam bekam dadurch zu spüren, dass es trotz des abgeschlossenen Kapitalmarkts von den Turbulenzen der Weltwirtschaft nicht unbeeinflusst bleiben konnte, nachdem ausländische Direktinvestitionen und Exporte, die inzwischen auf ca. vierzig Prozent des BSP gestiegen waren, eine große Bedeutung für die vietnamesische Wirtschaft erlangt hatten. Es wurde auch deutlich, dass das Land mit einem verschärften Wettbewerb der Konkurrenten in der Region zu rechnen hatte, welche mehr als zuvor in einen Wettbewerb um Exportmärkte und Direktinvestitionen eintraten. Nachdem die meisten asiatischen Länder nach der Asienkrise die Bedingungen für ausländische Investoren verbesserten, fiel Vietnam in der Standortgunst relativ zurück. Erst jetzt beginnt man allmählich aktiv um Investoren zu werben, nachdem Vietnam in der ersten Phase der Reform eine recht passive, zuweilen auch restriktive Investitionspolitik verfolgte

Im Zuge der Öffnung nach außen hat sich Vietnam der ASEAN-Freihandelszone AFTA angeschlossen. Es ist damit verpflichtet, bis zum Jahre 2006 seine Außenzölle gegenüber den ASEAN-Ländern für die meisten Produkte auf unter fünf Prozent zu senken. Es wird noch abzuwarten sein, ob die ASEAN-Länder sich insgesamt an den vereinbarten Fahrplan halten werden. Aber auch wenn es möglicherweise eine größere Zahl von Ausnahmeregelungen geben wird, bedeutet dies für Vietnam einen steigenden Konkurrenzdruck bei vielen Produkten, bei denen die ASEAN-Länder bereits über ausgebaute Produktionskapazitäten verfügen. Hinzu kommt das Anfang 2002 in Kraft getretene bilaterale Handelsabkommen mit den USA, in dem sich Vietnam zu einer graduellen Marktöffnung auch in den sensiblen Dienstleistungssektoren, also im Banken- und Versicherungswesen und in der Telekommunikation, verpflichtet hat. Schließlich ist für 2005/2006 der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) vorgesehen. Bedenken von Teilen der vietnamesischen Führung gegen einen raschen Beitritt zur WTO wurden durch den jüngst vollzogenen Beitritt Chinas ausgeräumt.

Mit seinem maroden Staatssektor, dem unterentwickelten Finanzsystem und dem überwiegend kleingewerblich strukturierten Privatsektor ist Vietnam denkbar schlecht auf diese Herausforderung vorbereitet. Erst allmählich wird es der Führung bewusst, welcher immense Anpassungsbedarf besteht, wenn die Wirtschaft binnen weniger Jahre auf dem Binnenmarkt unter wachsenden Konkurrenzdruck geraten wird. Auf der anderen Seite bieten sich wachsende Chancen auf den Exportmärkten, zunächst für leichtindustrielle Produkte und

Mit der Verbesserung der politischen Beziehungen wurde China
zunehmend zum - heimlichen - Vorbild für Vietnam.

verarbeitete Nahrungsmittel, aber auch für Elektronik und Software, die allerdings nur genutzt werden können, wenn sich die Privatwirtschaft zügig weiterentwickelt und die entsprechenden Rahmenbedingungen in der Infrastruktur, im Bildungswesen, in der Forschung und im Dienstleistungssektor geschaffen werden.

Das Konzept der „sozialistischen Marktwirtschaft“ mit einer führenden Rolle des Staatssektors, das in der vergangenen Dekade eine recht erfolgreiche Kombination von Stabilität und Dynamik garantiert hat, gerät damit auf den Prüfstand. Es ist nicht abzusehen, wie das Gros der Staatsunternehmen in ihrer jetzigen Struktur und im Rahmen des bestehenden Anreizsystems je wettbewerbsfähig werden können. Das von der Partei noch immer gepflegte Leitbild von der „nationalen Unabhängigkeit“, die nach bitteren Kämpfen errungen wurde und der ideologische Kampf gegen die gefürchtete „peaceful evolution“ weg vom Sozialismus wird auf dem Feld der Wirtschaft kaum mehr durchzuhalten sein.

Das Land hat allerdings gute Voraussetzungen, von einer weiteren Integration in die Weltwirtschaft zu profitieren. Eine relativ gut ausgebildete Bevölkerung, ein agiles Unternehmertum und eine insgesamt erfolgreiche Politik des sozialen Ausgleichs haben dazu beigetragen, dass im Zuge der „doi-moi“-Reformen nicht nur hohe Wachstumsraten erzielt wurden, sondern zugleich auch die Rate der absoluten Armut von ca. siebzig Prozent Mitte der achtziger Jahre auf ca. dreißig Prozent im Jahr 2001 gesenkt werden konnte. Ohne die marktwirtschaftliche Dynamik und die Öffnung nach Außen wäre dies nicht möglich gewesen. Die politische Legitimation der KPV wird durch diese Entwicklungserfolge stabilisiert. Sie wird deshalb aller Voraussicht nach auch weiterhin pragmatisch auf neue Herausforderungen reagieren.

Politik: die lernfähige Diktatur

Die politischen Strukturen Vietnams sind durch die Wirtschaftsreform bislang unangetastet geblieben. Die KPV konnte ihren Alleinvertretungsanspruch ohne Abstriche aufrecht erhalten. Gefährdungen ihrer politischen Macht waren bisher nur dort auszumachen, wo sich unzufriedene Bauern durch die Willkür lokaler Funktionäre zu Protesten herausgefordert fühlten, wie 1998 in der nördlichen Provinz Thai Binh. Die Partei hat darauf umgehend reagiert und 1999 ein „Grassroots Democracy Decree“ verabschiedet, das eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung an Entscheidungsprozessen vorsieht. Seither sind die lokalen Funktionäre dazu verpflichtet, die Einnahmen und Ausgaben der Kommunalhaushalte an den Dorfhäusern auszuhängen, um eine größere Transparenz über die Verwendung der lokalen Abgaben herzustellen.

Größere Bürgerbeteiligung und Transparenz des öffentlichen Handelns, die Reform der Verwaltung und des Justizwesens sind die politischen Reformaufgaben, die von der politischen Führung auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Ein Mehrparteiensystem und politischer Pluralismus gelten dagegen weiterhin als Tabu. Der politische Pluralismus wird innerhalb der KPV ausgetragen, wo sich die verschiedenen Interessengruppen in einem zähen, konsensorientierten Prozess auseinandersetzen, der von außen nur schwer durchschaubar ist. Wo ein Konsens nicht erzielt werden kann, wie bei der Reform der Staatsunternehmen, gibt es auch keine Veränderungen. Zivilgesellschaftliche Institutionen waren im System bisher nicht vorgesehen. Allmählich entstehen jedoch Vereine und Verbände, für die es bald auch eine entsprechende gesetzliche Grundlage geben soll. Demonstrativ nahm der Ministerpräsident im April 2002, kurz nach der parteiamtlichen Absegnung des Privatsektors durch das Fünfte Plenum der KPV, an der Gründungsversammlung des Verbands Junger Unternehmer teil.

Die bisher im politischen Prozess weitgehend bedeutungslose Nationalversammlung soll nach den Wahlen im Mai 2002 professionalisiert werden. Mit einem neuen Haushaltsgesetz soll ihr das Recht zur Beteiligung an der Aufstellung des Staatshaushaltes zugestanden werden, der im übrigen bis 1999 noch als Staatsgeheimnis galt.

Es zeichnet sich also auch im politischen Raum ein gradualistisch angelegter Reformprozess ab. „Good Governance“ wird nicht nur von den Entwicklungshilfegebern erwartet, sie ist auch – das sehen zumindest die aufgeklärten Teile der politischen Elite ein – notwendig in einer sich rasch verändernden Wirtschaft und Gesellschaft, wo es mehr und mehr darauf ankommt, Entscheidungsprozesse zu dezentralisieren und Initiative „von unten“ nicht zu ersticken. Die KPV hat in Vietnam nur in wenigen Phasen, am deutlichsten in den Jahren nach der Vereinigung, mit „eiserner Faust“ regiert. Sie hat vielmehr zumeist versucht, gesellschaftliche Veränderungen zu aufzufangen und in ihrem Interesse zu kanalisieren. In diesem Sinne wird möglicherweise auch bald der Weg zum Sozialismus neu definiert werden, wenn es denn die Umstände erfordern.

Literatur

Fforde, A. (1997): Doi Moi: Ten Years after the 1986 Party Congress, Political and Social Change Monograph 24, Australian National University, Canberra

 

Riedel, J.; Comer, B.(1996): Transition to a Market Economy in Vietnam, in: Woo, W.T.; Sachs, J.; Parker, S. (Hrsg.): Economies in Transition. Comparing Asia and Eastern Europe, Cambridge MA

 

Riedel, J.; Turley, W.S. (1999): The Politics and Economics of Transition to an Open Market Economy in Vietnam, OECD Technical Papers No.152, Paris

 

Weltbank (2002): Vietnam Development Report 2002. Implementing Reforms for Faster Growth and Poverty Reduction, Hanoi

 

Wolff, P. (1997): Vietnam – Die unvollendete Transformation, Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Köln

 

Peter Wolff

*1952; Wirtschaftswissenschaftler; Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; Peter.Wolff@DIE-GDI.de


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