Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 2/2003

 

 


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Von der Raubökonomie zur Rentenökonomie
Mafia, Bürokratie und internationales Mandat in Bosnien*

Michael Ehrke* 

Seit Ende des Bürgerkriegs übt die internationale Gemeinschaft in Bosnien faktisch die Staatsmacht aus. Mit ihrer Intervention fördert sie, ohne es zu wollen, gesellschaftliche Prozesse, die Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung diametral entgegen laufen. Aber die Option, Bosnien sich selbst zu überlassen, besteht nicht.

 

Acht Monate nach dem Friedensabkommen von Dayton, das im November 1995 den Bürgerkrieg in der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens Bosnien-Herzegowina beendete,  wurden in dem mittlerweile formal unabhängigen Land die ersten Wahlen abgehalten. Diese führten aber zu keiner Lockerung des internationalen Engagements. Im Gegenteil wurden sowohl die Dauer der Intervention als auch die politischen Kompetenzen der intervenierenden Organisationen kontinuierlich ausgeweitet. Das Protektorat hat sich de facto aus einer Übergangsregelung in eine dauerhafte und alle politischen Bereiche – vom Inhalt der Massenmedien bis hin zur Wohnungspolitik – umfassende Struktur verwandelt.

Das langwierige und intensive Engagement der internationalen Gemeinschaft erbrachte allerdings bislang im besten Fall gemischte Ergebnisse: Ein Erfolg liegt insofern vor, als der gewaltsame Konflikt – dank der Präsenz von zunächst 60.000, heute unter 20.000 Soldaten der „Stabilization Force in Bosnia and Herzegovina“ (SFOR) – nicht aufs Neue ausgebrochen ist. Unklar ist aber, ob der prekäre Frieden den Abzug der SFOR überstehen würde. Es gelang allenfalls in Ansätzen, einen einheitlichen Staat jenseits ethnischer Konfliktlinien aufzubauen; nach wie vor spielen die politischen Kräfte, die für den Bürgerkrieg verantwortlich waren, eine wichtige, wenn auch nicht mehr unangefochtene Rolle; nur etwa ein Drittel der Bürgerkriegsflüchtlinge und Vertriebenen ist an ihren Heimatort zurückgekehrt; und trotz enormer Mittelzuflüsse halten sich die wirtschaftlichen Erfolge in engen Grenzen. Entsprechend kommen die häufigen Evaluierungen in der Regel auch zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Intervention erfolgreich und erfolgversprechend genug war, um fortgesetzt zu werden, aber nicht so erfolgreich, dass Bosnien den Bosniern überlassen werden könnte.

Diese gemischten Ergebnisse haben international Kritik auf drei Ebenen ausgelöst. Erstens wird bereits das Dayton-Abkommen als Fehlkonstruktion kritisiert: Es biete hinsichtlich der ethnischen Dimension des Konflikts unklare Lösungen an, indem es auf der einen Seite den Fortbestand eines einheitlichen Staates Bosnien vorsieht, gleichzeitig aber dessen Spaltung in zwei ethnisch definierte Segmente akzeptiert. Diese Konstruktion wurde sowohl unter dem Gesichtspunkt eines „pragmatischen“ Umgangs mit Ethnizität (Bosnier, Serben und Kroaten sollten nicht zum Zusammenleben gezwungen werden)[1] als auch unter dem eines multi­ethnischen Projekts (die de-facto-Separierung wird in Kauf genommen)[2] angegriffen. Zweitens haben Think Tanks wie die European Stability Initiative und das International Crisis Center in ausführlichen Analysen und Dokumentationen vor allem die Management-, technischen und koordinatorischen Defizite der Intervention hervorgehoben,[3] die Inkompatibilität zwischen den Zielen der intervenierenden Organisationen und denen der lokalen Eliten beschrieben[4] und – hierin mit den internationalen Finanzorganisationen IWF und Weltbank einig – auf den Mangel an einer  konsistenten wirtschaftlichen Reformpolitik hingewiesen.[5] Drittens schließlich haben einige Autoren die immanente Problematik der Intervention selbst herausgestellt, so Michael Pugh, der nicht die Inkompatibilität, sondern die Konvergenz zwischen der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik der internationalen Organisationen und den Interessen der lokalen Eliten betont,[6] und  David Chandler, der den Widerspruch zwischen einer formell auf Demokratisierung angelegten Politik und den Macht- und Entscheidungsstrukturen eines Protektorats hingewiesen hat.[7] Während die erwähnten Think Tanks die Inkonsistenz beim Einsatz des Machtpotentials der internationalen Gemeinschaft hervorheben, sehen Kritiker wie Pugh und Chandler das Problem in der Intervention selbst.

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In Bosnien übt die internationale Gemeinschaft de facto die Funktionen eines Souveräns aus. Dies hat einige Beobachter veranlasst, Bosnien als eine Art Pilotprojekt internationaler Ordnungspolitik anzusehen. Gleichzeitig zeigt gerade dieses Pilotprojekt auch die Grenzen künftiger internationaler Interventionen.
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Natürlich enthält schon der Begriff „Protektorat“ eine negative Konnotation, da ein Protektorat das demokratische Selbstbestimmungsrecht einer Nation praktisch negiert. Dem Begriff haftet der Verdacht an, dass die protegierende Partei auf Kosten der protegierten verdeckte Interessen verfolgen könnte. Im Falle Bosniens (und des Kosovo) allerdings kann, auf die internationale Gemeinschaft insgesamt bezogen, eine „hidden agenda“ wohl ausgeschlossen werden: Das Territorium ist zu unbedeutend, als dass seiner Besetzung ökonomische Motive zugrunde liegen könnten. Möglicherweise spielte und spielt Bosnien in der Gesamtkonstellation des Balkan eine Schlüsselrolle, doch das Potential des gesamten Balkan würde ökonomisch keine Intervention des vorliegenden Ausmaßes rechtfertigen. Das Protektorat ist mit hohen Kosten verbunden, die internationale Einsätze in anderen Weltregionen erschweren, und denen wirtschaftlich wie politisch nur geringe Erträge entsprechen. Es ist in den Ländern, die die Kosten tragen, wenig populär und steht unter kontinuierlichem Rechtfertigungszwang. 

Im Folgenden soll die Protektoratsherrschaft in Bosnien keiner normativen Pauschalkritik unterzogen werden. Das Protektorat war die (wie immer im Detail zu kritisierende) Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf eine als unerträglich und gefährlich wahrgenommene Konfliktlage, in der die lokalen Akteure nicht in der Lage waren, zu einer tragfähigen Lösung zu kommen. Die Intervention war eine Notmaßnahme, die allerdings eine schwer zu kontrollierende Eigendynamik entwickelte. Diese Eigendynamik ergibt sich insbesondere daraus, dass die expliziten Ziele der Intervention in direktem Gegensatz zu deren ursprünglich anvisierten zeitlichen Begrenzung standen. Die Ziele – die Einführung und Konsolidierung von Demokratie und Marktwirtschaft in Bosnien – sind so formuliert, dass das Protektorat zu einer sich selbst dauerhaft und erweitert reproduzierenden Realität werden musste. 

In den der Intervention zugrunde liegenden Annahmen sind die beiden Ziele Demokratie und Marktwirtschaft unlösbar miteinander verbunden, und zwar nicht nur aufgrund ihrer historischen und ideologischen Affinität, sondern auch aufgrund der vorgefundenen Verflechtungen zwischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. In Bosnien jedoch hatten wirtschaftlicher Verfall (der lange vor dem Krieg eingesetzt hatte), Desintegration (als Folge des Auseinanderbrechens des jugoslawischen Wirtschaftsraums) und Krieg nicht nur Produktionskapazitäten und Infrastruktur zerstört, sondern auch eine Ökonomie sui generis geschaffen. Deren Kennzeichen waren bzw. sind

  • nach wie vor formell sozialistische Eigentumsverhältnisse, de facto das Fehlen klarer Eigentumsverhältnisse;
  • Rückständigkeit und strukturelle Verzerrungen;
  • die Deformation durch den Krieg und die mit dem Krieg verbundenen Interessen.

Die soziopolitische Entsprechung dieser Wirtschaftsstruktur sind lokale Eliten, die nach dem Muster des kommunistischen Einparteienregimes – wenn auch ethnisch separiert – organisiert sind, die über die verbliebenen ökonomischen Ressourcen politisch verfügen, die sich infolge von Verfall und Desintegration refeudalisiert bzw. retraditionalisiert und ein ökonomisches Interesse an der ethnischen Separation und am Konflikt entwickelt haben. In der anvisierten politischen Transformation von noch-kommunistischen Strukturen zur Demokratie und der dreifachen wirtschaftlichen Transformation – von der kommunistischen zur kapitalistischen, von der unterentwickelten/verzerrten zur sich selbst tragenden, von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft – führte die internationale Gemeinschaft Demokratie und Marktwirtschaft als Gegenmodell und Gegengift gegen die vorliegende politische Ökonomie ins Feld. Demokratie und Marktwirtschaft konnten im gegebenen Umfeld aber nur importierte und daher abstrakte Prinzipien sein. Die propagierte, für Bosnien virtuelle Welt stieß mit der schlechten Realität lokaler Macht- und Wirtschaftsverhältnisse zusammen und brachte notwendig hybride und deformierte Strukturen hervor. Die Intervention selbst droht im Zusammenwirken mit den lokalen Interessen die Bedingungen zu reproduzieren, die sie aus der Sicht der internationalen Gemeinschaft notwendig gemacht haben.

Die politische Ökonomie des Bürgerkrieges

Ethnischer Konflikt oder ökonomisches Interesse?

In den westlichen Medien wie in der Politik hat sich eine Interpretation ethnischer Identität durchgesetzt, die in der Ethnizität eine dem kalkulierenden Handeln vorgeordnete, dichte und emotionale Bindung sieht, wobei das Gewaltpotential ethnischer Identität vor allem in rückständigen Sozialformationen präsent sein soll, die den Übergang von der Gemeinschaft zur modernen Gesellschaft noch nicht vollzogen haben. Diese Interpretation steht im Kontrast zu neueren Studien zur Ökonomie gewaltsamer Konflikte, die das Handeln von Konfliktakteuren ausschließlich ökonomisch motiviert sehen. Insbesondere Paul Collier und die von ihm geleitete Weltbank-Studiengruppe haben mit erheblichem statistischen Aufwand nachzuweisen versucht, dass bürgerkriegsähnlichen Konflikten in der Regel nicht „Missstände“ (grievances) zugrunde liegen, sondern die Gier (greed) von Gewaltunternehmern, die nach einem prognostizierbaren mikroökonomischen Kalkül vorgehen. Der gewaltsame Konflikt ist ein Geschäft, in das prospektive Gewaltunternehmer dann investieren, wenn die erwarteten Erträge höher sind als die erwarteten Kosten und Risiken.[8]  Missstände (wie ethnische Ungerechtigkeiten), die die Gewaltunternehmer für ihre Rebellion ins Feld führen, sind Narrative, die das wirkliche Motiv der Bereicherung verdecken. Folglich verlassen sich die Gewaltunternehmer auch bei der Rekrutierung ihrer Mitstreiter eher auf deren Gier als auf deren Idealismus. So können sie die Koordinationsprobleme umgehen, die auftreten würden, wenn sich die Rebellion auf die Beseitigung von Missständen konzentriert.

  • Das Trittbrettfahrer-Problem:  Von der Beseitigung von Missständen profitiert die Mehrheit der Bevölkerung, während nur die Rebellen das Risiko tragen; folglich gibt es einen starken Anreiz, als Trittbrettfahrer andere das Risiko tragen zu lassen; in der von der Gier nach Bereicherung getriebenen Rebellion dagegen profitieren ausschließlich die Rebellen selbst.
  • Das Koordinationsproblem: Eine auf die Beseitigung von Missständen gerichtete Rebellion zielt auf die Eroberung der Staatsmacht; sie muss daher zu einer nationalen Kraft werden; das Risiko ist vor allem im Anfangsstadium sehr hoch; in der auf Bereicherung ausgerichteten Erhebung muss die Aufstandsbewegung nicht notwendig zur nationalen Größe werden.
  • Das Zeit-Inkonsistenz-Problem: Die Gewinne fallen in der auf Bereicherung zielenden Rebellion sofort an, während Aufständische, die Missstände beseitigen wollen, darauf hoffen müssen, dass ihre Führer ihre Versprechen zu einem späteren Zeitpunkt auch wirklich einlösen.[9]

Im Rahmen dieser Analyse hat Ethnizität eine Funktion, die zwar über die bloße Maskerade des ökonomischen Motivs hinausgeht, die aber dem ökonomischen Kalkül untergeordnet bleibt: Der Rückgriff auf ethnische Identitäten kann zur Senkung der Transaktionskosten und -risiken beitragen. Mitglieder derselben Ethnie, die ihren Kampf als ethnischen Konflikt interpretieren, verfügen über einen wechselseitigen Vertrauensvorschuss, der den uneingeschränkten Egoismus der rebellischen Individuen zügelt und sie leichter zur Kooperation veranlasst, als etwa vertragsmäßige Beziehungen dies bewirken könnten. Ethnische wie religiöse Identitäten ermöglichen es, dass sich die individuellen Bereicherungsstrategien der Rebellen zu einem kollektiven Gewaltprojekt zusammenfügen lassen.

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Die Obstruktionspolitik der alten Eliten und deren regelmäßige Bestätigung durch demokratische Wahlen haben einen Prozess der politischen Entmündigung in Gang gesetzt, in dessen Verlauf die internationale Gemeinschaft die Verantwortung für immer mehr Politikbereiche übernahm bzw. übernehmen musste.
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Den Hintergrund von Colliers Analysen bilden gewaltsame Konflikte eines neuen Typus, die vor allem in Afrika entbrannt sind.[10] Es handelt sich um Bandenkriege, in denen es nicht um die Eroberung der Staatsmacht geht – insofern führt der Begriff „Bürgerkrieg“ auch in die Irre –, sondern auf der Ebene der Führer um die Kontrolle über den oft illegalen Abbau und Vertrieb von Rohstoffen (Opium, Diamanten, Tropenholz, Elfenbein), die über kriminelle Netzwerke international vermarktet werden, und auf der Ebene der „einfachen Arbeitskraft“ der Rebellion um die Ausplünderung einer bereits dramatisch verarmten Bevölkerung, zum Teil über die Ökonomie der internationalen Hilfsleistungen und Flüchtlingslager.[11] Colliers Prognose zufolge sind gewaltsame Konflikte des von ihm analysierten Typs besonders in armen Ländern wahrscheinlich, deren Wirtschaft zu einem hohen Anteil von Rohstoffexporten abhängt.

Unter diesem Gesichtspunkt waren die Bedingungen für prospektive Gewaltunternehmer in Jugoslawien freilich alles andere als günstig: Jugoslawien war kein besonders armes Land, und seine Wirtschaft hing nicht in besonders hohem Umfang von Rohstoffexporten ab. Seine wichtigste Devisenquelle war der Tourismus, eine Branche, die auf gewaltsame Konflikte damit reagiert, dass sie sofort und spurlos verschwindet. (Grund)-Renten, die sich aus der Ausstattung eines Landes mit touristischen Attraktionen ziehen lassen, tendieren gegen Null, wenn auch nur Anzeichen von Unsicherheit sichtbar werden. Es wäre unter diesen Voraussetzungen fast schon absurd, die Entstehung des jugoslawischen Krieges/Bürgerkrieges mit den ökonomischen Kalkülen und Bereicherungsstrategien prospektiver Gewaltunternehmer zu erklären. Der Ausgangspunkt des gewaltsamen Konflikts ist in den defensiven Strategien der bürokratischen Elite insbesondere Serbiens und, in zweiter Linie, Kroatiens zu lokalisieren, die den Nationalismus als Ersatz für die verlorengegangene titoistische Legitimation zu mobilisieren versuchten. Ökonomische Motive spielten gleichwohl eine gewisse Rolle:

  • Einkommen und Status der politisch-bürokratischen Eliten hingen vom Fortbestand des autoritären Regimes in Serbien bzw. seiner Neuauflage in einem separaten Staat in Kroatien ab. Der Konflikt kann daher auch als Auseinandersetzung um Steuereinnahmen und Renten interpretiert werden.
  • Die Ausweitung des verfügbaren Territoriums im Rahmen einer traditionell-nationalstaatlichen Logik bedeutete auch einen Zuwachs an Ressourcen, Bevölkerung, Steuern und Renten.
  • Im Hintergrund der Auseinandersetzungen stand auch der potentielle Konflikt um das Staats- und vor allem „Sozialeigentum“, das formell den Arbeiterkollektiven und Kommunen gehörte. Es ist möglich, dass ein Umfeld der Instabilität und Gewalt als der privaten Bereicherung am Sozialeigentum zuträglich angesehen wurde.

Wie immer jedoch die Entstehung des Konflikts interpretiert wird, der gewaltsame Konflikt selbst schuf Zonen, in denen sich die mikroökonomische Logik des Gewaltunternehmertums entfalten konnte. Dies gilt sowohl in geographischer Hinsicht – in den Kampfzonen, auch und gerade in Bosnien, wurde die Friedensökonomie nachhaltig zerstört, hier taten sich aber attraktive alternative Bereicherungsmöglichkeiten auf – als auch sozial: Der Krieg, die internationalen Sanktionen und die mit beiden einhergehende Kriminalisierung der Wirtschaft eröffnete einem entstehenden parallelen Unternehmertum in ganz Jugoslawien neue Bereicherungs- und Aufstiegschancen. Der Krieg schuf nicht nur allgemeines Chaos, sondern mit ihm den Raum für eine neue ökonomische Logik, neue soziale Hierarchien und an den Krieg gebundene Interessenlagen. Dies ist das Umfeld, das die Intervention der internationalen Gemeinschaft vorfand – die Realität, mit der die virtuelle Realität von Marktwirtschaft und Demokratie zusammenstieß.

 

Voraussetzungen: Ökonomische Strukturverzerrung und soziale Retraditionalisierung

 

War die Position Bosniens im jugoslawischen Wirtschaftsraum bereits unvorteilhaft, so musste die Auflösung dieses Wirtschaftsraums für die bosnische Wirtschaft katastrophale Folgen haben: Die Republik verlor eine wichtige Einnahmequelle (die Transfers des Bundes), seine wichtigsten Absatzmärkte sowie seine Ver­sorgungsquellen für lebenswichtige Produkte. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Konflikts unterbanden 1991 Kroatien und 1992 Serbien Lebensmittelexporte nach Bosnien; Bosnien stoppe daraufhin seine Rohstoffexporte in die Nachbarrepubliken, seine Produktion sank in den ersten neun Monaten 1991 um 23 Prozent. Die Lebenshaltungskosten erhöhten sich im Januar 1992 gegenüber dem Vormonat um 36 Prozent.[12]

Unter dem Gesichtspunkt der Konfliktökonomie bedeutete der schnelle wirtschaftliche Niedergang, dass die Opportunitätskosten des Konflikts für alle Konfliktakteure drastisch sanken. Gleichzeitig führte der wirtschaftliche wie politische Desintegrationsprozess Jugoslawiens dazu, dass nicht nur die Autonomie der Teilrepubliken, sondern die lokale Ebene generell gegenüber übergeordneten Instanzen gestärkt wurde. Die selbstverwalteten Unternehmen und Kommunen wurden von ihren Managern und Politikern zunehmend wie persönliche Feudalbesitztümer geführt. Der Zugang der Menschen zu Einkommen, Sozialleistungen, Lebensmitteln und Wohnungen wurde von ihrer lokalen Gemeinschaft, ihrem Arbeitsplatz und ihrem Boss abhängig.[13] Carl-Ulrik Schierup hat diesen Prozess analysiert und gezeigt, dass das jugoslawische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einem generellen Prozess sozialer Involution und Retraditionalisierung unterlag. Mit der sich intensivierenden Krise wuchs die Bedeutung städtischländlicher Rückbindungen: Die Bewirtschaftung von Grund und Boden und die Mithilfe auf den Höfen von Familienmitgliedern wurden zu einer wichtigen Quelle der Versorgung mit Lebensmitteln.[14]

Die hohe Bedeutung der Ethnizität im Verlauf des gewaltsamen Konflikts kann so auch auf die vorausgegangene soziale Rückentwicklung zurückgeführt werden: Je substanzloser formelle Sozialbeziehungen (zwischen Bürger und Staat, Arbeitnehmer und Arbeitgeber usw.) wurden, desto relevanter wurden vorgesellschaftliche gemeinschaftliche Beziehungen, die den Fortfall der staatlich-administrativen und der regulären wirtschaftlicher Ordnung kompensieren mussten.

Gewaltsamer Konflikt und paralleler Handel

Wirtschaftlich kann der Zersetzungsprozess auch als Abbau und Neuziehung von Grenzen beschrieben werden. Für die Unternehmen und Kommunen (die formellen Besitzer der Unternehmen) wurden die Grenzen des jugoslawischen Staates bedeutungslos, sie mussten ihre internationalen Transaktionen und ihre Kooperation mit ausländischen Kunden, Zulieferern und Partnern direkt tätigen. Die lokalen Unternehmen mussten ohne Zwischeninstanz mit den globalen Märkten in Kontakt treten. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung der innerstaatlichen Grenzen nicht nur zwischen den Teilrepubliken, sondern auch zwischen einzelnen Zonen, Enklaven, Kantonen usw. innerhalb der Republiken. Mit dem Zerfall des staatlichen Wirtschaftsraums und der Bedeutungszunahme innerstaatlicher Grenzen entwickelte sich auf dem Territorium des zerfallendes Zentralstaats eine ausgeprägte Diversität ökonomischer und sozialer Verhältnisse, die sich unter anderem in der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen und – in der Folge – starken Preisdifferenzen ausdrückte. Die ökonomisch immer wichtigeren inneren Grenzen wurden zum einen zu einer unmittelbaren Einnahmequelle (legale oder illegale Erhebung innerstaatlicher Zölle, Benutzungsgebühren für Verkehrswege usw.), zum andern stärkten sie den Anreiz, aus ihrer Umgehung spezielle Gewinne zu ziehen. Mit der Illegalisierung weiter Wirtschaftsbereiche stieg das Risiko von Transaktionen, das wiederum durch besonders hohe Gewinne kompensiert werden musste.

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Die Transformation der Plan- zur Marktwirtschaft erfolgte nicht wie in Russland oder China als Bereicherung der alten Eliten im formell noch bestehenden staatlichen Ordnungsrahmen, sondern war mit dem Aufkommen einer neuen Elite verbunden, die sich außerhalb der etablierten Staatlichkeit illegaler Märkte und Methoden bediente. Die erste Phase der marktwirtschaftlichen Transformation, unter anderem die Privatisierung des Sozialeigentums, erfolgte in der vom gewaltsamen Konflikt diktierten Nicht-Ordnung.
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Die Bedeutungszunahme innerer Grenzen entsprach ein Bedeutungszuwachs des innerstaatlichen grenzüberschreitenden Parallelhandels (d.h. des illegalen Austauschs legaler und illegaler Güter wie Zigaretten, Waffen, Drogen, geplünderter Hausrat usw.). Dieser basiert nicht auf Produktion und produktiver Investition, sondern zielt darauf, die Ströme vorhandener Güter und Ressourcen zu kontrollieren. Seinen Gewinn schöpft er aus der Nutzung von Differenzen: in den Preisen, der Verfügbarkeit, der Qualität usw. Dieser Parallelhandel basiert auf der Existenz von Grenzen und Differenzen, an der seine Nutznießer interessiert sind. Er wirkt ökonomisch illiberal und tendiert politisch zur Refeudalisierung, weil der Zugang zu ihm über ethnische, lokale, verwandtschaftliche und persönliche Beziehungsnetze kontrolliert wird. Die Kontrolle und Manipulation dieser Form des Handels ist, so Duffield, oft die ökonomische Grundlage und das Motiv von Eliten, deren politisch-ökonomische Strategien in gewaltsame postnationalstaatliche Konflikte münden; sie schafft die semlegalen oder kriminellen Netzwerke, die im Konflikt mobilisiert werden und von ihm profitieren.[15]

Der Zusammenhang zwischen parallelem Handel und gewaltsamem Konflikt bietet keine kausale Erklärung des Bosnien-Krieges; wohl aber verweist er auf einen sich selbst erweitert reproduzierenden Kreislauf zwischen dem Niedergang der Wirtschaft (Sinken der Opportunitätskosten illegaler Aktivität), der Bedeutungszunahme innerstaatlicher Grenzen und Differenzen, der Retraditionalisierung der Sozialbeziehungen (Mafia), der ökonomischen Nutzung des gewaltsamen Konflikts, der Kriminalisierung und Kommerzialisierung des Militärs und der Ausbildung von kommerziellen Interessen am Konflikt und den mit diesem entstehenden Differenzen.

 

Die doppelte Ökonomie des Konflikts

Der Konflikt zerstörte nicht nur das, was von der formellen Ökonomie übrig geblieben war (im Zuge des Konflikts schrumpfte die bosnische Wirtschaft um 75 und die Industrie um neunzig Prozent), er brachte auch eine doppelte und widersprüchliche Ökonomie hervor: auf der einen Seite eine Ökonomie zur Finanzierung des Krieges, die den ethnisch-politischen Kriegszielen untergeordnet war, und auf der anderen Seite eine Ökonomie der kommerziellen Nut­zung des Krieges, in der der Bürgerkrieg zum Bereicherungsfeld der lokalen Eliten wurde. Beide Ökonomien sind eng miteinander verflochten – so eng, dass sich bei einzelnen Transaktionen oft nicht mehr zurechnen lässt, ob sie der Finanzierung des Krieges dient oder den Krieg nutzt (ist die Plünderung eine Art Soldersatz und dient damit der Kriegsfinanzierung? Oder handelt es sich um einen Akt individueller Bereicherung?). Gleichzeitig geraten beide Ökonomien in einen kontinuierlichen Widerspruch zueinander, da die kommerzielle Nutzung des Krieges hinsichtlich der Kriegsziele kontraproduktiv sein kann: etwa wenn die Versorgung der kämpfenden Einheiten mit kriegswichtigem Material aus kommerziellen Motiven eingeschränkt oder verzögert wird, wenn die gegnerische Seite beliefert wird oder wenn die Offiziere und Truppen selbst ihren kommerziellen Interessen Vorrang vor ihren militärischen Aufgaben einräumten.

Die Schwäche der Staatlichkeit in einem Bürgerkrieg ist die Voraussetzung dafür, dass die Ökonomie der kommerziellen Kriegsnutzung die Oberhand gewinnt und der bewaffnete Konflikt selbst  aus der Sicht der konventionellen Kriegsführung zu einer Reihe „sinnloser“ Gewaltakte wird. Da die schnell desintegrierte bosnische Wirtschaft weder den Grundbedarf der zivilen Bevölkerung, noch den Waffenbedarf der kämpfenden Parteien decken konnte, „... stützen sich die Hauptakteure nicht so sehr auf Mobilisierung und Erweiterung der produktiven Ressourcen, als vielmehr auf die Inbesitznahme schon vorhandener Ressourcen innerhalb wie außerhalb Bosniens.“[16] Der Krieg verwandelte die bosnische Ökonomie intern in eine Raubökonomie, in der sich die kämpfenden Parteien durch Erpressungen, Plünderungen, Zwangsvertreibungen, Abgabenerhebungen und illegalen Handel die Besitztümer der jeweils anderen Partei aneigneten. Gleichzeitig gewannen externe Zuwendungen an Bedeutung: Die von Serbien und Kroatien an die bosnischen Serben und Kroaten kanalisierten Mittel, die Zuwendungen der islamischen Staaten an die bos­nischen Muslims, Mittel aus der Diaspora sowie – dies vor allem – internationale humanitäre Hilfsleistungen, von denen 1994 das Überleben von 85 Prozent der Bevölkerung abhing, finanzierten sowohl den Krieg als auch die Subsistenz der Zivilbevölkerung. Insbesondere die humanitären Hilfsleistungen wurden zum Gegenstand ausgeklügelter Bereicherungsstrategien.[17]

Die ökonomische Nutzung des Krieges setzte die Kooperation der wirtschaftlichen und politischen Eliten wie der militärischen Führungsgruppen über die Kriegsfronten hinweg voraus. Damit bildeten sich kooperative „Renten- und Mafia-Strukturen...“ heraus.[18] Diese Kooperation war jedoch keineswegs eine günstige Voraussetzung für eine verhandelte Beendigung des Krieges: Da alle Seiten von dem bewaffneten Konflikt profitierten, waren sie an seiner Fortsetzung – auf militärisch „niedrigem Niveau“ –  interessiert – nicht an Entscheidungsschlachten, die den Krieg hätten beenden können. Die Dauerbelagerung von Sarajevo war unter diesem Gesichtspunkt nicht nur Teil einer Eroberungsstrategie, sondern auch ein Dauergeschäft.

 

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Der Krieg verwandelte die bosnische Ökonomie intern in eine Raubökonomie, in der sich die kämpfenden Parteien durch Erpressungen, Plünderungen, Zwangsvertreibungen, Abgabenerhebungen und illegalen Handel die Besitztümer der jeweils anderen Partei aneigneten.
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Das Schlagwort der „Mafia“ bezeichnet eine neue Klasse von Politunternehmern, die in zerfallenden Planwirtschaften bzw. Wirtschaften mit starken planwirtschaftlichen Elementen an die Stelle der staatlichen Verwaltung tritt und Funktionen an sich reißt, die die staatliche Verwaltung selbst nicht mehr erfüllen kann.[19] Dabei kann es zwischen staatlicher Verwaltung und „Mafia“ personelle Überschneidungen geben, oft werden die „Mafia“ und die Kriminalisierung der Wirtschaft geduldet, wobei die Geheimdienste eine Art Scharnier zwischen staatlichen und mafiotischen Strukturen bilden. In Serbien etwa schufen der gewaltsame Konflikt und das Embargo ein ideales Betätigungsfeld für diese neuen Politunternehmer, die in enger Verfilzung mit der bürokratischen Elite, geheimdienstlichen Strukturen und den Streitkräften agierten. Ein (noch) funktionierender Rest der Staatlichkeit versuchte sich der kriminellen Dynamik der neuen Politunternehmen zu bedienen – und unterlag auf längere Sicht selbst dieser Dynamik. In Bosnien dagegen konnte auch dieses Rudiment bürokratischer Staatlichkeit, die die „Mafia“ strategisch hätte instrumentalisieren können, nicht mehr vorausgesetzt werden.

Für die Zivilbevölkerung bedeutet der Übergang von der bürokratischen zur mafiotischen Herrschaft zweierlei: Zum einen kann die Integration in mafiose Netzwerke eine Voraussetzung für die Sicherung des eigenen Überlebens (bzw. des Überlebens der eigenen Familie) oder gar für den sozialen Aufstieg in einer „parallelen“ Hierarchie sein. Marie-Janine Calic hat am Beispiel Serbiens auf die sozialen Charakteristika der Mitglieder der Freiwilligenverbände hingewiesen, die sich bei ethnischen Säuberungen hervortaten, und die wirtschaftlichen Motive betont, die hinter der freiwilligen Beteiligung an den Plünderungen standen. Ländliche Herkunft, soziale Entwurzelung und Zugehörigkeit zur Unterschicht am Rande des kriminellen Milieus kennzeichneten die typischen Freiwilligen[20], die als Wochenend-Kämpfer ihr Einkommen aufbessern wollten und auf eine rudimentäre soziale Absicherung bzw. Aufstiegschancen spekulierten.[21] Zum andern war für große Teile der Bevölkerung die Erfahrung mit diesen Politunternehmern und ihrer mafiösen Netzwerke gleichbedeutend mit dem ersten systematischen Kontakt zur Marktwirtschaft.[22] Die Transformation der Plan- zur Marktwirtschaft erfolgte nicht wie in Russland oder China als Bereicherung der alten Eliten im formell noch bestehenden staatlichen Ordnungsrahmen, sondern war mit dem Aufkommen einer neuen Elite verbunden, die sich außerhalb der etablierten Staatlichkeit illegaler Märkte und Methoden bediente. Die erste Phase der marktwirtschaftlichen Transformation, unter anderem die Privatisierung des Sozialeigentums, erfolgte in der vom gewaltsamen Konflikt diktierten Nicht-Ordnung.

 

Die politische Ökonomie der Intervention

Dayton: Das ausgehandelte Ende des Konflikts

Was bewog die Akteure des Bosnienkonflikts, dem Friedensabkommen von Dayton zuzustimmen? Natürlich spielte internationaler Druck – auch die Drohung einer militärischen Intervention des Westens – eine Rolle. Gleichzeitig gab es aber auch eine Reihe interner Gründe, die die Konfliktparteien zum Einlenken bewegten. Zum Teil ist der bosnische Krieg/ Bürgerkrieg an den Widersprüchen seiner eigenen Ökonomie erstickt. Zunächst sprudelten die Quellen externer Unterstützung – die Zuwendungen aus Serbien und Kroatien – mit der Zeit immer spärlicher. Insbesondere für Serbien wurde Bosnien (bzw. die Republika Srpska) zu einem „schwarzen Loch“, in dem umfangreiche Mittel – etwa zwanzig Prozent des serbischen Sozialprodukts flossen in die Konfliktgebiete Bosnien und Krajina – verschwanden, ohne dass sich eine „Entscheidung“ zugunsten der bosnischen Serben abgezeichnet hätte. Die Republika Srpska galt als Inflationsherd und Ausgangspunkt der Wirtschaftskriminalität, die sich auch in Serbien verbreitete.[23] Die durch Hyperinflation, Wirtschaftskrise, Krieg, Embargo und Flüchtlingsströme belastete serbische Volkswirtschaft war immer weniger in der Lage, die serbische Kriegspartei in Bosnien zu finanzieren, zumal ein Großteil der kanalisierten Mittel nicht der formellen Logik des Konflikts folgend der Kriegsfinanzierung diente, sondern der Bereicherung der Konfliktprofiteure. Es war nur folgerichtig, dass Milosevic die bosnischen Serben unter Druck setzte, ein Friedensabkommen zu akzeptieren, zumal Serbien für diesen Fall mit einer Aufhebung des internationalen Embargos rechnen konnte.

Vor allem aber tendiert die doppelte Ökonomie des Krieges – wie erwähnt – dazu, die militärische Logik des Konflikts zu unterlaufen und zwischen dem Gros der kämpfenden Einheiten, insbesondere der einfachen Soldaten, deren Bereicherungschancen meist begrenzt waren, und den militärischen oder zivilen Profiteuren des Konflikts eine Kluft aufzureißen. Die von der militärischen Logik erzwungene Kooperation der Kämpfer – einschließlich ihrer Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen – musste sich in dem Augenblick in eine fundamentale Motivationskrise verwandeln, in dem die ökonomische Nutzung des Krieges jenseits der militärischen Fronten und auf Kosten der militärischen Ziele sichtbar wurde. Auf der einen Seite begannen die den einfachen Soldaten und Milizionären offen stehenden Bereicherungsquellen mit dem „Erfolg“ der ethnischen Säuberungen zu versiegen: Je mehr Menschen vertrieben worden waren, desto weniger gab es zu plündern. Auf der anderen Seite basierte die Bereicherung der Profiteure immer mehr auf Geschäften, die über die Fronten hinweg betrieben wurden. Die extrem ungleiche Verteilung von Bereicherungschancen führten zu Spannungen auch innerhalb des Militärs und zwangen zu einer immer aufwendigeren Repression der einfachen Soldaten (immer neue Mobilmachungen, Razzien der Militärpolizei, drakonische Strafen bei Insubordination usw.), die wiederum zur Vertiefung der „Motivationskrise“ beitrugen.

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Ein auf ethnischer Gemeinschaft und Solidarität basierendes Gemeinwesen lässt semilegalen oder illegalen Wirtschaftsaktivitäten mehr Spielraum als ein legal-bürokratischer Staat mit seinen anonym operierenden Organen. In dieser Hinsicht zielt der ethnische Separatismus weniger auf die Bildung eines legal-bürokratischen Staates auf ethnischer Grundlage als auf die Beibehaltung traditionaler, vorstaatlicher Formen informeller Herrschaft.
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Ein weiterer Faktor, der die Eliten Bosniens bewog, einem Friedensabkommen zuzustimmen, lag in den internationalen Ressourcenzuflüssen, die von einem Friedensschluss zu erwarten waren. Die humanitären Leistungen der internationalen Gemeinschaft waren während des Krieges eine wichtige Quelle der Kriegsfinanzierung und Bereicherung gewesen; es war absehbar, dass ein international konzertiertes Friedensabkommen die externen Zuflüsse deutlich anwachsen lassen würde: Die westlichen Industrieländer und die internationalen Organisationen waren eben ein wirtschaftlich weitaus potenterer Akteur als die krisengeschüttelten Nachbarrepubliken, und ein international protegierter Frieden würde die Gemeinschaft „in die Pflicht nehmen“: Sie würde mit Geld zu lösen versuchen, was sie mit politischen, diplomatischen und militärischen Mitteln nicht hatte lösen können. Die kleine und zerstörte bosnische Volkswirtschaft bekam die Chance, sich ein eine internationale Rentenökonomie zu verwandeln, und es war wahrscheinlich, dass dieselben Eliten, die von der Kriegsökonomie profitiert hatten, auch die interne Verteilung der internationalen Renten kontrollieren würden – unter Beibehaltung der ethnischer Separation und Grenzen.

Der letztgenannte Punkt ist von hoher Bedeutung: Das Bestehen der lokalen Konfliktparteien auf Beibehaltung der ethnischen Separation – sowohl zwischen der kroatisch-bosnischen Föderation und der Republika Srpska als auch zwischen dem bosnischen und dem kroatischen Segment der Föderation – wurde oft als Beleg für die primordiale Kraft des Ethnischen herangezogen. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass die Fortsetzung der „mafiotischen“ Kriegsökonomie mit anderen Mitteln auf den Schutzraum ethnischer Gemeinschaften und Beziehungsnetze angewiesen ist. Ein auf ethnischer Gemeinschaft und Solidarität basierendes Gemeinwesen lässt semilegalen oder illegalen Wirtschaftsaktivitäten mehr Spielraum als ein legal-bürokratischer Staat mit seinen anonym operierenden Organen. In dieser Hinsicht zielt der ethnische Separatismus weniger auf die Bildung eines legal-bürokratischen Staates auf ethnischer Grundlage als auf die Beibehaltung traditionaler, vorstaatlicher  Formen informeller Herrschaft. Die Dichte der traditionellen Beziehungsnetze hat bislang verhindert, dass die meistgesuchten Kriegsverbrecher dingfest gemacht werden konnten – um so mehr werden diese selben Netze generell als Schutz gegen den Legalismus eines bürokratischen Rechtsstaats instrumentalisiert werden können.

 

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Während die lokalen Eliten daran interessiert waren, im Schutzraum ethnischer (traditioneller, lokaler) Beziehungsnetze anstelle der Kriegs- die Rentenökonomie des aufgezwungenen Friedens zu kontrollieren, vertraten die Organe der internationalen Gemeinschaft de facto die formelle (bürokratische, anonyme) Staatlichkeit und damit die Vorherrschaft des Rechts über die Gesetze vorrechtlicher Gemeinschaftsbeziehungen.
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Das Abkommen von Dayton war, wie bemerkt, hinsichtlich der ethnischen Konfiguration eine Zwitterlösung: Ein einheitlicher Staat Bosnien wurde formell beibehalten, seine Funktionen wurden aber auf ein Minimum reduziert, während die wichtigsten politischen Funktionen den beiden „Entitäten“ Republika Srpska und der bosnisch-kroatischen Föderation zugeteilt wurden. Damit wurde eine erste Konfliktlinie gezogen, die die künftigen Auseinandersetzungen strukturierte: Zwischen einem formell übergeordneten, aber wichtiger Funktionen entkleidetem Zentralstaat und den „Entitäten“. Eine zweite, sich zum Teil mit der ersten überschneidende potentielle Konfliktlinie tat sich zwischen den lokalen Eliten und den Organen der internationalen Gemeinschaft auf. Während die lokalen Eliten daran interessiert waren, im Schutzraum ethnischer (traditioneller, lokaler) Beziehungsnetze anstelle der Kriegs- die Rentenökonomie des aufgezwungenen Friedens zu kontrollieren, vertraten die Organe der internationalen Gemeinschaft de facto die formelle (bürokratische, anonyme) Staatlichkeit und damit die Vorherrschaft des Rechts über die Gesetze vorrechtlicher Gemeinschaftsbeziehungen, die sich im Zuge der Vorkriegskrise, vor allem aber im Kriege selbst an die Stelle eines bosnischen Staatswesens gesetzt hatte. Es kam zu der paradoxen Situation, dass der Input des politischen Prozesses – demokratische Wahlen – der bosnischen Gesellschaft überlassen wurde, während sich die internationale Gemeinschaft vorbehielt, den Output der Politik zu kontrollieren. Auch Rechtsstaat und Demokratie wurden auf zwei verschiedene Träger verteilt, die internationale Gemeinschaft und die lokalen Eliten, so dass die beiden theoretisch als untrennbar miteinander verbundenen Elemente moderner Staatlichkeit einander konfrontiert auftraten. Die Demokratie wurde unter der Kontrolle der lokalen Eliten zu einer Kraft der ethnischen Separierung (und damit vorstaatlicher Rechtsverhältnisse), während man den „neutralen“ Rechtsstaat von außen und oben aufzuzwingen suchte. Diese Konfrontation überschnitt sich – nicht zufällig – mit der erstgenannten Konfliktlinie zwischen bosnischem Zentralstaat und den beiden „Entitäten“: Während die Organe der internationalen Gemeinschaft logische Parteigänger des bosnischen Zentralstaats waren, traten die lokalen Eliten ebenso logischerweise für die „Entitäten“ bzw. innerhalb der bosnisch-kroatischen Föderation für deren Bestandteile ein.

Mit dem Konflikt- wurde freilich auch ein Kooperationsverhältnis institutionalisiert. Die lokalen Eliten waren und sind auf die finanziellen Mittel sowie die Regulierungen der internationalen Gemeinschaft angewiesen, da diese unter den gegebenen Bedingungen eine der wenigen nennenswerten Bereicherungsmöglichkeiten bieten. Die Organe der internationalen Gemeinschaft sind ihrerseits „vor Ort“ zumindest auf ein Minimum an Kooperation der Eliten angewiesen. Was seit Dayton an „state building“ und „nation building“ in Bosnien stattfand, war das nicht intendierte Ergebnis dieses widersprüchlichen Konflikt- und Kooperationsverhältnisses.

 

Die Logik des bürokratischen Mittelabflusses: Humanitäre Hilfe und Wiederaufbau

Die Ökonomie der Intervention funktionierte vor allem in ihrer ersten Phase nach der bürokratischen Logik des Mittelabflusses. Mit dem Dayton-Abkommen hatte sich die internationale Gemeinschaft zum politischen, wirtschaftlichen und administrativen Wiederaufbau Bosniens verpflichtet. Diesem ehrgeizige Ziel stand – wie nicht anders zu erwarten – ein  Mangel an präzisen Umsetzungsstrategien gegenüber. Die internationale Gemeinschaft reagierte auf die Herausforderung, vor die sie sich selbst gestellt hatte, nach dem in Krisensituationen üblichen Muster: Sie stellte finanzielle Mittel zur Verfügung und beauftragte spezialisierte Organisationen mit deren Kanalisierung. In ihrer Studie „Reshaping International Priorities in Bosnia and Herzegovina“[24] hat die European Stability Initiative auf das vollkommene Fehlen politischer Kriterien der Mittelvergabe hingewiesen und festgestellt, dass die Vergabe finanzieller Mittel zum Selbstzweck geworden sei. [25] Die für die Vergabe verantwortlichen Organisationen und deren lokale Dependenzen in Bosnien standen unter dem Druck, die ihnen anvertrauten Gelder schnell auszugeben, und dies war nur möglich, wenn sie den Routinen folgten, die sie in anderen Krisensituationen entwickelt hatten, dabei aber die üblichen Zeiten der Projektidentifizierung, -gestaltung, -implementierung und -kontrolle verkürzten. Für Organisationen, die auf die Einwerbung und Vergabe öffentlicher Mittel spezialisiert waren, wurde die Bewältigung des an sie ergangenen Auftrags zu einer Frage auch der langfristigen Existenzsicherung.

Man könnte das Problem als Missverhältnis zwischen dem Volumen plötzlich verfügbarer Mittel und der bürokratischen Absorptionskapazität der für den Mittelabfluss zuständigen Organisationen fassen. Hinzu kam, dass eine Vielzahl von Organisationen, deren Kompetenzen in der ersten Phase kaum gegeneinander abgegrenzt waren, auftrat, die um die verfügbaren Mittel rivalisierten. Die bürokratische Logik schloss von vornherein aus, dass diese Organisationen öffentliche Mittel abwiesen, weil deren Umfang ihre Verarbeitungskapazität überforderte; stattdessen setzten sie diese Mittel für Zwecke ein, die dem politischen Ziel der Intervention manchmal diametral entgegengesetzt waren.[26]

Viele Beobachter – auch die Autoren der European Stability Initiative – führen die Fehlentwicklungen in der ersten Phase der Intervention auf ein Strategiedefizit der internationalen Organisationen zurück. Ihrer Ansicht nach läge der Ausweg in einer politisch-strategischen Orientierung der Mittelvergabe und – damit im Zusammenhang – die Unterordnung der bürokratischen Logik rivalisierender Ausgabeapparate unter eine strategiefähige Autorität (ein Weg, der mit der Einrichtung und Machtausweitung des Office of the High Representative später auch zu beschreiten versucht wurde). Ein etwas grundsätzlicheres Problem als der Mangel an strategischer Orientierung liegt jedoch darin, dass eine finanzielle Intervention eines Ausmaßes, wie es in Bosnien zu verzeichnen war, automatisch eine Ökonomie sui generis schafft – die Extremversion einer von „rent-seeking“ geprägten Wirtschaft, in der die Aneignung und Umwandlung externer Mittel in lokale Renten zur attraktivsten Form wirtschaftlicher Aktivität wird. Die Personen und Gruppierungen, die zwischen internationaler Gemeinschaft und lokaler Bevölkerung vermitteln, geraten in eine strategische Schlüsselposition, die es ihnen gestattet, sich externe Renten als Einkommen anzueignen und unter klientelistischen Gesichtspunkten zu verteilen, so dass sie sich nicht nur persönlich bereichern, sondern gleichzeitig ihre politischen Machtpositionen (zwecks künftiger systematischerer Bereicherung) erhalten bzw. ausbauen können. Bosnien wurde zur vergrößerten Ausgabe der Ökonomie der Flüchtlingslager, jener „dauerhaften Ökonomien ohne Produktionsbasis ..., die vollständig von Hilfsleistungen abhängig sind und in denen die bewaffneten Bewegungen sich dadurch uneingeschränkte Macht sichern konnten, dass sie das Distributionsnetz kontrollieren“,[27] mit dem allerdings wichtigen Unterschied, dass nicht (mehr) „bewaffnete Bewegungen“, sondern im Bürgerkrieg entstandene bzw. durch den Bürgerkrieg bestätigte lokale Eliten die zentralen Verteilungspositionen besetzten.

 

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Ein grundsätzliches Problem liegt darin, dass eine finanzielle Intervention eines Ausmaßes, wie es in Bosnien zu verzeichnen war, automatisch eine Ökonomie sui generis schafft – die Extremversion einer von „rent-seeking“ geprägten Wirtschaft, in der die Aneignung und Umwandlung externer Mittel in lokale Renten zur attraktivsten Form wirtschaftlicher Aktivität wird.
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Dabei tut sich zwischen der neoliberalen Rhetorik der intervenierenden internationalen Gemeinschaft und der realen ordnungspolitischen Wirkung derselben Intervention ein eigentümlicher Widerspruch auf. Das Programm zielt im Kern auf die Abschaffung der Rentenökonomie und deren Ersatz durch eine Marktwirtschaft. Um dieses Programm aber realisieren zu können wird eine Rentenökonomie von außerordentlicher Dimension geschaffen. Die Nutznießer der Renten, die lokalen Eliten, werden als vorgefundene Relikte einer vergangenen Epoche disqualifiziert. Dabei ist die Kontinuität in der lokalen politischen Machtausübung weit­gehend der von der Intervention erzeugten Rentenökonomie geschuldet. Die politischen Strukturen des Landes werden als eine Art Investitionshindernis dargestellt. Aber es wird unterschätzt, in welchem Ausmaß die Persistenz dieser Strukturen auch das Ergebnis der internationalen Intervention ist. [28]

In Bosnien wiederholt sich das Dilemma vieler Projekte der Entwicklungshilfe, die dieselben politischen Strukturen am Leben erhalten, die für die Unterentwicklung verantwortlich gemacht werden können, und zwar um so wirksamer, je näher sie bei den direkten Empfängern, also auf der lokalen Ebene, ansetzen. Im Unterschied zur großen Mehrheit entwicklungspolitischer Projekte stand und steht die Intervention in Bosnien aber unter dem Erfolgszwang, sich in absehbarer Zeit überflüssig zu machen; das heißt das Eliten-Dilemma konnte nicht einfach hingenommen, die lokalen Eliten konnten nicht einfach kooptiert und der Widerspruch auf Dauer gestellt werden. Die intervenierenden Organisationen sahen sich gezwungen, den (begrenzten) Konflikt mit den lokalen Machtstrukturen zu suchen. Da die etablierten Eliten aber kaum durch lokale Gegeneliten ersetzt werden konnten, blieben die internationalen Organisationen selbst das einzig realistische Substitut der lokalen Machtgruppen.

 

Staatsaufbau und lokale Eliten

Die in Bosnien tätigen internationalen Organisationen zielen in erster Linie auf die Herstellung der institutionellen Voraussetzungen eines funktionierenden Marktes. An erster Stelle auf der Prioritätenliste steht die Sicherheit – daher die fortbestehende Präsenz der SFOR und die Konzentration der UN-Institutionen auf die Ausbildung der lokalen Polizei. Ähnlich weit oben angesiedelt ist die Ausbildung administrativer Kapazitäten und die Entwicklung des Justizwesens.[29] Es geht der internationalen Administration um die Befähigung des neu entstehenden bosnischen Staates, öffentliche Güter bereit zu stellen, die die Bevölkerung in die Lage versetzen, auf dem Markt produktiven Aktivitäten nachzugehen. Hierzu gehören neben physischer und Rechtssicherheit auch eine stabile Währung, ein nicht durch innere Zollgrenzen segmentierter nationaler Wirtschaftsraum sowie eine einheitliche Infrastruktur.

Diese Strategie der internationalen Gemeinschaft trifft auf die diametral entgegengesetzte Strategie der lokalen Eliten. Statt auf die Bereitstellung öffentlicher Güter zielen sie auf deren private Veräußerung. In seiner Theorie der „shadow states“ hat William Reno eine Differenzierung der Bereichungsstrategien politischer Eliten vorgenommen, die auch für den bosnischen Fall von Belang ist.[30] Die regierenden Eliten unterentwickelter Länder, so Reno, stehen vor einer grundlegenden Alternative: Sie können über den Staat öffentliche Güter bereitstellen, die die Bürger des Landes zu produktiven Aktivitäten befähigen. Ein Teil der auf diese Weise entstehenden Einkommen kann als Rente von der regierenden Elite abgeschöpft werden. Die Alternative hierzu ist die private Veräußerung öffentlicher Güter. Wenn etwa Sicherheit nicht mehr von allen genossen werden kann, wird ein Anreiz geschaffen, privat bei der Elite um die Gewährleistung dieses Gutes, für das dann ein Preis erhoben wird, nachzusuchen. Im Extremfall kann nicht nur auf die Bereitstellung öffentlicher Güter verzichtet werden, der Bevölkerung können auch zusätzliche Belastungen – negative Externalitäten – aufgebürdet werden. In diesem Fall wird die Verteilung von Ausnahmeregelungen zu einer weiteren Quelle der Bereicherung und/oder der Sicherung politischer Loyalität. Dabei werden öffentliche Güter bzw. die Befreiung von willkürlich erzeugten negativen Externalitäten nicht dauerhaft verteilt, es muss vielmehr immer wieder Unsicherheit hergestellt werden, so dass die Klienten gezwungen sind, die Protektion durch die Elite nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sich kontinuierlich um sie zu bemühen. Die Fraktionierung der Bevölkerung – etwa entlang ethnischer Linien – ist vor diesem Hintergrund nicht vorgegeben, sondern ein bewusst verfolgtes Ziel: Sie ermöglicht den Verkauf von Parteinahme, Schlichtung und Schutz an wechselnde Nachfrager.

Schattenstaaten, die durch das Fehlen öffentlicher Güter bzw. willkürlich erzeugte negative Externalitäten gekennzeichnet sind, motivieren prospektive Gewalt-Unternehmer, sich ihr eigenes Unternehmensumfeld – auch im Hinblick auf Sicherheit – zu schaffen.  In Bosnien wurde der offene Wettbewerb der Gewaltunternehmer allerdings durch das Eingreifen der überwältigenden äußeren Macht der internationalen Gemeinschaft erstickt. Das heißt jedoch nicht, dass damit auch die private Veräußerung öffentlicher Güter – einschließlich Sicherheit – unmöglich geworden wäre. Unter der formellen Oberherrschaft der internationalen Gemeinschaft verwandeln sich die politischen Eliten Bosniens in eine „Mafia“. Charakteristisch für die „Mafia“ ist nicht nur, dass sie öffentliche Güter – auch und vor allem Sicherheit – privat vermarktet, sondern dass sie als Trittbrettfahrer von der Existenz derselben öffentlichen Ordnung profitiert, die sie kontinuierlich untergräbt. Öffentliche Regelungen, Gesetze, Verbote, Auflagen (wie Steuern und Zölle) usw. führen zur Spaltung der Märkte in legale und semi- oder illegale Segmente, zwischen de­nen erhebliche Preisdifferenzen bestehen können, die von der „Mafia“ kommerziell genutzt werden. Der Parallelhandel, der im Bürgerkrieg exorbitante Profite erbrachte, wird in der Friedensökonomie in modifizierter Form fortgesetzt.[31] Dabei tendieren die illegalen Märkte dazu, das legale Segment der Wirtschaft zu infizieren: Das Einhalten von Regeln (wie die Zahlung von Steuern und Zöllen) wird zu einem relevanten Kosten- und Wettbewerbsnachteil. Regulär operierende Unternehmen drohen pleite zu gehen, wenn sie nicht auf die grauen oder schwarzen Märkte abwandern. Gleichzeitig entzieht die illegale Wirtschaft  dem Staat die Mittel, derer er zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf. Ohne ausreichendes Einkommen agiert auch der Staat, der formell etwa fünfzig Prozent des Sozialprodukts erstellt, „irregulär“, etwa indem er seine Beschäftigten verspätet, nur nominell oder gar nicht bezahlt und sie damit zu illegalen Überlebensstrategien zwingt.

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In Bosnien wiederholt sich das Dilemma vieler Projekte der Entwicklungshilfe, die dieselben politischen Strukturen am Leben erhalten, die für die Unterentwicklung verantwortlich gemacht werden können, und zwar um so wirksamer, je näher sie bei den direkten Empfängern, also auf der lokalen Ebene, ansetzen.
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Eine wirksame Wirtschaftspolitik setzt voraus, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung – im Idealfall ihre große Mehrheit – in regulären Sozialbeziehungen steht bzw. einer „geregelten Tätigkeit“ nachgeht: Als Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Steuerzahler und Empfänger öffentlicher Leistungen, Beitragszahler und Empfänger von Sozialleistungen, usw.  Kennzeichen keineswegs nur der Nachkriegsgesellschaft Bosniens, sondern der meisten Entwicklungs- und Transformationsländer ist aber, dass derart reguläre Sozialbeziehungen nur eine Minderheit der Bevölkerung erfassen: Die große Mehrheit der Bevölkerung geht keiner „geregelten Tätigkeit“ nach, sondern verfolgt eine unübersichtliche Vielzahl individueller oder familiärer Überlebensstrategien und bildet damit das, was in der Entwicklungstheorie als „informeller Sektor“ bezeichnet wurde – wobei dieser Sektor kein Spiegelbild der regulären Wirtschaft ist (sich also nicht aus Arbeitnehmern und Unternehmen zusammensetzt, die sich von ihrem formellen Gegenstück nur dadurch unterscheiden, dass sie keine Steuern zahlen), sondern eigenen Gesetzlichkeiten folgt: Sein organisierendes Prinzip ist – da das Recht nicht oder nur partiell gilt – Gewalt. Die „Mafia“ ist ein Faktor der Vermachtung des unübersichtlichen Marktes der Überlebensstrategien.

Die alten Eliten sind nicht nur deshalb ein Entwicklungshemmnis, weil sie an ihrer politischen Macht hängen oder die neuen Bedingungen nicht akzeptieren wollen, sondern weil sie auch eine alternative Ökonomie – eine Bürgerkriegsökonomie ohne Bürgerkrieg – repräsentieren. Daher ist ein Arrangement mit den Organisationen der internationalen Gemeinschaft so schwierig: Die Protagonisten und Nutznießer der Bürgerkrieges sind nicht aufgrund ihrer ideologischen Beschränktheit, sondern auf der Grundlage eines rationalen ökonomischen Kalküls nicht bereit, sich in die Protagonisten einer modernen Marktwirtschaft bzw. eines modernen bürokratischen Staates zu verwandeln. Angesichts der schwachen Aussichten der formellen Wirtschaft verspricht die Kontrolle über die lokalen Beziehungsnetze (einschließlich eines unterirdischen Gewaltpotentials) in Verbindung mit der Verfügbarkeit internationaler Renten sicherere und einträglichere Geschäfte als die riskante Selbsttransformation in eine Klasse marktorientierter Kapitalisten.

 

Staatsaufbau und Demokratisierung

Da in Bosnien die meisten Bürger ihr Einkommen nicht als marktkonforme Unternehmer oder als Arbeitnehmer erwirtschaften, sondern auf die klientelistisch strukturierten grauen und schwarzen Märkte angewiesen sind, kann sich auch nur unter Schwierigkeiten ein Mehrheitsinteresse der Marktbürger an einer transparenten und akzeptablen Verteilung von Renten herausbilden. Die Bevölkerung ist im Hinblick auf ihr wirtschaftliches Interesse in Klientelgruppen segmentiert, die ihrerseits zwar Koalitionen bilden können, nicht aber ein jenseits der Partikularinteressen stehendes Gemeininteresse. Die größten Interessenkoalitionen – als Additionen partikular-klientelistischer Interessengruppen – sind im Falle Bosniens die ethnischen Parteien. Für den einzelnen Bürger kann es (sofern er überhaupt eine Wahlmöglichkeit hat) rational sein, sich auch politisch an eine der Klientelgruppen zu binden – anstatt sein Interesse in einem Gemeinwohl zu suchen, das sich nicht bilden kann.

Die Mehrheit der bosnischen Wähler hat in einer ganzen Reihe von Wahlen für die alten, ethnischen Parteien und damit für die alten, für den Bürgerkrieg verantwortlichen Eliten gestimmt – zur Überraschung der internationalen Gemeinschaft und ihrer in Bosnien tätigen Organisationen. In Reaktion auf die Wahlergebnisse – zuletzt im Oktober 2002, als der Sieg der ethnischen Parteien das mit Hoffnungen besetzte Zwischenspiel einer multiethnischen Allianz in der Föderation beendete – hat die Vertretung der internationalen Gemeinschaft im klaren Widerspruch zum eigenen Anspruch die Demokratie de facto außer Kraft gesetzt: Die höchste gesetzgebende wie exekutive Gewalt liegt nach wie vor beim Büro des Hohen Repräsentanten, der gewählte bosnische Politiker aus dem Amt entfernen kann. In gewisser Hinsicht hat sich eine – unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung negative – politische Dynamik durchgesetzt: Die Obstruktionspolitik der alten Eliten und deren regelmäßige Bestätigung durch demokratische Wahlen haben einen Prozess der politischen Entmündigung in Gang gesetzt, in dessen Verlauf die internationale Gemeinschaft die Verantwortung für immer mehr Politikbereiche übernahm bzw. übernehmen musste. Das Protektorat erwies sich m. a. W. nicht als eine statische Herrschaftsform, sondern als Prozess.

Das Ergebnis – die Verweigerung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts für die Bosnier auf der einen und die drohende Überlastung der internationalen Verwaltung auf der anderen Seite – ist nicht nur von Bosniern, sondern auch von internationalen Beobachtern wie David Chandler[32] heftig kritisiert worden. Chandler zufolge wird Bosnien die Demokratie aus einer quasi-kolonialistischen Disposition der internationalen Gemeinschaft heraus verweigert. Diese Kritik trifft zu, insoweit sie sich gegen manche Begründungen richtet, die für die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts in Feld geführt werden; sie zielt aber ins Leere, wenn sie das Verhalten der internationalen Gemeinschaft so geißelt, als könne dieses, die rechte Einsicht vorausgesetzt, auch anders ausfallen.

 

Die Wahlentscheidung für eine ethnische Partei zeigt nicht demokratische Unreife, sondern kann, wie oben bemerkt, ein politisch rationaler Akt sein, und zwar nicht nur für diejenigen, die von der ethnischen Separation unmittelbar profitieren (die lokalen Eliten), sondern auch für eine Mehrheit der Bürger. Dies ist insbesondere in einer Situation generalisierter Unsicherheit der Fall. So werden die bosnischen Wahlen von 1990 – die letzten Wahlen vor dem Bürgerkrieg, in denen die ethnischen Parteien einen überwältigenden Sieg errangen – von internationalen Beobachtern oft als Hinweis auf die „demokratische Unreife“ der bosnischen Bevölkerung interpretiert. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Wahlen vor dem Hintergrund des Auseinanderbrechens des jugoslawischen Staates stattfanden. Für die bosnischen Wähler brach damit auch ein System bundesstaatlicher „checks and balances“ zusammen, das ein gewisses Maß an Schutz vor ethnischer Benachteiligung geboten hatte. Mit dem Verlust des bundesstaatlichen Ausgleichsmechanismus gegenüber ethnischer Fragmentierung wurde die Ethnizität selber zum verbleibenden (wenn auch illusionären) Bezugspunkt individueller Sicherheit. Dies gilt mehr noch für die Wahlen nach dem Bürgerkrieg: Da die Staatlichkeit als Garant individueller Sicherheit selbst zerstört war, wurde die ethnische Zugehörigkeit zur letzten Bezugsgröße, die den Individuen und Familien ein Minimum an Schutz zu versprechen schien.

Das Wahlverhalten der bosnischen Bevölkerung nach Dayton muss auch vor dem Hintergrund der postsozialistischen und Post-Bürgerkriegs-Ökonomie beurteilt werden. Unter der Voraussetzung, dass nur ein Teil der Bevölkerung in der Ökonomie der Intervention und in der formellen Ökonomie (einschließlich des regulären Sozialstaats) ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften kann, bleibt die von den alten Eliten kontrollierte und ethnisch separierte informelle Wirtschaft für einen großen Teil der Bevölkerung die Lebensgrundlage. Die Nutzung ethnischer und politischer Beziehungsnetze wird damit zu einem wichtigen Bestandteil individueller Überlebensstrategien. Wie oben gezeigt, ist die ethnische Separation für die alten Eliten ein Mechanismus, mit dem sich gegenüber dem (in diesem Fall von der internationalen Intervention repräsentierten) legal-bürokratischen Staat ein Schutzraum für illegale Wirtschaftsbeziehungen bzw. für die in den Frieden hinübergerettete Konfliktökonomie aufrechterhalten lässt. Dasselbe gilt aber auch für die von der formellen Wirtschaft nicht erfassten Massen, mit dem freilich bedeutsamen Unterschied, dass diese von der Post-Konflikt-Ökonomie nicht profitieren, sondern in besonderer Wiese ausgebeutet werden. Die erzwungene Einpassung individueller und familiärer Überlebensstrategien in die von den alten Eliten kontrollierte Post-Konflikt-Ökonomie findet ihre politische Entsprechung im Wahlverhalten eines relevanten Teils der Bevölkerung: Die Stimmabgabe wird zu einem Akt der Loyalität gegenüber denjenigen Personen und Gruppen, von denen das eigene wirtschaftliche Überleben abhängt. Was als staatsbürgerliche Unreife erscheint, geht in Wirklichkeit auf ein Wirtschaftssystem zurück, in dem sich staats­bürgerliche Beziehungen – Beziehungen, die eine Trennung zwischen wirtschaftlicher Existenz und politischen Wahlakten voraussetzen – gar nicht bilden können.

 

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Da die Staatlichkeit als Garant individueller Sicherheit selbst zerstört war, wurde die ethnische Zugehörigkeit zur letzten Bezugsgröße, die den Individuen und Familien ein Minimum an Schutz zu versprechen schien. _____________________________________________________________

Die internationale Gemeinschaft steht damit gleich vor mehreren Teufelskreisen: Sie will in Bosnien die Demokratie (auch als Immunisierung gegen den Bürgerkrieg) institutionalisieren, kann dies aber nicht, weil sie hierfür erforderlichen demokratischen Tugenden nicht vorfindet; sie kann versuchen, die Bevölkerung in der Form eines pädagogischen Großprojekts zu demokratischen Tugenden zu erziehen, dies kann ihr aber nicht gelingen, solange sie den bosnischen Bürgern das demokratische Selbstbestimmungsrecht verweigert. Die Erziehung der Bürger Bosniens zu demokratischen Staatsbürgern muss aber auch deshalb scheitern, weil sich in einem Umfeld persönlicher quasi-feudaler wirtschaftlicher Abhängigkeitsbeziehungen eine demokratische Staatsbürgerschaft nicht herausbilden kann. Voraussetzung wäre der Aufbau einer „formellen Wirtschaft“, die einer relevanten Mehrheit der Bevölkerung ein ausreichendes Einkommen unabhängig von persönlichen, ethnischen oder „mafiotischen“ Abhängigkeitsbeziehungen verschaffen kann, dies scheitert aber am Fortbestand der von den alten Eliten kontrollierten – wenn auch in den Untergrund gedrängten – Bürgerkriegsökonomie.

Die Lösung, die Chandler und andere zur Auflösung des Demokratie-Paradoxes vorschlagen, läuft darauf hinaus, dass sich die internationale Gemeinschaft in Bosnien auf die Bewältigung technischer Probleme konzentriert und die Politik den Bosniern überlässt. Unter den in Bosnien gegebenen Bedingungen lassen sich politische und technische Probleme aber nicht voneinander trennen. Ob es um die Einführung einer Steuerreform, um die Geldpolitik oder um den Aufbau eines Zollsystems geht, in jedem Fall sind gesellschaftliche Interessen betroffen, die sich politisch artikulieren. Die ohnehin nicht mögliche Selbstbeschränkung der internationalen Organisationen auf technische Probleme käme de facto ihrem Abzug gleich. Die Demokratisierung würde zur exit-Strategie, mit der Bosnien sich selbst überlassen würde. Die offene Frage, die von vielen Beobachtern bejaht wird, ist, ob die unter äußerem Druck befriedeten Bürgerkriegsparteien sich selbst überlassen wieder zu den Waffen greifen würden. Offensichtlich will die internationale Gemeinschaft dieses Risiko nicht eingehen.

 

Die vier Ökonomien Bosniens

Das Wirtschaftsgeschehen in Bosnien gehorcht in seinen diversen Teilbereichen vier unterschiedlichen ökonomische Logiken. Die solchermaßen unterscheidbaren Teil-Wirtschaften sind keine gegeneinander abgedichteten Segmente, sondern durch eine Vielzahl legaler und illegaler Transaktionen miteinander verbunden.[33]

Die Ökonomie der Intervention
Die Intervention ist zunächst gleichbedeutend mit einem externen kontinuierlichen Mittelzufluss, der unter anderem die staatlichen Haushaltsdefizite der Entitäten (in der Republika Srpska 73 Prozent, in der bosnisch-kroatischen Föderation 32 Prozent der staatlichen Einnahmen) deckt. Das Sachäquivalent der kanalisierten Mittel – der Import von Gütern und Dienstleistungen – droht jede unternehmerische Perspektive in Bosnien selbst zu ersticken. Die Nachfrageimpulse, die von den kanalisierten Mitteln ausgehen, kommen in erster Linie den Lieferländern zugute – und nicht den bosnischen Unternehmen, die mit diesen Importen kaum konkurrieren können.[34]

Die Ökonomie der Intervention hat ihren eigenen Arbeitsmarkt, der sich aus dem internationalen Arbeitsmarkt für Experten und einem lokalen Arbeitsmarkt für Hilfskräfte (Fahrer, Bürokräfte, Übersetzer etc.) zusammensetzt. Die Experten werden nach internationalen Kriterien entlohnt, ihre Einkommen liegen weit über dem örtlichen Lohnniveau. Entsprechend bildet der Konsum dieser hoch entlohnten Arbeitskräfte auch einen geographisch auf Sarajevo konzentrierten Markt für Güter (mit einem hohen Importanteil) und  Dienstleistungen (mit einem hohen Luxusanteil). Der Anschein der Prosperität, den die Innenstadt Sarajevo heute ausstrahlt, ist weitgehend dem privaten Konsum der „Internationalen“ geschuldet. Die Kehrseite ist eine Anhebung des Preisniveaus für bestimmte Güter und Dienstleistungen, die insbesondere die lokalen Mittelschichten trifft. Auch für lokale Hilfskräfte bietet der von der Intervention gebildete Arbeitsmarkt vergleichsweise sichere und gut entlohnte Jobs, so dass viele Familien versuchen, zumindest ein Mitglied in diesem privilegierten Segment des Arbeitsmarkts unterzubringen.

Die wirtschaftliche Logik der Ökonomie der Intervention ist unter normalen Bedingungen die des bürokratischen Mittelabflusses; die getätigten Transaktionen unterliegen nicht der Erfolgskontrolle des Marktes, sondern einer bürokratischen Kontrolle und Evaluierung, die die Mechanismen der Mittelvergabe in der Regel nicht in Frage stellt.

Die Ökonomie der „Mafia“
„Mafia“ steht in diesem Zusammenhang für ein sehr komplexes Betätigungsfeld, auf dem sich offen gewaltsame und illegale Aktivitäten, Überbleibsel der sozialistischen Ökonomie und der von dieser geschaffenen Beziehungsnetze (unter anderem der ehemals staatlichen Banken), Überhänge der Ökonomie des Bürgerkrieges und die Nutzung der legalen politischen Strukturen miteinander verflechten. Die Ökonomie der Mafia ist eine quasi-feudale Ökonomie ohne Produktion, gekennzeichnet unter anderem durch

 

  • klientelistische Transaktionsbeziehungen, auch auf der Grundlage ethnischer Zuordnung;
  • die private Vermarktung öffentlicher Güter, unter anderem Sicherheit (was die Kapazität zur Drohung mit Gewalt voraussetzt); und
  • die Nutzung der Preisdifferenzen zwischen legalen und illegalen Märkten.

Zur Ökonomie der „Mafia“ lässt sich auch die systematische Plünderung der Aktiva des Sozialismus durch die lokalen politischen Führungsgruppen rechnen, in erster Linie der Aktiva der sogenannten Zahlungsbüros, die im sozialistischen Jugoslawien das Kontrollmonopol über sämtiche finanzielle Transaktionen innegehabt hatten. Der Arbeitsmarkt der Mafiaökonomie setzt sich zusammen aus den lokalen Eliten – dem ehemals sozialistischen Führungspersonal in Verbindung mit den neuen Gewaltunternehmern des Bürgerkriegs – sowie der Vielzahl nicht geregelt Beschäftigter, die ihr wirtschaftliches Überleben infolge der Schwäche der legalen Wirtschaft nur im Rahmen klientelistischer Beziehungsnetze sichern können. 

Die Subsistenzökonomie
Sie umfasst all diejenigen – etwa die Hälfte der Bevölkerung –, die ohne formelle Beschäftigung und ohne Zugang zu offiziellen Sozialleistungen ihr wirtschaftliches Überleben durch informelle Tätigkeiten (einschließlich im Dienst der „Mafia“), Gelegenheitsarbeit, Kriminalität, Zuwendungen von Familienangehörigen im Ausland, Zugang zu humanitären internationalen Hilfsleistungen, Naturaltausch usw. sichern müssen.

Die formelle Rest-Wirtschaft
Hierzu gehören die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die für den inneren oder äußeren Markt produzieren, Sozialbeiträge, Steuern und Zölle abführen, gesetzlichen Auflagen nachkommen usw. Die Regulierung der formellen Wirtschaft wird vor allem von den internationalen Organisationen betrieben, die unter anderem für die Geldpolitik zuständig sind. Die Grenzen zwischen formeller Wirtschaft und den anderen drei Sektoren sind freilich nicht exakt zu ziehen. Die Handelsbanken etwa sind eng mit den lokalen nationalistischen Parteien verbunden und partizipieren auch an der Ökonomie der „Mafia“. Steuerhinterziehung und die Nutzung paralleler Märkte sind kein Zeichen für hohe kriminelle Energie, die auswärtigen Renten kommen nicht nur Verbrechern oder korrupten Politikern zu. Das Etikett „formelle Wirtschaft“ bezeichnet daher weniger ein eindeutig abgrenzbares Kollektiv wirtschaftlicher Akteure als eine Art Idealzustand, dem einige Unternehmen (insbesondere Unternehmen aus dem Ausland) mehr oder weniger nahe kommen.

Das Modell verdrängt die Wirklichkeit
Die offizielle Wirtschaftspolitik der internationalen Organisationen in Bosnien geht eher vom Idealzustand der bosnischen Volkswirtschaft als von deren Realität aus. Die internationalen Organisationen verfügen nur über das wirtschaftspolitische Instrumentarium, das in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften entwickelt wurde. Dieses Instrumentarium trifft aber auf eine Realität, die in dreierlei Hinsicht vom Standardmodell einer entwickelten Volkswirtschaft abweicht. Die Wirtschaft Bosniens ist im traditionellen Sinne unterentwickelt, sie ist gekennzeichnet durch den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus, und sie ist geprägt von der Ökonomie des Bürgerkrieges. Was den dritten Punkt betrifft, so werden Begriffe wie „Mafia“ oder „Korruption“ als im Grunde verharmlosende Synonyme für die schwer zu bewältigenden Hindernisse von Entwicklungs- und Transformationsprojekten gebraucht. Sie bezeichnen Abweichungen von einer unterstellten Normalität, mit ihnen verbindet sich aber auch die Vorstellung, dass es sich um eine übliche, in jeder Volkswirtschaft vorzufindende Grauzone begrenzten Umfangs handle.

Bosnien als Pilotprojekt der Weltinnenpolitik

Die Forderung nach einer Weltinnenpolitik gehört mittlerweile nicht mehr nur zum Standard-Repertoire einer aufgeklärten Auseinandersetzung mit der Globalisierung, sie ist, was Bosnien angeht, bereits Realität: In Bosnien übt die internationale Gemeinschaft de facto die Funktionen eines Souveräns aus. Dies hat, wie oben gezeigt, einige Beobachter veranlasst, Bosnien als eine Art Pilotprojekt internationaler Ordnungspolitik anzusehen. Gleichzeitig zeigt gerade dieses Pilotprojekt auch die Grenzen künftiger internationaler Interventionen. Wenn die ambitiösen Ziele der internationalen Intervention – der Aufbau einer funktionierenden Demokratie und Marktwirtschaft als Voraussetzung der Konfliktbeilegung und -prävention – ernst genommen werden, wird das Protektorat zeitlich wie vom Umfang seiner Kompetenzen her unbegrenzt– und für die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft entsprechend teuer. Dies liegt daran, dass die Ziele und Instrumente der internationalen Gemeinschaft auf der einen und die Verhältnisse in Bosnien auf der anderen Seite in einem eklatanten Missverhältnis stehen. Die Ziele Demokratie und Marktwirtschaft sind in einer peripher-rückständigen, historisch vom sozialistischen Wirtschaftssystem geprägten und vom Bürgerkrieg zerstörten Wirtschaft und Gesellschaft in hohem Grade virtuell. Einem Land, das einen dramatischen Involutionsprozess durchgemacht hat, werden die komplexesten Formen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Organisation verordnet. Das Instrumentarium sind finanzielle Mittel (verbunden mit Experten und Expertise), die nach dem Muster der traditionellen Entwicklungshilfe vergeben werden, einem Muster, das sich in den Entwicklungs- und ehemals sozialistischen Transformationsländern nur selten bewährt hat. Im Unterschied zu anderen Empfängerländern ist der internationalen Gemeinschaft in Bosnien aber sowohl die exit-Strategie als auch eine Politik des „Weiter so!“ verwehrt. Daher rührt die ungesteuerte Eigendynamik des Protektorats, die sich als Ergebnis eines Lernprozesses aus der Konfrontation der internationalen Gemeinschaft mit den lokalen Eliten ergibt.

Die Tatsache, dass sich die internationale Gemeinschaft im Falle Bosniens einen solchen Lernprozess leistet und – wie immer halbherzige – Konsequenzen aus ihm zieht, ist darauf zurückzuführen, dass sich in Südosteuropa zwei internationale Trends überschneiden. Auf der einen Seite steht die Intervention in Bosnien in der Kontinuität internationaler Konfliktbeilegung und -prävention nach dem Muster der UN; entsprechend vielgestaltig präsentiert sich auch die internationale Gemeinschaft selbst: als ein Konglomerat aller großen westlichen Demokratien, deren staatlichen und para-staatlichen Durchführungsorganisationen, internationalen politischen Organisationen wie UNO, OSZE u.a., internationalen Wirtschaftsorganisationen wie Weltbank und IWF und privaten NGOs. Auf der anderen Seite liegt Bosnien aber auch zumindest perspektivisch im Expansionsraum der Europäischen Union. Bosnien ist, ob man will oder nicht, virtuelles Mitglied der EU, und die Expansion der EU folgt, auch wenn sich deren Instrumentarium auf den ersten Blick kaum von dem anderer Mitglieder der internationalen Gemeinschaft unterscheidet, einer anderen Logik als die traditionelle Konfliktbeilegung. Weil Bosnien virtuelles Mitglied der EU ist, ist die Intervention zum Erfolg verurteilt, wie teuer dieser auch sein mag. Bosnien ist daher ein Pilotprojekt der Weltinnenpolitik nicht nach dem UN-, sondern nach dem EU-Muster. Der langwierige und quälende Prozess der suprastaatlichen Regulierung von immer mehr Politikbereichen, den die EU-Mitglieder freiwillig auf sich nehmen, findet in Bosnien seine unfreiwillige Entsprechung. Daher besteht paradoxerweise auch die Chance, dass – langwierig und quälend – letztlich auch die Bastionen der bosnischen Konfliktökonomie aufgerieben werden.


* Eine wesentlich längere Fassung dieses Artikels ist unter dem Titel “Bosnien: Zur politischen Ökonomie erzwungenen Friedens” unter der Web-Adresse www.fes.de/indexipa (dort unter Publikationen) zugänglich.

[1] Zum Vergl. etwa Thomas L. Friedman, Not happening, New York Times, 23. Januar 2001

[2] S. Roberto Belloni, Blaming the Victims, University of Denver Working Papers, 2001; s. auch Marcel Stoessel, Harzende Demokratisierung in Bosnien und Herzegowina, NZZ, 24. Februar 2001

[3] S. International Crisis Group, Bosnia: Reshaping the International Machinery, ICG Balkans Report Nr. 131, Brüssel/Sarajevo, November 2001

[4] S. European Stability Initiative, Reshaping international priorities in Bosnia and Herzegovina, Teil 1, Bosnian Power Structures, Oktober 1999; Teil 2, International Power in Bosnia, März 2000; sowie Teil 3, The End of the Nationalist Regimes and the Future of the Bosnian State,  März 2001

[5] S. International Crisis Group, Bosnia: Reshaping the International Machinery, a. a. O.; dies., Bosnia’s Precarious Economy: Still not Open for Business, IGC Balkans Report Nr. 115, Brüssel/Sarajevo, August 2001; s. auch World Bank, Lessons for Rebuilding South East Europe, The Bosnia and Herzegovina Experience, Washington 1999

[6] Michael Pugh, Protectorates and Spoils of Peace, Paper für das Symposium The Political Economy of Intra-state War, Oktober 2000

[7] David Chandler, Bosnia: Faking Democracy After Dayton, London 1999

[8] S. Paul Collier und Anke Hoeffner, On Economic Causes of Civil War, World Bank 1998; sowie dies., Paul Collier und Anke Hoeffner, Greed and Grievance in Civil War, World Bank, Oktober 2001

[9] Paul Collier, “Doing Well out of War”, in: Mats Berdal und David Malone (Hg.), Greed and Grievance. Economic Agendas in Civil Wars, Boulder 2000,  S. 100 ff

[10] S. Marc-Antoine de Montclos, „Liberia oder die Ausplünderung eines Landes“, sowie Fabrice Weissman, „Mosambik: Krieg als Mittel der Bereicherung“; und: Gérard Prunier, „Zur Ökonomie des Bürgerkrieges im Südsudan“, aller erschienen  in: Francois Jean und Jean-Chistophe Rufin (Hg.), Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg 1999. Vgl. auch die Artikel von Keen, Reno und Stroux in dieser Ausgabe von Internationale Politik und Gesellschaft.

[11] S. Jean-Christophe Rufin, „Kriegswirtschaft in internen Konflikten“, in Jean/Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege, a. a. O.,. S. 7ff

[12] Marie-Janin Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegowina, Frankfurt am Main 1996.

[13] S. Mark Duffield, Internal Conflict. Adaptation and Reaction to Globalisation , Corner House Briefing No.12, January 1999

[14] Carl-Ulrik Schierup, “Quasi-Proletarians and a Patriarchal Bureaucracy: Aspects of Yugoslavia’s Re-Peripheralisation”, in: Soviet Studies 44, Nr. 1 1992, S. 79-99

[15] Mark Duffield, “Globalisation and Transborder Trade, and War Economies”, in: Berdal/Malone, a.a.O., S. 69 ff

[16] Xavier Bougarel, „Zur Ökonomie des Bosnien-Konflikts: zwischen Raub und Produktion“, in: Jean/Rufin, a.a.O., S. 191 ff. , S. 195

[17] Ebd., S. 202

[18] Ebd., S. 203

[19] S. Pierre Kopp, „Embargo und wirtschaftliche Kriminalisierung“, in Jean/Rufin, a.a.O., S. 347 ff

[20] Calic, a.a.O. S. 144

[21] Ebd., S. 145

[22] Kopp, a.a.O. S. 372

[23] Bougarel, a.a.O. S. 217

[24] European Stability Initiative, Reshaping International Priorities in Bosnia and Herzegovina; Part Two, Inter­national Power in Bosnia, 30. März 2000, S. 44 ff

[25] Ebd.

[26] Vergl. Hierzu auch Michael Dauderstädt, Aufbauhilfe für ex-Jugoslawien und politische Konditionalität. Ein Diskussionsvorschlag für neue Hilfsformen, Kurzgutachten im Auftrag der internationalen Konferenz zur Entwicklung in Jugoslawien, Wien, 13. Oktober 1995

[27] Jean-Christophe Rufin, „Kriegswirtschaft in internen Konflikten“, a.a.O., S. 22

[28] S. z.B. International Crisis Group, Bosnia’s Precarious Economy, a. a. O.

[29] S. etwa European Commission, External Relations Directorate General, Bosnia and Herzegovina. Country Strategy Paper 2002-2006, Brüssel 2001

[30] William Reno, “Shadow States and the Political Economy of Civil Wars”, in: Berdal/Malone, a. a. O., S. 43 ff

[31] “Trade, not production, is the main economic activity in Bosnia”. International Crisis Group, a. a. O., S. 4

[32] Chandler, a. a. O.

[33] Zur folgenden Einteilung s. auch Pugh, a. a. O. S. 8 ff.

[34] S. hierzu Werner Kamppeter, Nachkriegszeit in Kosovo:  Wüste oder Wirtschaftswunder? Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Juni 1999

Michael Ehrke *1950;

Politikwissenschaftler; Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn;
ehrkem@fes.de

 

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